Erlebnisse, Tätigkeiten und Erfahrungen 1945 bis 1949
Kapitel 3
Die Wahl-Esel
Aus den vier starken Jahrgängen der GUZ 1945 bis 1949 lassen sich inhaltlich hier nur wenige politisch interessante Themen und charakteristische Episoden herausgreifen. Neben den Geleitworten von Hermann ReinFriedrich Hermann Rein (* 8. Februar 1898 in Mitwitz, Oberfranken; † 14. Mai 1953 in Göttingen) war ein deutscher Physiologe und Hochschullehrer.Klick für Wikipedia.de und stud. jur. Zippel wurden bereits in Nummer 1 Politik und Hochschule
, Entnazifizierung und Wissenschaft
und das Schuldbekenntnis der evangelischen Kirche
aufgrund eines Vortrags von Martin NiemöllerEmil Gustav Friedrich Martin Niemöller (* 14. Januar 1892 in Lippstadt; † 6. März 1984 in Wiesbaden) war ein deutscher evangelischer Theologe und führender Vertreter der Bekennenden Kirche sowie Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Präsident im Ökumenischen Rat der Kirchen.Klick für Wikipedia.de heftig, meist befremdet oder ablehnend diskutiert. Die Themen Nation, Nationalismus und Schuldfrage ließen Studenten, Dozenten wie Professoren auch weiterhin nicht los. Alte und junge, Prominente und Unbekannte schrieben dazu. Erörterungen über das studentische Gemeinschaftsleben kehrten gleichfalls immer wieder, zumal der Anglist Herbert SchöfflerHerbert Schöffler (* 30. August 1888 in Leipzig; † 18. April 1946 in Göttingen) war ein deutscher Anglist, der auch auf den Gebieten der Religions- und Kultursoziologie tätig war.Klick für Wikipedia.de bereits Ende Oktober 1945 in einem viel beachteten Vortrag mit einem weiten thematischen Spektrum dazu angeregt hatte. Würde es gelingen, neue Formen des Gemeinschaftslebens zum Beispiel in Anknüpfung an intellektuelle Interessen zu finden? Die Studentengemeinden beider Konfessionen bestanden fort. Sollten Korporationen wiederbelebt werden?[3]
Der bekannte schwer kriegsbeschädigte stud. jur. Major a. D. Axel von dem BusscheAxel Ernst-August Clamor Franz Albrecht Erich Leo Freiherr von dem Bussche-Streithorst (* 24. April 1919 in Braunschweig; † 26. Januar 1993 in Bonn-Bad Godesberg) war ein deutscher Berufsoffizier, zuletzt im Range eines Majors, Europa-Politiker und Widerstandskämpfer in der Widerstandsgruppe des 20. Juli 1944.Klick für Wikipedia.de (27 Jahre) aus dem Kreis des Widerstandes war im Wintersemester 1946/47 Asta-Vorsitzender. Er war bereit gewesen, im November 1943 bei einer Uniformvorführung vor Hitler sich selbst mit diesem in die Luft zu sprengen. Ein Luftangriff ließ es nicht dazu kommen; die Musteruniformen waren zerstört. Jetzt, im Februar 1947, trafen Rektor Smend und ich uns auf dem Weg zu einem Vortrag Bussches: Eid und Schuld
. Smend dem Sinn nach zu mir: Jetzt werden wir hören, was er uns zu sagen hat, denn wir Alten haben ja versagt.
Der Saal war überfüllt.
Bussche sprach aus protestantisch-preußischem Gewissen über seine skrupulöse Entscheidung, Hochverrat, nicht Landesverrat!, zu begehen, mit anderen Worten Tyrannenmord, nachdem er Zeuge von Massenmord an Juden geworden war. Der Vortrag erregte viele Menschen, er fand auch in der GUZ in einer Diskussion über Schuld und Tragik der Offizierskaste
ein Echo. In der Folgezeit habe ich in einem Aufsatz auch diffamierende Unterstellungen seitens des emigrierten expressionistischen Dichters Fritz von UnruhFritz von Unruh (* 10. Mai 1885 in Koblenz; † 28. November 1970 in Diez an der Lahn) war ein deutscher Schriftsteller, Maler, Redner und Dichter des literarischen Expressionismus.Klick für Wikipedia.de abgewehrt; dieser konnte den Trotz und die Bedrücktheit so mancher jetzt Studierender über ihre Kriegsteilnahme nicht nachempfinden.
Bald danach brachte uns der baltische Historiker Reinhard WittramReinhard Wittram (* 9. August 1902 in Bilderlingshof, heute Bulduri, Jūrmala, bei Riga, Gouvernement Livland; † 16. April 1973 in Meran) war ein deutscher Historiker.Klick für Wikipedia.de einen Aufsatz Nationalismus
. Er nimmt darin mit viel Überwindung gewissermaßen Abschied von einem bis vor kurzem von ihm nicht hinterfragten Nationalismus. Es gab ein intensives Hin und Her zwischen der Redaktion und ihm, bis wir ihn annahmen mit einem eingeschobenen Kasten
Über die Deutschen
aus Hölderlins Hyperion. Heinrich Heines Wahlesel
an dieser Stelle hatte er empört abgelehnt.
Der Aufsatz könnte auch heute geschrieben sein. Wir setzten das Heine-Gedicht in der nächsten Ausgabe zum 8. Mai 1947 in einen Aufsatz von mir aus Anlass dieses Jahrestages Epoche oder Episode?
, nicht ohne dass Josef Stallmach die achtenswerte Seite des Nationalgefühls betonte und seine Stimme erhob gegen den Heine des Eselsgedichtes und alle, die in seine Fußstapfen treten
.
Die Wahl-Esel
Die Freiheit hat man satt am End,
Und die Republik der Tiere
Begehrte, daß ein einzger Regent
Sie absolut regiere.
Jedwede Tiergattung versammelte sich,
Wahlzettel wurden geschrieben;
Parteisucht wütete fürchterlich,
Intrigen wurden getrieben.
Das Komitee der Esel ward
Von Alt-Langohren regieret;
Sie hatten die Köpfe mit einer Kokard,
Die schwarz-rot-gold, verzieret.
Es gab eine kleine Pferdepartei,
Doch wagte sie nicht zu stimmen;
Sie hatte Angst vor dem Geschrei
Der Alt-Langohren, der grimmen.
Als einer jedoch die Kandidatur
Des Rosses empfahl, mit Zeter
Ein Alt-Langohr in die Rede ihm fuhr,
Und schrie: Du bist ein Verräter!
Du bist ein Verräter, es fließt in dir
Kein Tropfen vom Eselsblute;
Du bist kein Esel, ich glaube schier,
Dich warf eine welsche Stute.
Du stammst vom Zebra vielleicht, die Haut
Sie ist gestreift zebräisch;
Auch deiner Stimme näselnder Laut
Klingt ziemlich ägyptisch-hebräisch.
Und wärst du kein Fremdling, so bist du doch nur
Verstandesesel, ein kalter;
Du kennst nicht die Tiefen der Eselsnatur,
Dir klingt nicht ihr mystischer Psalter.
Ich aber versenkte die Seele ganz
In jenes süße Gedösel;
Ich bin ein Esel, in meinem Schwanz
Ist jedes Haar ein Esel.
Ich bin kein Römling, ich bin kein Slav;
Ein deutscher Esel bin ich,
Gleich meinen Vätern. Sie waren so brav,
So pflanzenwüchsig, so sinnig.
Sie spielten nicht mit Galanterei
Frivole Lasterspiele;
Sie trabten täglich, frisch-fromm-fröhlich-frei,
Mit ihren Säcken zur Mühle.
Die Väter sind nicht tot! Im Grab
Nur ihre Häute liegen,
Die sterblichen Hüllen. Vom Himmel herab
Schaun sie auf uns mit Vergnügen.
Verklärte Esel im Gloria-Licht!
Wir wollen Euch immer gleichen
Und niemals von dem Pfad der Pflicht
Nur einen Fingerbreit weichen.
O welche Wonne, ein Esel zu sein!
Ein Enkel von solchen Langohren!
Ich möcht es von allen Dächern schrein:
Ich bin als ein Esel geboren.
Der große Esel, der mich erzeugt,
Er war von deutschem Stamme;
Mit deutscher Eselsmilch gesäugt
Hat mich die Mutter, die Mamme.
Ich bin ein Esel, und will getreu,
Wie meine Väter, die Alten,
An der alten, lieben Eselei,
Am Eseltume halten.
Und weil ich ein Esel, so rat ich Euch,
Den Esel zum König zu wählen;
Wir stiften das große Eselreich,
Wo nur die Esel befehlen.
Wir alle sind Esel! I-A! I-A!
Wir sind keine Pferdeknechte.
Fort mit den Rossen! Es lebe, hurra!
Der König vom Eselsgeschlechte!
So sprach der Patriot. Im Saal
Die Esel Beifall rufen.
Sie waren alle national,
Und stampften mit den Hufen.
Sie haben des Redners Haupt geschmückt
Mit einem Eichenkranze.
Er dankte stumm, und hochbeglückt
Wedelt' er mit dem Schwanze.
Immer wieder übernahm die GUZ geradezu eine Aufklärungsfunktion. Dr. Hildegard SchaederHildegard Schaeder (* 13. April 1902 in Kiel; † 11. April 1984 in Freiburg im Breisgau) war eine deutsche Kirchenhistorikerin. 2000 wurde sie postum als Gerechte unter den Völkern geehrt.Klick für Wikipedia.de berichtete über ihre Haftzeit im KZ Ravensbrück, Gerhard von RadGerhard von Rad (* 21. Oktober 1901 in Nürnberg; † 31. Oktober 1971 in Heidelberg) war ein deutscher protestantischer Theologe (Alttestamentler).Klick für Wikipedia.de über die Entstehung des Judentums, es folgten Hans KosmalaHans Kosmala, ursprünglich Johannes Karl Adolf Kosmala (* 30. September 1903 in Breslau; † 24. April 1981 in Compton Abdale, Gloucestershire) war ein deutsch-britischer Theologe.Klick für Wikipedia.de über die weitere jüdische Geschichte und die Problematik des neuen Staates, schließlich Karl ThiemeKarl Otto Thieme (* 25. Mai 1902 in Leipzig; † 26. Juli 1963 in Basel) war ein deutscher Historiker und Politologe.Klick für Wikipedia.de über Judenfeindschaft und Antisemitismus und Otto Lindenschmidt über Euthanasie. Zu Weihnachten 1946 erschien ein Beitrag von Rudolf Smend über die Ökumene und als Einschiebung der Text des Weihnachtsevangeliums. In Würdigung des Marxismus erschienen mehrere ausgewogene Beiträge, so besonders zum 100. Jahrestag des kommunistischen Manifestes im Februar 1848.
Natürlich wurde dem Alltag des Universitätslebens und der Hochschulpolitik beträchtlich Raum gegeben: Konferenzberichte, kritische Reformschriften, Sorgen und Vorschläge Studierender und ähnliches fanden ihren Platz. Auszüge aus zwei eigenen Beiträgen geben meine Göttinger Erfahrungen während der ersten Nachkriegsjahre unverfälscht wieder, dazu das Drängen auf entschiedene Schritte zur Neugestaltung von Struktur und Lehre. In einer Bilanz des ersten Nachkriegssemesters Zwischen gestern und morgen
schrieb ich am 22. März 1946:
Die in mehreren Etappen durchgeführte Entnazifizierung des Lehrkörpers war nur eine notwendige Reinigungsmaßnahme, die als eine Förderung, keinesfalls aber als der Inhalt des Neubaus der Universität angesehen werden muss. Auch für die verbliebenen Lehrkräfte, deren fachliche Leistung nicht angezweifelt wird, gilt es, die eigene, persönliche Stellung zu Gott, Welt und Wissenschaft neu zu fundieren. Dies wird nicht ohne Wirkung auf ihre Verkündigung der Wissenschaft bleiben. Göttingen ist eine nahezu unzerstörte Stadt, und seine Kriegs- wie Nachkriegsleiden sind gering im Vergleich mit fast allen deutschen Städten. Ein staubiger Wind vorgestriger Bürgerlichkeit weht daher in den Straßen die Tausende an, die Schutz und neue Heimat in ihren Mauern suchen. Dort ist der Start in unbekanntes Neuland geistiger Bezirke nicht leicht und wird noch manches Opfer fordern. Brennend erhebt sich das Nachwuchsproblem für den Beruf des akademischen Lehrers, das nur im Augenblick dadurch verdeckt wird, dass durch Berufung zahlreicher Lehrkräfte aus dem Osten und vereinzelt mögliche Rückberufung der 1933 vertriebenen Professoren die entstandenen Lücken im Lehrkörper sich denkbar günstig schließen lassen …
Wir haben zu zeigen versucht, dass wir an der Universität sehr wohl die geistige Krise unserer Tage erkennen und mit den Problemen ringen. Wollen die politischen Parteien, die uns so oft zum Gegenstand ihrer Polemik machen, vielleicht behaupten, dass sie es in ihrem Bereiche nicht genau so müssten, dass sie nicht in gleicher Weise mit dem Geist von vorgestern ringen müssten? Sie wie wir stehen in der gleichen Situation, um eigene innere Neufundierung noch kämpfen und gleichzeitig schon echte politische Gesinnung in der amorphen Masse unseres Volkes wecken zu müssen. Dass wir es ganz deutlich sagen: Wir müssen beide nicht so sehr gegen den Geist von gestern, den spezifischen NS-Geist der letzten zwölf Jahre angehen, er hat sich selbst, ad absurdum geführt. Wir müssen vielmehr gegen den Geist von vor 1933 kämpfen, den Geist nationaler Spießbürgerlichkeit und Reaktion wie doktrinären Klassenhasses, der allerdings Ausgangspunkt für die NS-Gesinnung gewesen ist …
Wir sagten oben, es sei ein nicht nur günstig zu deutendes Zeichen, dass sich in Göttingen keine beachtenswerten Zwischenfälle ereignet haben, und meinten damit, dass die Stille nur bei wenigen eine fruchtbare, bei vielen aber Sturheit sei. Wir begrüßen deshalb jede Regung inneren Angerührtseins. Ein Vortrag Pfarrer Niemöllers war schon deshalb eine echte Hilfe für den Dienst der Universität, weil er hin und her lebendige Debatten auslöste, wie man sie in den vergangenen Jahren nicht mehr kannte. Die leidenschaftliche Erregung um die Schuldfrage bezeugt, dass man auf die Kernfrage unserer Existenz, an der die Neubesinnung ansetzen muss, auf die Frage nach der persönlichen Verantwortung aufmerksam zu werden beginnt, mag der Einzelne dazu auch Stellung nehmen, wie er will. Es ist ein Fortschritt, dass derartiges überhaupt diskutiert wird, und dies geschieht unseres Wissens in dieser Offenheit nur an den Universitäten. Wundert sich wirklich jemand, dass Niemöller unter den Studenten viel Nichtverstehen oder Ablehnung findet? Wo in Deutschland ginge es Niemöller denn anders, wenn man von bestimmten kirchlichen Kreisen absieht? …
Abschließend ging ich auf die Frage etwaiger spürbarer sozialer Risse unter den Studierenden ein und fuhr fort:
Gott sei Dank, es gibt sie nicht, und wehe dem, der sie aufreißt! Für die wirklich freiwillige, persönliche Hilfe im Flüchtlingslager Friedland hat sich schwerlich einer für zu fein gehalten. Überhaupt: Hier hatten die Studenten die Initiative ergriffen, sie halfen spontan und gern, aber leider beteiligten sich manche nicht, weil sie zu stumpf, zu leer, zu gleichgültig gegen fremdes Schicksal nach so viel Jahren Krieg geworden sind. Das ist jedoch nicht Klassengeist von früher, sondern Massengeist von heute. Innerhalb des Universitätskörpers selbst muss von dem gemeinsamen Willen der Professoren und Studenten, die materielle Not zu überwinden, uneingeschränkt positiv berichtet werden …
In der GUZ als einem offenen Diskussionsforum schloss sich unmittelbar ein Beitrag Das erste Nachkriegssemester
von Otto Mertens an. Er schilderte mit fröhlichem Optimismus die praktischen Schwierigkeiten und den tatkräftigen Umgang mit ihnen: Das Primat der wieder zu Geltung kommenden Wissenschaft gegenüber einer überholten dogmatisch-weltanschaulichen Politik
sei wieder hergestellt.
[3] Vgl. hierzu die Auswertung der GUZ in Krappmann, L. : Die Studentenschaft in der Auseinandersetzung um die Universität im Dritten Reich. In: Freie Universität (Hrsg.): Universitätstage
1966 - Nationalsozialismus und die deutsche Universität.