Die knallrote Schürze
Sechsundvierzig Jahre dachte ich zurück, an das Jahr 1946, als mir kürzlich beim Aufräumen die Schürze mal wieder in die Hände fiel. Ich sah mich im Geiste mit dieser Halbschürze über einem blauweiß karierten Kleid, aus einem Bettbezug gefertigt, vor einer winzigen Holzhütte mit schrägem Dachpappendach stehen. Behelfsheim nannte man das damals.
Nein, ich brachte es immer noch nicht fertig, das kostbare Erinnerungsstück in den Mülleimer zu werfen oder dem Reißwolf zu überlassen. Wie viele Stunden hatte ich mich damals allein mit dem Hohlsaum abgemüht!
Es gab ja keine Textilien zu kaufen damals, jedenfalls nicht, wenn man nicht außer Geld etwas anderes dafür einzutauschen hatte. Wenn man aber im Krieg Haus oder Wohnung verlor, hatte man im Allgemeinen auch nicht mehr viel anzuziehen und auch nichts Geeignetes zum Tauschen.
Meine Eltern, die noch wenige Tage vor Kriegsende ausgebombt
waren und sich zu mir in mein Behelfsheim geflüchtet hatten, bekamen zwar vom Amt einige Textilbezugsscheine, aber Herrenhemden und Anzüge gab es sowieso nicht mehr. Für Mutti hatte ich in der benachbarten Kleinstadt drei Meter blaues Leinen ergattern können, woraus man bis dahin Schlosseranzüge gefertigt hatte. Über die Verarbeitung dieses steifen Leinens dachte ich bereits schon einige Tage nach, als uns der rote Stoff in die Hände fiel.
Er fiel natürlich nicht, sondern wurde getragen, von meinem Vater nämlich, dem das Arbeitsamt seiner Heimatstadt eine Stelle als Hilfsarbeiter vermittelt hatte. Nein, als Studienrat hatte man vorläufig für ihn keine Verwendung; alle Gymnasien lagen in Trümmern, aber in der Berufsschule waren noch ein paar Klassenräume wiederherstellbar, wenn man in den Gängen und im Treppenhaus den Schutt wegräumte und einige Löcher in den Decken abdichtete.
Und so räumte Vati mit den Kollegen Schutt. Dabei hatte er den Auftrag erhalten, das Auftürmen eines großen Holzstoßes zwecks Verbrennung aus halbverbrannten Türen, Fensterrahmen, zersplitterten Klassenpulten und verkohlten Fußbodenbrettern zu überwachen. Bei den Dingen, die die Kollegen aus den zerstörten Räumen herbeigeschleppt hatten, befand sich auch ein Bündel zusammengerollter, verschmutzter roter Fahnen. Jedes öffentliche Gebäude besaß Hakenkreuzfahnen im Großformat und war verpflichtet gewesen, sie bei allen möglichen und unmöglichen Anlässen zu hissen.
Mein Vater deponierte das Bündel erst einmal unter einer angekohlten Bank und focht dann den ganzen Tag einen Gewissenskampf mit sich selber aus. Einerseits – war es nicht eine sündhafte Verschwendung sondergleichen, ein ganzes Bündel Baumwollstoff einfach zu verbrennen, wo es nichts zu kaufen gab?
Andererseits – mussten Hakenkreuzfahnen natürlich vernichtet werden. Den Besitz aller Nazi-Embleme hatte die Militärregierung streng verboten. Das Entwenden solcher Dinge war sicherlich eine strafbare Handlung, wenn man auch noch nie von dergleichen strafbaren Handlungen etwas vernommen hatte.
Einerseits wieder befand sich in unserer hölzernen Hütte Omas alte Nähmaschine, die ich klugerweise samt zwei Betten, Tisch, Schrank, Stühlen, Bettzeug und Teppichen aus Großmutters verbranntem Haus gerettet und mit einem Pferdefuhrwerk aufs Land hatte bringen lassen – gegen aufgesparte Zigaretten und Schnaps aus einer Zeit, als es noch was gab.
Kurz und gut, die Überlegungen meines Vaters, was seine Tochter alles mit einem Bündel Baumwollstoff anfangen konnte, behielten die Oberhand und am Abend des bewussten Tages brachte er zum großen Erstaunen meiner Mutter und mir einen Packen angeschleppt, notdürftig in alte zerrissene Zeitungen verschnürt.
Beim Auspacken verschlug es mir erst einmal die Sprache. Dann bekam ich einen Lachanfall, in den Mutti zögernd einstimmte. Als drittes holte ich eine abgenutzte Rasierklinge aus dem Küchenschrank – damals wurde nichts weggeworfen – und trennte die weißen runden Stoffscheiben mit den Hakenkreuzen vom roten Stoff ab. Sie waren soliderweise nicht eingedruckt, sondern alle aufgesteppt. Noch am gleichen Abend verbrannte ich sie im Küchenherd. Eine Stoffscheibe behielt ich zurück, hatte ich doch gerade festgestellt, dass eines von Omas uralten Kelimkissen die Federn verlor, weil das Inlett brüchig war. Das feste Gewebe ließ sich als Ersatz verwenden. Und so hat noch mehrere Jahre ein verbotenes Hakenkreuz tief im Untergrund eines Sofakissens bei mir überlebt.
Am nächsten Morgen begann ich mit der Fabrikation. Wie gut, dass man uns auf der Frauen-Oberschule mal Nähen beigebracht hatte. In einem kleinen Geschäft hatte ich zufällig Zackenlitze entdeckt, die nicht zu den begehrten Tauschobjekten gehörte und mir nun wie gerufen kam. Und so kreierte ich dann zwei rote Glockenröcke mit schwarzer Zackenlitze drumherum, zwei rote Haushaltsschürzen mit weißer Zackenlitze, eine rote Russenbluse mit gelber Zackenlitze und schwarzem Kreuzstich, einen roten Schlafanzug für Vati ohne Zackenlitze und die eingangs erwähnte Dirndlschürze. Außerdem konnte ich das dunkelblaue Schlosserleinen mit roter Fahnentuchpaspelierung zu einem Hauskleid für Mutti verarbeiten.
Der rote Schlafanzug war allerdings eine Fehlentscheidung. Auch nach mehrmaligem Einweichen schaffte er es bei der ersten Wäsche, ein Betttuch, Hemd und Unterhose meines Vaters dunkelrosa zu batiken. Batik war damals noch gar nicht in
und rosa Unterhosen erst recht nicht. Dafür war die Batik dann aber farbecht. Zudem war der rote Schlafanzug Vatis einziger gewesen und er musste in Zukunft wieder ohne
schlafen.
Ich aber hatte bei meiner eifrigen Näherei ein wenig vergessen, dass es für mich zurzeit weder einen Arbeitsplatz noch eine Studienmöglichkeit gab, so dass der rote Stoff dazu beitrug, die trostlose schwarze Zukunft, die uns allen auf der Seele lag und niederdrückte, ein wenig zu erhellen. Das ist auch der Grund, warum ich mich von dem letzten Relikt dieser dunklen Zeit noch nicht trennen konnte.
Soeben hat meine sechsjährige Enkelin die Schürze um sich herum gewickelt und spielt damit Zigeunerin. Welch kluges Kind! Wenn das keine Vergangenheitsbewältigung ist!? Es ist Karneval 1993.