Meine erste Reise nach Schwerin nach 49 Jahren
Himmelfahrt 1994.
Anruf aus Berlin! Mein Freund aus Schweriner Kindertagen, Ulrich Dörfert, lädt mich zu einer Autotour nach Schwerin ein.
Ich sage zu.
Pfingsten 1994.
Küstrin liegt hinter uns. Wolkenverhangener Himmel. Schwermütig wie unsere Stimmung wirkt die Landschaft. Im Gegensatz zu mir erlebte Uli den Treck aus Schwerin.
Gedankenaustausch – Wir schweigen.
Worte von Immanuel Kant fallen mir ein.
Im Kriege ist es erlaubt, dem überwältigten Feind Lieferungen und Kontributionen aufzuerlegen. Aber nicht, das Volk zu plündern oder den Personen das ihrige abzuzwingen. Das wäre Raub, weil nicht das überwundene Volk, sondern der Staat, unter dessen Herrschaft es war, durch dasselbe Krieg führte.
Zitat Ende.
Stadtschild Skwierzyna. — 200 Jahre lebte die Familie hier. Ich war zehn Jahre, als der Exodus für die Schweriner Bevölkerung begann.
Ist es nicht sentimental zu glauben, man hat hier noch Erinnerungen? Ich bin eigentlich informativ und aus Neugierde nach Schwerin mitgefahren.
Bahnübergang Landsbergerstraße. Was geht in mir vor? Freudiges Erwarten. Hier wohnte meine Großmutter, dort war die Dienststelle meines Vaters. Das Caritashaus! Letzte Station vor der Flucht. Eine Nacht der Ungewissheit — dann mit der Bahn unter Beschuss Schwerin verlassen. Schweriner fanden zueinander.
Die Knabenschule. Die letzte Unterrichtswoche Januar 1945. Strohlager in den Klassenzimmern aufgebaut, an Flüchtlinge, die mit Trecks kamen, warme Milch verteilt.
Dort stand der evangelische Kindergarten. Mit strenger Liebe und gütigen Augen, denen nichts entging, waltete hier Tante Käthe. Oft hat sie mir über mein Haar gestrichen.
Heute wacht hier König Wladislaw Jagiello
über Schwerin. Die Jagellionen brachten Polen das goldene Zeitalter. Mit dem Magdeburger Recht kamen weitere deutsche Siedler ins Land,
und die wirtschaftliche und kulturelle Kooperation zwischen Polen und Deutschen in schweren wie in guten Tagen dauerte bis in unser Jahrhundert.
Die Posener Straße. Ist das noch Schwerin? Wo das alte Fischerviertel stand, Plattenarchitektur à la Barack, wie überall in Europa. Hätte man den Wiederaufbau nicht etwas kreativer gestalten können. Auch Skwierzyna hat Anrecht auf städtebauliche Identität. Hier sollte aber mit sehr viel Liebe saniert werden.
Der Markt. Mein Herz als Denkmalspfleger schlägt höher. Das alte Rathaus! Es strahlt immer noch seinen alten Charme der Nach-Schinkel-Architektur aus. Dort das Haneltsche Haus. Hier war mein Elternhaus. Ich renne über den Markt, nur das Treppenhaus sehen! Die Tür öffnet sich nicht, die Klinke hängt.
Ich setze mich auf die Bank auf Leutkes Grundstück und träume…
Wer am Markt wohnte, war besser informiert als die Schweriner Zeitung. Oft stand ich oben am Fenster. Hier sah ich die erste Fronleichnamsprozession. Von hier starteten graue Panzerspähwagen in den Zweiten Weltkrieg. Hier standen die bunten Marktbuden. Von hier fuhren die Busse nach Landsberg ins Theater. Eines Tages aber stand ein völlig weiß angestrichener Bus auf dem Markt. Er brachte unseren letzten jüdischen Mitbürger in die grausame Ungewissheit.
Hier fuhren die Autos und Kutschen. Hier gingen die Schweriner spazieren, kehrten bei Frau Jaekel ein.
In den 60er Jahren lernte ich an einem Theaterabend Hubert von Meyerinck kennen. Wir ließen Theater Theater sein und versuchten, uns während der letzten Akte in dem Restaurant an Schwerin zu erinnern. — Wir schwärmten vom Treiben auf dem Markt. Er bedeutete für uns die große Welt. Für Meyerinck die Negerküsse von Leutke, für mich die frische Grützwurst mit Butterstulle von Mutter Jaekeln.
Ja die lieben Leutkes. Fliegeralarm! Wir saßen im Keller bei Leutkes. Drei Detonationen! Angst machte sich breit. Entwarnung. Der Markt lag friedlich im Mondenschein. — Was war geschehen? Im Nebenkeller waren frisch eingemachte Weckgläser geplatzt. Im Januar 45 war der Markt Sammelpunkt vieler Trecks aus Ostpreußen.
Die Poststraße. Geliebter Läster-Boulevard im alten Schwerin. Grau und trist ist dein Ambiente. Verschwunden sind die mit Liebe dekorierten Schaufenster, an welchen ich mir oft die Nase platt gedrückt habe. Erinnerungen werden wach. Für Uli bin ich etwas zu laut. Neugierde hinter den Fenstern, die Gardinen bewegen sich. Jemand sagt guten Morgen.
Liebes kleines Skwierzyna, es ist just wie im alten Schwerin. Wer kam dort schon an dem Hutsalon von Fräulein Meyer vorbei. Die Gardine bewegte sich auch hier hinter den Hüten. Jeder wusste es, jetzt war man registriert.
Die evangelische Kirche. Wir gehen in die frühere evangelische Kirche durch die Toreinfahrt wie zu einer alten Ritterburg. Sonntäglich gekleidete Menschen, es ist Messe. Das Altarbild wie in Kindertagen. Der Gekreuzigte.
Ich erinnere mich an die Worte einer Polin auf einer Vernissage vor einem ähnlichen Bild. In der Mitte des Kreuzes befindet sich der leidende Christus, zu beiden Seiten stehen Polen und Deutsche. Er, Christus, verbindet uns durch sein Leid in der Liebe.
Die Reuterstraße. Im früheren Haus Schlesinger, wo meine Eltern wohnten, habe ich unter der Regie von Frau Schlesinger durch Edith Prasse das Laufen gelernt.
Frühstück im Hause Kirmiel. Unter jemandem, der sich für polnisch-deutsche Zusammenarbeit einsetzt, habe ich mir einen alten seriösen Herrn vorgestellt, aber es öffnet uns ein junger dynamischer Mann mit einer ebenso charmanten Frau. Zwei kleine nette junge Mädchen begrüßen mich mit guten Tag, ich antworte Dzien' dobry. Ich wünsche den kleinen Mädchen, die kleine Skwierzynerinnen sind, dass diese eine genau so schöne Kinderzeit in Skwierzyna verleben, wie ich diese einst in Schwerin verlebt habe.
Wir beschließen, nach Seewitz zu fahren, vorher aber das Strandschloss zu besuchen.
Das Strandschlösschen. Auf der Tanzfläche bewegt sich die Wäsche nach dem Rhythmus des Windes. Hier bewegten sich einst unsere Eltern und Großeltern nach den Rhythmen der Musik auf ihren Sommerbällen und beim Fünf-Uhr-Tee.
Der verwunschene Park lässt das Herz eines jeden Ökologen höher schlagen. Früher, als er gepflegt war, schlugen hier die Herzen unserer Eltern höher beim ersten Stelldichein. Auch der Springbrunnen ist noch vorhanden, an welchem wir Jungen versuchten, die kleinen Mädchen durch den Wasserstrahl zu ärgern. Heute führt von der Düse ein Schlauch als Wasserleitung in die Küche. Schwerin hatte schon immer geniale Erfinder. Das Haus strahlt mit seinem sparsamen Art-Deko-Schmuck die Vornehmheit einer verarmten Lady aus, jetzt soll alles meistbietend verkauft werden.
Ich schaue auf die neue Skyline der Stadt und frage, weshalb in den Neubauten die Balkone nicht zur Warthe gebaut wurden. Ich träumte immer davon. Simple Antwort: Weil die Warthe zeitweilig stinkt.
Auf nach Schweinert und Seewitz.
Schweinert bietet sich uns im Festtagsschmuck. Erstkommunion. Kleine Bräute in langen weißen Kleidern gehen stolz an dem Arm ihrer noch stolzeren Väter. Für mich als Norddeutscher ein ungewohntes Bild.
Kilometerlanger Waldweg. Es regnet. Wald und Heide wechseln sich ab. Die wenigen Sonnenstrahlen auf dem nassen Wald lassen die Gegend melancholisch schön erscheinen, ein Licht, welches man nur in märkischen Wäldern findet und das zum Märchenerzählen anregt.
Da, was ist das? Einsam im Wald ein Haus, ein Gehöft. Wir halten. Noch in seinem verfallenen Zustand weist das Seewitzer Jagdhaus die Schönheit eines Jugendstilbaus aus. Wir gehen durch die getäfelte Diele zur Terrasse, der Blick geht in die nebelverhangene Weite des Waldes.
Verfallene Architektur und die Anlage des Waldes lassen die kulturellen und ökonomischen Strukturen derer, die hier einst lebten, nur erahnen. Man wird zum Archäologen. Nun ja, der preußische Adel und die Jägerschaft haben es seit Jahrhunderten verstanden, Kultur und Stil sparsam auf die grüne Wiese zu bringen.
Über Morn geht's nach Schwerin zurück. Ich genieße die Gastfreundschaft einer polnischen Familie. Dobry, dobry sagt die Hausfrau in der Tür, ich verstecke mich hinter dem Rücken meines Freundes, es ist alles so ungewohnt neu. Ein mit Liebe eingerichtetes Zimmer, ein gedeckter Tisch mit leckeren Sachen empfängt uns. Ich genieße nach diesen ereignisreichen Stunden die polnische Gastfreundschaft. Beim Abschied sagt die Dame des Hauses, ich möge noch oft nach Skwierzyna kommen. Ich schaue versonnen zu den Treppchenbergen, die ersten neuen Erinnerungen sind geboren, und diese sind sehr angenehm.
Andrzej zeigt mir die Deutsche Bücherstube in der früheren Oberschule. Wir sprechen über die Geschichte unserer Länder, ich bewundere seinen Einsatz für diese gemeinsame Sache und bewundere die mit viel Liebe zusammengetragenen Einzelteile des täglichen Lebens, vom Spinnrad bis zum Eisen. Ich möchte noch einmal die Aula sehen, aber diese ist verschlossen. Dafür aber ist sein Klassenzimmer offen. Wir sprechen noch einmal über die Jagiellonen und August den Starken.
Das gemeinsame Abendbrot im Haus Kirmiel ist schon wie in einer großen Familie, nur noch die Sprache erinnert einen an die verschiedenen Staatsangehörigkeiten. Die Mentalität ist fast gleich, oder ist es auch die neue Umgebung ohne Erinnerung oder die Herzlichkeit der Gastgeber?
Es war ein schöner Tag. Nach dem Tee verabschieden wir uns, Andrzej bringt uns zum Wagen, er bleibt in der Tür stehen, wie ich es auch zu tun pflege. Nun ja, wir sind eben doch Schweriner.
Nebelschwaden auf der Straße. Uli und ich gehen unseren Gedanken nach. Auf der Brücke in Küstrin fallen mir die Worte Friedrich des Zweiten ein, die er einmal im März 1760 an
Algarotti schrieb: Wir armen Toren, die wir nur einen Augenblick zu leben haben! Wir machen uns diesen Augenblick so hart als wir nur vermögen. Wir gefallen uns darin, die schönsten Werke, die Fleiß und Zeit hervorgebracht haben, zu zertrümmern und nichts als ein hassenswertes Andenken an unsere Zerstörungen und an das Elend, das sie verursacht haben, zu hinterlassen.
Ich möchte mich durch diese Zeilen bei Uli und Andrzej bedanken.