Neuenkirchen
Kapitel 1:
Das Dorf meiner Großeltern
Niedersachsen hat im Südwesten einen Landesteil, der nach Nordrhein-Westfalen hineinragt. An seiner Südspitze fließt die Warmenau. Sie ist der Grenzfluss zu Nordrhein-Westfalen.
Dort steht heute das Wasserschloss Königsbrück. Direkt dahinter führt die Wackelbrücke
über die Warmenau, die ihren Namen übrigens zu Recht trägt. Uns Kindern erzählte man, dass genau an dieser Stelle einst der Sachsenherzog WidukindWidukind (auch Wittekind), aus einem westfälischen Adelsgeschlecht, führte als dux Saxonum, also als Herzog
der Sachsen, in den Jahren 777 bis 785 den Widerstand gegen Karl den Großen in den Sachsenkriegen.Quelle: Wikipedia auf der Flucht vor Karl dem Großen mit seinem Pferd über die Warmenau gesprungen sein soll, wodurch er sich vorläufig der Christianisierung entziehen konnte.
Einen Kilometer nordwestlich des Schlosses Königsbrück liegt ein kleines Dorf namens Neuenkirchen. Das ist eigentlich nichts Besonderes, denn Orte mit diesem Namen gibt es in Deutschland reichlich. In Wikipedia sind 18 angegeben, und weitere 76 gibt es dort mit ähnlichen Schreibweisen. So viel zur Phantasie der Menschen, die ein Dorf mit einer neuen Kirche gründeten.
Aber dieses ist für unsere Familie das echte und wahre
NeuenkirchenNeuenkirchen liegt 9 km südöstlich vom Stadtkern von Melle entfernt, direkt an der Landesgrenze zu Nordrhein-Westfalen mit der Warmenau als Grenzfluss.Quelle: Wikipedia, auch wenn es seit 1972 nur noch ein Ortsteil der Stadt Melle ist. Hier wohnten nämlich meine Großeltern. Wir Enkel nannten sie Opapa und Omama. Meine beiden Vettern Hermann und Martin, die Söhne der älteren Schwester meiner Mutter, drei und zwei Jahre älter als ich, lebten dort nach dem Krieg, und mein jüngerer Bruder Thomas und ich waren bis 1953 dort oft zu Besuch. (Foto 1a,b)
An der höchsten Stelle des Dorfes steht die Christophorus-Kirche, deren Glocken damals noch von Hand geläutet wurden. Um sie herum führt eine Ringstraße, die heute sinnigerweise An der Kirche
heißt. Auf der Nordseite stand das kleine Pfarrhaus
. Das große Pfarrhaus
lag gegenüber dem Friedhof an der Straße nach Schloss Königsbrück. Heute heißt sie Niedermühlenstraße, aber damals hatte sie noch keinen Namen. Als Postanschrift reichte der Name des Adressaten und Neuenkirchen Kreis Melle
. Man kannte sich, und die Haustüren waren nie verschlossen.
Im Haus meiner Großeltern war Widukind noch präsent, aber unter dem Namen Wittekind. Meine Mutter und ihre Schwestern trällerten hin und wieder das Lied der NiedersachsenVon der Weser bis zur Elbe, von dem Harz bis an das Meer stehen Niedersachsens Söhne, eine feste Burg und Wehr…Quelle: Wikipedia
. Im Kehrreim heißt es:
Wir sind die Niedersachsen
Sturmfest und erdverwachsen
Heil Herzog Widukinds Stamm!
Allerdings ersetzten sie die zweite Zeile durch Krumm, schief, total verwachsen
.
Gelegentlich war im Dorf auch noch das Wort vom Sachsenschlächter
zu hören, ein Relikt aus dem Nationalsozialismus. Einerseits wurde Karl der Große von den Nazis vereinnahmt, da er im Rahmen der Rassenlehre als Germane geschätzt wurde. Andererseits aber wurde er wegen des sogenannten Blutgerichts von VerdenAls Blutgericht von Verden, auch Verdener Blutgericht oder Blutbad von Verden, bezeichnet man eine in den Quellen überlieferte Hinrichtung von 4.500 Sachsen bei Verden an der Aller auf Befehl Karls des Großen im Jahre 782 während der Sachsenkriege.Quelle: Wikipedia
, der Tötung von angeblich 4500 Sachsen, als Sachsenschlächter
beschimpft.

Mein Großvater Ernst August Crusius, ein
Das lag in der Familie:
Bei seinem Vater, meinem Urgroßvater Ernst-August Crusius, Pastor zu Hannover-Linden, hing ein Bild von Ernst August I., König von Hannover, an der Wand. Bewunderer des Welfen Ernst August I.Ernst August I., König von Hannover, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, 1. Herzog von Cumberland und Teviotdale und Earl of Armagh, KG, KP, GCB, GCH (* 5. Juni 1771 in London; – 18. November 1851 in Hannover) war seit 1837 regierender König von Hannover aus dem Geschlecht der Welfen.Quelle: Wikipedia, war 41 Jahre lang Pastor in Neuenkirchen. Er war 29 Jahre alt, als er dort 1912 die zweite Pfarrstelle übernahm und in das kleine Pfarrhaus
(Fotos 1c) zog. Als zweiter Pastor war er für die Dörfer der Samtgemeinde Neuenkirchen verantwortlich, die er mit dem Fahrrad besuchte.
1914 heiratete er meine Großmutter. Als er schließlich im Februar 1923 Pastor primarius wurde, hatten die beiden bereits vier Töchter. (Die zweite war meine Mutter, später kamen noch zwei hinzu.) Außerdem hatten sie Personal und bekamen viel Besuch. Sie waren heilfroh, als sie endlich in das große Pfarrhaus
(Fotos 1d) umziehen konnten, denn so hatten sie mehr Platz und außerdem das Pfarrland, das für die Versorgung der Familie wichtig war.
Als die zweite Pfarrstelle in den 1930er Jahren nicht besetzt war, musste Opapa auch wieder die umliegenden Dörfer betreuen. Er schaffte sich deshalb 1935 ein Auto an. Es war ein grauerFord KölnDer Ford Köln war ein PKW-Modell der Kölner Ford Motor Company Aktiengesellschaft, das von 1932 bis 1936 produziert wurde. Ford Deutschland baut seit 1931 in Köln-Niehl Personenkraftwagen, ab 1933 Vierzylindermodelle.Quelle: Wikipedia mit roten Felgen, der von der Familie
Carola
genannt wurde. Nun musste er nicht mehr bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad über die Dörfer. Im Zweiten Weltkrieg wurde Carola
ihrer Reifen beraubt und stand aufgebockt in der Diele, da musste Opapa wieder das Fahrrad nehmen. Und als es auch keine Fahrradreifen mehr gab, ging er zu Fuß.
Opapa war ein milder, in sich ruhender, stets freundlicher Mann, auch zu uns Kindern. Er war der Hausherr und das Oberhaupt der Familie und genoss allseitigen Respekt. Auch in der Gemeinde war er sehr angesehen. Er leitete den Jungfrauenverein (Foto 1g) und den Posaunenchor der Gemeinde. Er spielte Klavier, und in der Familie wurde viel gesungen. Ich vermute, dass dort mein Interesse am Chorsingen herrührt. Und wenn Not am Mann war, spielte er auch die Orgel, indem er im Gottesdienst zwischen Altar und Empore wechselte.
Sicherlich wäre er auch gern mal in die Kneipe gegangen. Schließlich hatte er aus seiner Studentenzeit genügend Zecherfahrung. Zuerst hatte er in Erlangen, später in Göttingen studiert. In Erlangen war er zusammen mit seinen fünf Brüdern, die alle bis auf einen Theologie studierten, in der nichtschlagenden christlichen Studentenverbindung Uttenruthia. Da wurde mit Sicherheit viel gebechert. Aber diese liberale genuss- und sinnenfreudige Einstellung der Crusius-Brüder (Foto 1h) sahen seine Schwiegereltern wohl nicht gern, die eher eine pietistische und prüde Einstellung hatten.
An Omama habe ich keine gute Erinnerung. Ob sie an uns Enkeln ihre Freude hatte, weiß ich nicht. Sie war auch nicht besonders musikalisch und behauptete, nicht singen zu können. Sie hörte aber gern zu.
Bei der dritten Schwangerschaft 1920 bekam sie eine Eklampsie und war seitdem leidend
. Ich erinnere mich, dass sie meistens auf der Chaiselongue lag und sich bedienen ließ. Angeblich konnte sie nicht mehr lesen. Opapa und andere lasen ihr geduldig vor. Mitte der 1950er Jahre bekam sie eine Lesebrille. Martin berichtet, dass er ihr ein Buch brachte und sie bat, die neue Brille auszuprobieren. Sie las recht fließend daraus vor und sagte, es gehe besser. Aber das führte keineswegs dazu, dass sie nun selbst las und ihre Enkel von dieser Pflicht freistellte. Die Brille lag rum. Ihre Töchter vermuteten Jahre später, dass sie aus ihrem Leiden
Gewinn zog. Denn geduldig zu leiden wurde bewundert.
Meine großen Vettern Hermann und Martin mussten immer mit ihr spazieren gehen. Später, Ende der 1950er Jahre, als sie zeitweise bei uns in Hamburg wohnte, gab sie mir für einen Spaziergang immer eine Mark, was aber nicht dazu führte, dass ich es gern getan hätte. Ich erinnere mich, dass einmal die Post kam. Ich nahm die Briefe entgegen und sie fragte, ob etwas für sie dabei sei. Ich sah die Post durch und verneinte. Aber sie nahm mir die Briefe aus der Hand und sah sie selbst durch, obwohl sie angeblich nicht lesen konnte. Das kränkte mich, weil sie mich damit indirekt der Lüge bezichtigte. Außerdem bestätigt das für mich die Leidensthese
.
