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Großmutters schöne alte Uhr

Ich kannte sie schon zu meiner Kleinkinderzeit, vor mehr als neunzig Jahren, Omas alte Uhr, die nun nur noch als Foto bei mir vorhanden ist. Als kleines Mädchen habe ich zu ihr aufgeschaut, wenn ihr melodischer Klang die Stunden anzeigte. Sie hing bei Oma im Balkonzimmer über der Kommode, die mein Vater ironischerweise Omas Hausaltärchen nannte. Über der Kommode in einem kleinen Regalchen standen die Fotos von Omas Lieben. Das waren ihre so früh verstorbenen Eltern, ihre vier Brüder, ihre Kinder und Enkelkinder. Nach dem frühen Tod der Eltern waren die Brüder in einem Waisenhaus für Militärwaisen und Oma in einem Waisenhaus für Mädchen, das von Nonnen geleitet wurde, groß geworden.

Der Vater war Zeughaus-Büchsenmachermeister gewesen. Die Bezeichnung für Gewehre war zur damaligen Zeit Büchsen. Im Beruf war er mit der Volkskrankheit Tuberkulose angesteckt worden. Und seine Frau war kurz danach gestorben, nachdem die jüngsten Kinder, die Zwillinge, geboren waren. Oma hatte daher ein besonders herzliches Verhältnis zu ihrer Familie. Doch auf ihren Familienfotos war ihr ältester Bruder Ludwig der Mittelpunkt. Er hatte, hochbegabt, eine Ausbildung zum katholischen Priester gemacht, war Mitglied des Steyler Missionsordens (weiße Väter) und arbeitete als Missionar in China. Er hatte dort auch als Leiter einer Schule gearbeitet und ein Lexikon Deutsch- Chinesisch herausgegeben. Über den Fotos an der Wand hatte die Uhr ihren Platz.

Sicher hat Großvater, als er 1892 oder 1893 das große blonde Mädchen, das ein Waisenkind war, heiratete, auch die Uhr gekauft. Großmutter hatte bei den fleißigen Nonnen nicht nur das Kochen und den Haushalt erlernt, sondern auch Nähen und feine Handarbeiten, mit denen sie sich bis an ihr Lebensende beschäftigte. Sie wurde 92 Jahre alt. Großvater war Leiter des Meldeamtes der Stadt Münster in meiner Kinderzeit. Ein halbes Jahrhundert später, – Großvater war schon gestorben, wir hatten den Krieg und die Stadt Münster schon etliche Bombenangriffe erlitten, war Oma ins ruhige und nicht von Bombenangriffen bedrohte Sauerland emigriert, es nannte sich damals evakuiert.

Ich wohnte seit 1942 allein in Omas großer Sechs-Zimmer-Wohnung in ihrem Haus. Als das Haus dann im Jahr darauf etliche Stabbrandbomben abbekam, deren Reste ich später auf dem Dachboden fand, brannte das Dachgeschoß aus. Etliche Wochen später, als es Herbst wurde, ließ ich mir von meiner Dienststelle, der NSV, ein Behelfsheim im Landkreis Münster bei Albersloh zuweisen. Außer lebensnotwendigen Möbeln wie Betten, Tisch, Stühlen Herd und Omas hübschem alten Nussbaumbüffet aus dem Balkonzimmer nahm ich auch die Uhr dorthin mit, die weiterhin pünktlich die Stunden schlug, damit ich auch die Bimmelbahn, im Münsterland Pängel-Anton genannt, rechtzeitig erreichte, um meinen Dienst als Sozialarbeiterin zu versehen. Das Holzhäuschen mit allem Inventar überließ ich dann meinen Eltern, nachdem sie in Dülmen restlos ausgebombt waren und nichts mehr besaßen.

Als sie sich dann 1953 in Münster ein Haus erbaut hatten, nahmen sie Möbel und Uhr mit dorthin und nach ihrem Tod holte ich die Uhr zu mir in mein Haus in Norderstedt. Ich freute mich sehr, sie wiederzusehen, war sie für mich doch die Erinnerung an glückliche Kinderzeiten bei Opa und Oma in Münster, als es noch keinen Krieg gegeben hatte und an Kriegszeiten, als ich zusammen mit der Uhr am Abend in Omas geliebtem Haus die täglichen Fliegeralarme erwartete. Nun stand sie in Norderstedt auf dem Wohnzimmerschrank und jeden Abend schaute ich ein paar Mal zu ihr hoch, um die Nachrichten nicht zu verpassen, auf die mein Mann Manfred so großen Wert legte. Und jeden Sonntagmorgen zog ich sie auf, wie früher in Münster, als ich mit ihr allein war.

Meine Kinder wurden erwachsen und verließen das Haus, mein Mann verstarb und als einziges bewegliches Wesen empfing mich nun Omas vertraute Uhr im stillen Haus mit leisem Ticken und dem vertrauten Klang ihres Gongs, wenn ihre Stunden gekommen waren, bis… ja, bis ich eines Abends von einem Ausflug mit dem Heimatverein zurückkehrte. Es war Sonntagabend und beinahe schon 22 Uhr und ich war nach kurzem Gang durch das Haus gleich die Treppe hinauf ins Schlafzimmer hinaufgestiegen, weil ich müde gewesen war.

Am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, trat ich den gewohnten Gang durch den Garten an, wie immer durch die Kellertür. Ich stutzte. Sie stand einen Spalt breit offen. Sollte ich bereits so trottelich sein, die Tür vor einem Ausflug nicht abgeschlossen zu haben? Ich hatte mir angewöhnt, bei einem kurzen Gang durch den Garten immer die Haustür zuzudrücken, seitdem ich nach einem solchen Gang in der Küche einen jungen Mann vorgefunden hatte, der auf meine Frage angab, den Briefkasten gesucht zu haben, um darin ein paar Drucksachen zu deponieren. Doch dann sah ich es: Die schwere Metalltür zeigte eine Delle und das Schloss war aufgebrochen. Sofort rannte ich die Treppe hoch und in meine Wohnräume. Wo hatte ich nur meine Augen gehabt, dass ich die Spuren eines Einbruchs glatt übersehen hatte? Doch wie aufmerksam ich auch guckte, von einem Einbruch war nichts zu erblicken. Schranktüren und Schubladen waren geschlossen, das Kaffeeservice hinter der Glastür heil in der Schublade, das Silberbesteck vollzählig und Onkel Ludwigs Buddha stand da, wo er immer steht.

Merkwürdig! Ich dachte nach. Sollte ich beim Heimkommen am Abend den Einbrecher beim Aufhebeln der Kellertür gestört und ihn in die Flucht geschlagen haben? Dann hatte ich ja Glück gehabt! Ich ging noch einmal mit kritischem Blick durchs Haus. Wie spät hatten wir eigentlich? Erschrocken blieb ich stehen, und starrte auf den Schrank, Omas Uhr! Sie war verschwunden. Suchend glitt mein Blicküber den Schrank, über den nahen Bücherschrank. Sie war nicht da. Auch der alte Schlüssel zum Aufziehen, den ich immer hinter oder unter der Uhr aufhebe, fehlte. Klarer Fall. Der Einbrecher, der die Kellertür aufgebrochen hatte, hatte es auf meine alte Uhr, Omas geliebte Kaminuhr, abgesehen.

Woher wusste er nur von ihr? Woher wusste er von meinem Ausflug? Jedem, dem ich die Geschichte erzählte, fragte mich: Kennen Sie nicht jemand, dem die Uhr gut gefiel und dem Sie zutrauen, sie gestohlen oder den Auftrag dazu erteilt zu haben? Nein, muss ich antworten. So jemanden kenne ich nicht. Aber eines weiß ich, sosehr wie mir kann ihm nicht an der Uhr gelegen sein, die ich ein langes, mehr als neunzigjähriges, Leben mit ihr verbracht habe. Wo mag sie sein? Sie sollte in der Wohnung meines Sohnes sein, dem ich bereits Urgroßmutters Uhr vermacht hatte.

Aber auch er würde liebend gern den Obolus, den mir meine Hausratversicherung für den Verlust gezahlt hat, zahlen und noch etliches mehr, um unser Erbstück zurück zu erhalten und den vertrauten Klang wieder zu vernehmen. Aber Wunder gibt es ja nicht! Oder vielleicht doch? Ein ganz kleines Wunder? Es könnte doch irgendjemand Omas Uhr irgendwo gesehen haben – irgendwo?!