Neuenkirchen
Kapitel 3:
Pfarrland und Friedhof
Das Pfarrland war etwa 50 m breit und 150 m lang und diente dem Pastor zur Selbstversorgung mit Obst und Gemüse, um ihm einen Teil seines Lebensunterhalts zu sichern.
Der Vorgarten bestand aus Rasenflächen und Blumenbeeten, die von Kieswegen durchzogen waren. Hier fanden die Familienfeste statt und am 4. August, dem Geburtstag von Opapa, wurden traditionell Gruppenfotos der Familie gemacht (Foto 3a,b,c). Unter der großen Eiche befand sich eine von Eiben umrahmte Grotte
. Sie bestand aus einem Halbkreis künstlich aufgeschichteter Tuffsteine. Dort war es windgeschützt. Wenn das Wetter es erlaubte, wurde dort im Sommer gegessen und Kaffee getrunken.
Am 24. Juli 1945 heiratete meine Tante Annemarie, die vierte der sechs Töchter meiner Großeltern. Die Hochzeitsfeier (Foto 3d) fand natürlich im Hause und im Vorgarten der Brauteltern statt. Meine Eltern erlebten das Ende des Krieges in Landau an der IsarLesen Sie auch: Begegnungen im Nationalsozialismus
von Carl Malsch — …Die letzte in dieser Reihe von Personen, die mich beeindruckt haben, ist Emmi Strebel…. Zwei Monate zuvor war ich geboren worden, und es war gerade noch möglich, meine Geburt nach Neuenkirchen zu telegrafieren. Danach gab es keine Möglichkeit mehr, Kontakt aufzunehmen. So ahnten meine Eltern nichts von Annemaries Hochzeit.
Mein Vater bekam von den Amerikanern für sein Motorrad rotes Benzin
Die Mineralölgesellschaften färbten das Benzin ein: Der US-Konzern EXXON und seine Tochtergesellschaft Esso rot, Aral blau, BP grün und Freie farblos.
Es kann sich aber auch um Zweitacktgemisch gehandelt haben. Das zugemischte Öl gab es in den Farben Rot oder Grün. , damit er seine Gemeindefahrten machen konnte. Im Juli 1945 lernten meine Eltern jemanden kennen, der ein Auto hatte, aber kein Benzin. Man tat sich zusammen, um nach Norden zu reisen. Die Reise dauerte drei Tage. Am 24. Juli kamen sie mit mir in Neuenkirchen an. Als meine Eltern die Auffahrt
herauf kamen, waren sie ganz überrascht, als ihnen eine weiß gekleidete Frau aus dem Vorgarten entgegenkam. Es war die Braut. — Ich hoffe, dass ich damals nicht der Braut die Schau gestohlen habe.
Ein weiterer Platz mit Gartenmöbeln war auf der gegenüber liegenden Ostseite des Vorgartens. Dort lag ein großer Steinhaufen. Es war wohl dort auch eine Grotte geplant, die aber zu unserer Zeit nie vollendet wurde. Zwischen diesem Platz und der Mauer, die den Vorgarten zur Straße abgrenzte, war ein etwa zwei Meter breiter Streifen mit Sträuchern wie falschem Jasmin, Schneebeeren, die so schön knallten, wenn man sie auf das Steinpflaster schmiss. In diesem Gebüsch stand ein Baum, ein Schmetterlingsblütler mit gefiederten Blättern ähnlich einer Robinie, allerdings ohne Dornen. Die Baumart war im Hause unbekannt, aber irgendjemand hatte mal das Wort Ginkgo aufgeschnappt. So wurde der unbekannte Begriff auf den unbekannten Baum übertragen. Alle nannten ihn den Ginkgobaum
.
Eines schönen Tages kamen die Schwiegersöhne von Opapa auf die Idee aufzuräumen. Sie harkten aus dem Gebüsch das alte Geäst und das Laub zu einem großen Haufen. Dann gingen sie zu Opapa und fragten ihn, wohin mit dem ganzen Zeug. Der sagte darauf: Ach, schmeiß doch alles ins Gebüsch!
Von der Waschküche aus kam man durch eine KlöntürSiehe Lexikon der alten Wörter und Begriffe (Foto 3e, f) in den Hintergarten auf eine Wiese. Etwa drei Meter von der Tür entfernt stand der Brunnen. Oberirdisch bestand er aus einem Betonring. Er war etwa einen Meter hoch und mit einer schweren runden Betonplatte abgedeckt, auf der man etwas abstellen oder auch sitzen konnte. Ich habe ihn nie offen gesehen, aber er soll ungefähr zehn Meter tief gewesen sein.
Hinter der Wiese war das Pfarrland zweigeteilt. Links befand sich eine Streuobstwiese mit Apfelbäumen und Schattenmorellen. Gleich vorne an stand ein riesiger Birnbaum der Sorte Beurre grisDie Gute Graue ist eine Sorte der Birne (Pyrus communis), eine breit anbaufähige, robuste Tafelbirne.Siehe auch: Wikipedia.de
. Er trug kleine leckere Früchte mit einer harten und rauen, hellbraunen Schale. Rechts daneben erstreckte sich ein langer Acker, auf dem jedes Jahr etwas anderes angebaut wurde: Roggen, lila blühender Mohn, Kartoffeln. Der Roggen stand so hoch, dass eine stehende Person damaliger Normgröße im Ährenfeld verschwand. Und die Kartoffeln waren ein ganz wesentlicher Bestandteil der Ernährung. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir Kinder die gelb-braun gestreiften Kartoffelkäfer sammeln mussten. Die gab es so reichlich wie damals die Maikäfer, dass man sich damit stundenlang befassen konnte. Opapa gab nach dem Krieg die Parole aus: Für jeden Menschen, der im Haus wohnt, muss ein Zentner Kartoffeln im Hause sein. Aus heutiger Sicht ist das eine recht geringe Menge. Wenn die Ernte aus eigenem Anbau nicht reichte, musste von den umliegenden Bauern zugekauft werden.
Hinter dem Acker lag die Gärtnerei Mensendieck. Auf dem Gelände stand ein Brunnen, um die Pflanzen zu bewässern. Er sah zwar aus wie der Brunnen meiner Großeltern, war aber kein echter Brunnen, sondern ein Wasserreservoir, das oben offen und bis zum Rand mit Wasser gefüllt war.
Neuenkirchen war ein Paradies für uns Kinder. Wir konnten überall unbeaufsichtigt spielen, in der Diele, auf der HiehleHiehle nannten wir den Boden über den Ställen, auf denen das Viehfutter (meist Heu) gelagert wurde. Siehe auch: Wikipedia.de oder im Garten, nur auf den Acker treten war verboten. Echte Gefahren lauerten in dieser ländlichen Idylle nicht. Der Autoverkehr spielte damals noch keine Rolle, zumindest nicht in Neuenkirchen. Eines Tages spielten wir bei Mensendieck auf dem Grundstück. Meinen kleinen Bruder Thomas — er muss wohl etwa fünf Jahre alt gewesen sein — hatte wohl der Forscherdrang gepackt, jedenfalls war er plötzlich weg. Zum Glück war mein Vater in der Nähe. Er hatte den Vorgang beobachtet und fischte Thomas wieder aus Mensendiecks Wasserreservoir.
Ein anderes Mal, wir waren wohl wieder mit dem Auto auf dem Weg nach Hamburg, sahen wir einen Storch auf der Wiese. Mein Vater hielt an, damit wir den Storch beobachten konnten, und wir öffneten die Beifahrertür, um bessere Sicht zu haben. Plötzlich lief Thomas auf den Storch zu und — war verschwunden. Die vermeintliche Wiese war ein Graben mit Entengrütze.
Der große Brand von 1883 wäre sicherlich längst in Vergessenheit geraten, wenn es nicht auf dem Friedhof einen Grabstein gegeben hätte. Seine Inschrift lautete: Dieser Stein fiel am Tage nach dem großen Brande aus dem KronumentSiehe: Unser kleines Lexikon der alten Wörter und Begriffe des Turmfensters und traf mein Haupt, daß ich augenblicklich meinen Geist aufgab.
Es war nicht nur die wörtliche Rede, die zum Schmunzeln anregte, denn wie kann eine Tote von einem Ereignis berichten, das zu ihrem Tod geführt hatte? Vor allem hat sich dieser Spruch deshalb in unsere Köpfe gebrannt, weil die Generation meiner Mutter sich daraus einen Sport machte, der sich auf meine Generation übertrug. Der Sport bestand darin, den Spruch am schnellsten aufsagen zu können.
Noch eine Geschichte wurde uns kolportiert: Bevor Hans Meyer-Rahde starb, bat er darum, dass, wenn sie ihn mit dem Sarg auf den Friedhof tragen würden, den 50 m entfernteren Friedhofseingang zu nehmen, dann hätte er mehr davon. Dieser Wunsch wurde ihm nicht erfüllt, sie haben ihn nur den kurzen Weg durch den näheren Haupteingang getragen. Es hat uns alle empört, dass sein letzter Wille nicht respektiert wurde.
In der Mitte des Friedhofs steht noch heute eine riesengroße Linde. Darunter steht das KriegerdenkmalSiehe: Neuenkirchen (Friedhof), Stadt Melle, Landkreis Osnabrück, Niedersachsen der beiden Weltkriege, ein Klotz aus Sandstein, übermannshoch, mit drei Bronzetafeln. Bemerkenswert ist der Spruch auf der mittleren, der von Opapa stammt: In zwei Kriegen uns entrissen ruhen sie in Gottes Hand und mahnen uns und unser Land zum Frieden
. Da wurden nicht die Helden verehrt, sondern die Verpflichtung zum Frieden betont, und das war wirklich außergewöhnlich.
Natürlich haben meine Großeltern auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte. Ihr Grab (Foto 3g, h) liegt an der Südmauer. Auf dieser Mauer saßen wir vier Jungs, es muss so um 1952 gewesen sein. Es war Sommer. Man konnte im Süden die ferne Bergkette des Teutoburger Waldes sehen. Hermann und Martin hatten Fernrohre dabei. Sie sahen hindurch und behaupteten, die Wildschweine im Teutoburger Wald sehen zu können. — Leider sah ich überhaupt nichts durch das Fernrohr. Ich war noch zu klein, um damit umgehen zu können. Aber ich schwankte zwischen Neid und Misstrauen.