Zeit der Entbehrungen
Mai 1945.
Der Krieg war zu Ende, die Bombenangriffe vorbei und die Angst fiel langsam von mir ab. Aus mir war ein langes, dünnes, inzwischen zehnjähriges Mädchen geworden, das immer Hunger hatte, Fingernägel kaute und das Bett nass machte. Wir wohnten jetzt bei der Schwester und dem Schwager meiner Mutter, Sie hatten uns ihr größeres, aber trotzdem winziges Wohnzimmer zur Verfügung gestellt. Auf Bezugsschein bekamen wir ein Etagenbett aus Metall, das nun zwischen den guten Wohnzimmermöbeln stand. Es war sehr beengt. Man kann sich heute nicht vorstellen, mit wie wenig Platz der Mensch doch auskommen kann, wenn er muss. Ich weiß, es hat öfter Streit zwischen den Erwachsenen gegeben. In dieser Zeit habe ich meine Mutter oftmals weinen sehen, was für mich ganz schrecklich war. Sie war doch immer der Fels in der Brandung.
Im Oktober 1945 bekamen wir Wohnraum in einem ehemaligen Hauskeller, der für den Luftschutz ausgebaut war. Dicke Wände, Fenster - eigentlich nur Löcher zu ebener Erde, Schimmel und Salpeter an den Wänden und der ganze Keller sehr, sehr kalt. Auch wurden wir manchmal von Ratten besucht. Wir waren trotzdem sehr froh, etwas Eigenes zu haben. Tausende anderer Menschen wohnten schlechter, zum Beispiel in Trümmern oder Nissenhütten, die man in verschiedenen Stadtteilen aufgestellt hatte.
Als wir den Keller bezogen hatten, konnte meine Mutter den Wohnraum nur übertünchen. Es gab weder Farbe noch Pinsel. Mit einem alten Besen, den sie vom Stiel nahm, zauberte sie mit etwas blauer Wasserfarbe und durch Drehen des Besens, auf den Wänden ein Rosenmuster. Wir waren begeistert, nur anlehnen durfte man sich nicht. Über fünf Jahre haben wir in diesem Keller gelebt. Eine Zeit, die mich sehr geprägt und eng mit meiner Mutter zusammen geschweißt hat. An die Stelle der Angst trat nun ein anderes Phänomen - HUNGER! Morgens verschlang ich meine knappe Tagesration Brot, die meine Mutter mir täglich hinstellte, auf einmal. Es gab Schulspeisung. Sehr oft musste mir eine Mitschülerin mein Essen vor der Zeit in die Klasse holen, weil mir vor Hunger schlecht wurde. Seit Herbst 1945 gab es wieder Schulunterricht. In meiner Klasse waren wir 56 (!) Kinder. Am Anfang wurde in zwei Schichten, vor - und nachmittags unterrichtet, weil es einfach an Schulraum fehlte. An kalten Wintertagen saßen wir in unseren Mänteln, Mützen und Handschuhen im ungeheizten Klassenraum.
Wenn es ganz schlimm wurde, gab es nur Hausaufgaben. Aber das Allerwichtigste und was uns immer in Bewegung hielt, war die Essensbeschaffung. Ganz früh morgens beim Schlachter anstehen. Dort gab es einmal in der Woche Brühe. Und wer zuerst kam, erwischte vielleicht auch noch einige Fettaugen. Überhaupt wurde nach allem angestanden. War irgendwo eine Menschenschlange zu sehen, hat man sich angestellt, egal was es gab, man brauchte ja alles. Weil ich nie so lange stehen konnte, haben meine Oma und ich uns immer abgewechselt. Zu den Delikatessen
zählten z.B. Würstchen im Kunstdarm, undefinierbare Fischpaste, Maisbrot, Heißgetränk schön rot und eklig süß. Einmal hatten wir dieses rote Zeug mit Mehl zu einer hübschen Torte verarbeitet, die uns dann leider die Ratten angenagt haben. Und es gab Steckrüben - gekocht, gebraten und als Kartoffelersatz. Schwierig wurde es auch bei Schuhen. Meine Füße schienen enorm schnell zu wachsen. Also wurden vorne die Spitzen der Schuhe abgeschnitten. Auch im Winter, was mir herrliche Frostbeulen einbrachte. Stiefel, wie es heute selbstverständlich ist, hatte kein Mensch. Mein Großvater bekam einen Posten
, heute würde man Job
sagen, im Hafenkrankenhaus. Was er dort genau machte, wusste ich nicht. Plötzlich hatten wir Teller, Schüsseln, Tassen, Bestecke, Handtücher und Bettwäsche. Ich bekam kleine Kännchen und winzige Schälchen für meine Puppen. Überall wurde organisiert, gehamstert und geklaut. Jeder versuchte über die Runden zu kommen. Der Schwarzmarkt blühte, Tauschzentralen wurden eröffnet. Von dem, was es auf Marken gab oder auf Bezugschein, konnte kein Mensch existieren.
Wir gingen zum Hamstern.
Einmal ging es mit meiner Oma und meiner Tante nach Estebrügge. Wir hatten unsere Rucksäcke prall voller Äpfel. Auf dem Rückweg, kurz vor der Dampferanlegestelle kamen uns andere Hamsterer entgegen und sagten uns, dass am Anlegesteg alles abgenommen würde.Nun stopften wir uns mit Äpfeln aus. Ich band mir meine Trainingshose unten zu und füllte die Hosenbeine voll. Meine Oma und meine Tante, nun wirklich nicht mehr im gebärfähigen Alter, sahen aus wie zwei Hochschwangere. Wir kamen alle drei, teils durch unser Gewicht, teils vor Lachen, nicht die steilen Deichstufen runter. Der Kontrolleur hat dann aber beide Augen zugedrückt. Auf dem Dampfer haben wir unsere Äpfel wieder in die Rucksäcke verfrachtet.
Meine Mutter war unter die Kohlenklauer gegangen. Ich liebte sie sehr, ihre Stärke, ihren Humor, der uns dieses Leben leichter machte. Aber dass sie nun auch klauen
ging, konnte ich erst gar nicht verstehen. Aber wenn es dann mal ab und an für zwei, drei Stunden einen warmen Raum in unserem Keller gab, war es mit der Moral nicht mehr weit her. Auch war es für mich ganz tröstlich, dass andere auch klauten. Ja, ganze Scharen zogen in der Dunkelheit los. Ich erinnere mich, als sie einmal spät abends voll beladen mit Kohlen nach Hause kam und sich ausschütten wollte vor Lachen. Sie hatte in einem Kohlenwaggon zusammengekauert gehockt, die Taschen waren schon voll gestopft, als eine Polizeistreife kam. Sie trug zu ihrem schwarzen Mantel ein schwarzes Kopftuch, das sie, im Augenblick als der Polizist in den Waggon leuchtete, noch tiefer ins Gesicht zog. Na Oma, dann gib mir mal deine Taschen, die sind ja viel zu schwer
sagte der Polizist. Er hob die Taschen samt meiner Mutter aus dem Waggon und trug sie ihr noch ein Stück weit. Meine 35jährige Mutter ging gramgebeugt
neben ihm her. Ich war sehr stolz auf dieses Münchhausenstück. Heute allerdings habe ich so meine Zweifel, ob der Polizist sie nicht doch durchschaute und selbst eine kalte Stube hatte. Man muss dazu sagen, dass Kohlenklau ein ziemlich gefährliches Unternehmen sein konnte. Die Waggons wurden sehr streng bewacht. Zum Teil wurden Hunde auf die Diebe gehetzt.
Einmal schenkte mir ein Tommy
Tommy war bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine auch im deutschen Sprachraum weit verbreitete Bezeichnung für einen britischen Soldaten.
Laut Peter Wende, emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, entstand diese Bezeichnung bereits im frühen 19. Jahrhundert im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland. Seinen Recherchen zufolge ist seit 1815 belegt, dass die Musterbögen für die Aufnahme der Personalien von englischen Infanteristen und Kavalleristen den Namen Thomas Atkins aufwiesen, als Beispiel für das Ausfüllen der Formulare. Von diesem Mustermann
Thomas übernahm man in England später umgangssprachlich die Kurzform Tommy als generelle Bezeichnung für einen englischen Soldaten. beim Durchwandeln unseres Bahnhofes eine Tafel Cadbury Schokolade. Das brachte meine Freundin Gisela und mich auf die Idee, die Besatzungssoldaten nach Zigaretten zu fragen. Dann hatten wir doch - sie für ihren Vater, ich für meine Mutter - ein Weihnachtsgeschenk. Have you cigarettes for my father to Christmas ?
Das war unser Spruch. Es klappte nicht. Die clevere Gisela meinte, man müsse for mother
sagen. Die Tommys mögen Frauen lieber, denn die Männer haben ja gegen sie gekämpft. Und siehe da, wir brachten es jede auf fünf Stück! War es Zufall? Reine Bettelei war es auf jeden Fall. Aber wir sahen es damals anders. Ich hob die Zigaretten in einer hübschen, goldenen Schachtel auf, die so gut nach Seife duftete. Ich weiß gar nicht, wie die Schachtel in meinen Besitz kam, denn für uns gab es nichts, was duftete. Entsprechend haben dann wohl auch die Zigaretten geschmeckt. Meine Mutter hat alle fünf mit Todesverachtung geraucht und es mir später mal erzählt. Wir haben sehr gelacht, vor allem über die Art der Beschaffung.
Die Geschichte mit den Erbsen gehört auch noch hierher.
Seppl war ein Verehrer meiner Mutter und ich war eifersüchtig auf jeden der sich ihr näherte. In meinen Augen war Seppl das hässlichste Wesen, das auf der Erde herumlief. Als er uns einmal besuchte, brachte er ein Kilo Erbsen und ein Stück Speck mit. Meine Mutter freute sich riesig. Ist das nicht schön? Endlich können wir mal Erbsensuppe essen
! Mein Blick ging zu unserem Schrank, auf dem ein Zehnlitereimer voll mit Erbsen von der letzten Hamstertour stand. Ich konnte die Welt nicht mehr verstehen. Da gab es ein paar Mal in der Woche Erbsensuppe, worüber wir alle sehr froh waren, aber sie schienen nicht alle zu werden. Wie konnte man sich da noch über eine kleine Tüte von Seppl freuen? Das ist Diplomatie und man muss auch den Speck sehen
, wurde mir gesagt. Ich wünschte Seppl zum Teufel mit samt seinen Erbsen und seinem Speck. Eine meiner Puppen hieß auch Seppl, weil sie so schönes Trachtenzeug an hatte. Sofort wurde dieses Puppenkind auf den Namen Jürgen umgetauft.
Trotz dieser schweren Zeit, ging es bei uns auch sehr fröhlich zu. Meine Mutter hatte einen herrlichen Humor, der zum Teil ja auch Galgenhumor war. Auch wenn wir hungern und frieren mussten, fühlte ich mich in ihrer Liebe eingebettet, wir waren wie zwei Verbündete gegen den Rest dieser grausamen Welt!