Zeit der Angst
Ich war acht Jahre alt, als der Schrecken meiner Kindheit begann, Juli 1943 in Hamburg. Seit diesen Terrornächten hat mich die Angst, die zur Panik werden konnte, Tag und Nacht begleitet und mich bis Kriegsende im Mai 1945 nie mehr verlassen. Ich, die in ihrem ganzen Leben kein technisches Gespür entwickeln konnte, kannte mich damals mit den Geräuschen am Nachthimmel ganz genau aus. Ob deutsche oder feindliche Flugzeuge über uns hinwegbrummten, konnte ich sehr gut unterscheiden.
In den ersten Kriegsjahren gab es selten Alarm und wir blieben im Bett, wie so viele andere Menschen auch. Meine Mutter blieb auch liegen, wenn es draußen laut wurde, was mich wiederum sehr nervös machte. Für mich war ihr Verhalten sehr leichtsinnig. Heute denke ich, ihr Bedarf an Schlaf war größer als die Angst.
Tagsüber war sie in der Rüstung
tätig und musste sehr früh aufstehen. Wenn ich heute voller Wehmut an sie denke, sehe ich eine couragierte und tapfere Frau vor mir, die wie tausende anderer Frauen und Mütter ihren Mann
stehen musste. Mit der Zeit nun wurden wir immer öfter um unsere Nachtruhe gebracht und vereinzelt fielen schon mal einige Bomben auf die Stadt. Wir hatten uns jetzt angewöhnt, bei Alarm grundsätzlich aufzustehen und uns auf dem Flur, wo es keine Fenster gab, aufzuhalten. Ich fand es toll und gemütlich auf dem sieben Meter langen Flur, auf dem man am Tage so wunderbar spielen konnte. An dieser Stelle muss ich hinzufügen, dass ich in dieser großen und wie ich fand, tollen Wohnung, zusammen mit meiner Mutter und meinen Großeltern lebte. Ich fühlte mich sicher und geborgen, wenn wir nachts bei Alarm alle vier auf eben diesem Flur hockten.
Auch erinnere ich mich an einige Koffer, die voll gepackt mit Wäsche und sonstigen wichtigen Dingen gleich neben der Haustür standen. Für den Fall der Fälle! Aber als der Fall der Fälle eintraf, zwei Jahre später, hat es uns gar nichts genützt.
Dann kam die Nacht, in der es zum ersten Mal so richtig krachte! Wir standen alle vier mit einer Wolldecke über den Köpfen eng beisammen. Es war die Hölle! Die Bomben fiepten und schlugen in unmittelbarer Nähe ein. Das ganze Haus bebte! Man hörte nur Bersten und Krachen! In unserer Angst glaubten wir, die Treppe wegsacken zu hören, was sich aber dann bald als falsch erwies. Am stärksten in meiner Erinnerung aber war das Ringen nach Luft. Aus den Räumen kamen meterhohe Staubwolken durch die aufgeflogenen Türen. Der ganze Flur war in dicken Staub gehüllt. Nirgendwo gab es Wasser! Ich habe mein Stofftaschentuch in dem Rest Wasser, das sich in der Kloschüssel befand, nass gemacht. Es gab auch keine Wasserreserven. Da wir lange von den Bomben verschont geblieben waren, hat man das mit dem Luftschutz nicht so ganz ernst genommen und keine Wasservorräte bereitgestellt. Es gab auch keinen Strom, aber es war taghell von den Feuern in den Nebenhäusern.
Jetzt hatte uns die Angst gepackt und als es für kurze Zeit am Himmel ruhig wurde, wollten wir in unseren Hauskeller, dessen Eingang sich im Nachbarhaus befand. Wir kamen aber nicht aus dem Treppenhaus. Eine gewaltige Druckwelle hielt uns zurück. Zu unserem Glück, denn auf der Straße spritzte der Phosphor. Dann stand auf einmal unser Nachbar, Schlachter Schäfer vor uns. Für mich der rettende Engel in der Not! Er brachte uns in seinen Keller, der sich unter seinem Laden befand und zur Schlachterei gehörte. Schlachter Schäfer! Der nach Aussagen meiner Oma ihr immer nur minderwertiges Fleisch andrehen
wollte! Dieser schlechte Mensch
machte zu meinem großen Erstaunen ein Riesenfass mit Gewürzgurken auf, in das wir alle unsere Tücher eintauchten und uns vor das Gesicht hielten. Es hat uns allen gut getan und ich schämte mich, dass meine Oma in der Vergangenheit so schlecht von diesem Mann gesprochen hatte. Trotz der chaotischen Zustände um uns herum, ist mir diese Begegnung in ganz klarer Erinnerung geblieben.
Nach Stunden, als es endlich ruhig wurde, sind wir wieder nach oben gegangen. Alle Fensterscheiben waren zerstört. Durch den Staub, der alles bedeckte, sah es schlimmer aus, als es war. Wir hatten Glück gehabt. Wir hatten unsere Wohnung behalten und waren sehr froh darüber. Alle jüngeren Leute aus der Nachbarschaft mussten beim Löschen helfen, um zu verhindern, dass das Feuer vom Nebenhaus auf unseres übersprang. Nach dieser ersten großen Bombardierung war nichts mehr so, wie es vorher war. Es folgten noch weitere Angriffe, die sich hauptsächlich auf andere Stadtteile konzentrierten. Ein Stadtteil nach dem anderen wurde ausgelöscht.
Wir hatten uns jetzt einen Keller gesucht, in dem wir die kommenden Alarmnächte verbrachten. Er war drei Etagen tief und lag unter einer Brauerei. In diesen Keller flüchteten viele Menschen, was für mich sehr beruhigend war, denn dann musste er ja sicher sein! Wir hatten da unseren Stammplatz. Wenn es mit dem Krach draußen losging, hing mein Blick wie gebannt an einer eisernen Tür, die sich ganz oben unterhalb der Raumdecke befand. Ein Notausstieg. Für mich ein weiterer Grund zur Angst, denn wenn die Bomben fielen, bebte diese Tür in den Angeln und machte zusätzlichen Lärm und durch die Ritzen drang Staub. Irgendwann hatten wir Dank meiner Mutter einen anderen Platz. Aber der war weiter vom Ausgang entfernt, was mir neue Sorgen bereitete. Die Zeit, die dann kam, war in jeder Hinsicht auf Alarm ausgerichtet. Es wurde auch am Tage bombardiert. Man hielt sich immer in der Nähe der Wohnung auf, um zusammen in den Keller zu hetzen. Wir wohnten in Hafennähe, wo es bekanntlich viele lohnende Objekte
für die Bomber gab und somit waren Tage und Nächte immer wieder katastrophal.
Seit Juli 1943 hat es in Hamburg keinen Schulunterricht mehr gegeben. Aber ich hätte die Schule gern gegen dieses ganze Chaos eingetauscht. Ich zog mich abends beim Zubettgehen nie mehr ganz aus. Das olle doofe
Leibchen und die langen Strümpfe, die ich sowieso hasste, verzögerten das Anziehen noch obendrein, wo es doch schnell gehen musste. In kürzester Zeit hatte ich eine Routine entwickelt, die wohl nur von großer Angst gesteuert sein konnte. Zwischen Aufstehen und aus dem Hause hetzen musste ich jedes Mal auf die Toilette. Das Heulen der Sirenen, die uns ja direkt aus dem Schlaf holten, schlug mir auf den Darm.
Meine Kleidung hatte ich mir nach einem bestimmten System geordnet, so dass ich auch im Dunkeln nur hinein zu steigen brauchte. Wenn der Rest der Familie endlich
aus den Schlafzimmern kam, war ich schon an der Haustür und jagte in Richtung Luftschutzkeller. Meine Mutter ließ mich laufen, es hätte mich auch niemand aufhalten können. Noch heute, nach über sechzig Jahren, ertrage ich das Heulen irgendeiner Sirene nur schwer und die Verbindung Angst-Schreck-Toilette, gibt es immer noch. Stets hatte ich einen kleinen Koffer in der Hand, eine Wolldecke über der Schulter und meine Lieblingspuppe im Arm.
Da viele Sirenen zerstört waren und der Strom oft ausfiel, wurde man im Alarmfall entweder von ein paar, nach einem bestimmten System abgegebenen Flakschüssen geweckt, oder war auf Nachbarn angewiesen. Dadurch kam man spät aus dem Haus und die Tannenbäume
, die das Ziel der Bomben markierten, standen schon am Himmel. Das Brummen der Bomber, das Schießen der Flak, dazwischen die langen Scheinwerferkegel - ich rannte um mein Leben! Neben mir auf der Straße Mütter mit schreienden Kindern und Frauen, die hochbeladene Kinderwagen vor sich her schoben.
Zwischen Alarm und Entwarnung gab es manchmal Vorentwarnung. In dieser Zeit durfte man den Schutzraum verlassen. Ich huschte dann manchmal hinaus, um mich draußen gegenüber dem Keller zu setzen und in den Nachthimmel zu sehen. Es erstaunte mich immer wieder, dass dort alles so friedlich war, wo doch andererseits soviel Elend von da oben auf uns Menschen herab kam. Der Sternenhimmel hatte für mich etwas Beruhigendes und ich konnte lange so dasitzen, aber immer den Lichtschein des Kellereinganges im Auge. Im Laufe der nächsten zwei Jahre hielten wir uns in verschiedenen Bunkern und Kellern auf. Immer gab es Menschen, die die Sicherheit dieser Schutzräume in Frage stellten, was mir Angst machte und ich quälte meine Mutter so lange, bis wir den Bunker wechselten.
Mein Großvater, der zu dieser Zeit schon invalide war und am Stock ging, machte dieses Hin und Her nicht mit. Er blieb in dem tiefen Keller unter der Brauerei, was mich wiederum nicht glücklich machte. Ich hing sehr an meinem Großvater. Da meine Mutter den ganzen Tag arbeiten musste, wurde ich von Oma und Opa beaufsichtigt. Hauptsächlich aber von Opa. Ich liebte Opili
sehr. Wir saßen oft zusammen am Fenster und er erklärte mir alles, wenn ich Fragen hatte, zu dem was auf der Straße passierte. So auch - es muss in den ersten Kriegsjahren gewesen sein - als sich auf dem Platz vor unserem Haus, ein großer Menschenauflauf bildete. Opa machte mich auf den gelben Stern aufmerksam, den jeder dieser Menschen an seiner Brust trug. Das seien Juden und sie hätten anderes Blut als wir.
(Ob er das wirklich glaubte oder nur so daher sagte, kann ich nach so langer Zeit nicht mehr sagen, aber dass das, was sich damals auf dem Platz vor unserem Haus ereignete, vielleicht einer der schrecklichsten Momente im Leben dieser Menschen gewesen ist, hat wahrscheinlich auch meinOpilinicht einschätzen können.)
Das mit dem Blut ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich brachte es mit dem Judenblut
, wie man das Lakritz
damals auch nannte, in Verbindung und für mich war von da an klar: alle Juden müssten schwarzes Blut haben.
Damals, als 5-jährige konnte ich diese Erklärung meines Opas noch nicht anders deuten. Erst später wurde klar, dass durch diesen Sprachgebrauch die Ausgrenzung von jüdischen Mitbürgern herbeigeführt wurde, was in Pogromen wie derReichskristallnachtund dem folgenden Holocaust seinen Höhepunkt erreichte.
Am 1. Oktober 1941 fiel mein Onkel, der jüngste Sohn meiner Großeltern in Frankreich bei Cherbourg. Er wurde nur 23 Jahre alt. Meine Oma trug daraufhin einen schwarzen Satinkittel (den gab es auf Bezugschein für trauernde Mütter und Witwen) und ich sah sie das erste Mal weinen. Mein Onkel hatte Tischler gelernt. Sein Gesellenstück, ein Holzkoffer mit wunderschöner Einlegearbeit, wurde mit seinen privaten Sachen aus Frankreich zurück geschickt. Dieser Koffer sollte meine Großmutter in den Jahren der Bombenangriffe in Keller und verschiedene Bunker begleiten. Sie hing sehr an dem letzten Stück ihres Sohnes. Obwohl der Koffer schon ohne Inhalt sehr schwer war, wurde er über all die Jahre hinüber gerettet und befindet sich heute, nach über sechzig Jahren in den Händen von Omas Urenkelin, meiner Tochter! Im besagten Koffer wurde auch ein hellgrauer Flanellanzug zurückgeschickt. Aus diesem Anzug hat sich meine tüchtige und - wie ich fand - schicke Mutter, ein Kostüm genäht. Ich weiß, dass ich sehr stolz auf sie war.
Ausgebombt!
Es durfte einfach nicht wahr sein! Wurde wirklich unsere Straße, unsere Hausnummer aufgerufen? Es waren doch nur Rückflüge gemeldet! Der Krieg sollte doch sowieso bald vorbei sein! Auch als wir es sahen, konnten wir es nicht glauben! Meine Mutter und ich hatten uns durch die brennenden Straßen gekämpft. Die Häuser in der Nachbarschaft brannten lichterloh! Von unserem Mietshaus stand nur noch ein Stück Fassade. Unmittelbar vor meinen Füßen lag mein Unterbett. So etwas hatte man früher in den Betten, es war mit Federn gefüllt, aber schwerer als die Oberbetten. Ich erkannte es am ungewöhnlichen Streifenmuster. Keiner von uns dachte daran, es mitzunehmen. Erst etwas später fiel uns ein, wie kostbar es für uns hätte sein können. Aber zu spät! Als wir zurück liefen um es zu holen, waren andere inzwischen schneller. In den späteren kalten Nächten hätte ich es gut brauchen können.
Plötzlich stand Großvater vor uns, der ja aus einem anderen Keller kam. Da hatte er nun in der letzten Zeit seine neuen Stiefel (eine Rarität und auf Bezugsschein) jedes Mal mit in den Keller genommen, immer über der Schulter auf der Wolldecke getragen. Und heute, weil nur Rückflüge angesagt waren, hatte er sie in der Wohnung gelassen. Waren Opas Stiefel der Auslöser? Ich musste jedenfalls heulen und konnte nicht mehr aufhören. Warum jetzt noch? Am 8. März 1945, wo doch alles schon entschieden war? Die Alliierten standen doch schon kurz vor ihrem Ziel, der Krieg war doch schon verloren! Warum musste es uns noch treffen? Warum hörte es nicht auf? Diese letzten Bombardierungen und auch die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945 kann ich Bomber, Sir Arthur Harris
Sir Arthur Travers Harris, Bt., genannt Bomber-Harris, (* 13. April 1892 in Cheltenham; † 5. April 1984) war im Zweiten Weltkrieg Oberkommandierender des Bomber Command und Luftmarschall der britischen Royal Air Force. auch über seinen Tod 1984 hinaus niemals verzeihen!
Bei Martin Middlebrook, einem britischen Militärhistoriker, habe ich folgende Zeilen gelesen:
Ich glaube, dass jeder, der die ganze Serie von Angriffen in Hamburg durchlebt und den Verstand behalten hat, es verdient, den Rest seines Lebens im Paradies zu verbringen.
Ich wünsche mir nicht das Paradies. Aber ich wünsche mir für alle Kinder dieser Welt, dass sie keinen Krieg durchleben müssen, denn sie trifft es immer am härtesten.