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Vertreibung aus Ostpreußen
Kapitel 7
In Mecklenburg, Flucht in den Westen

Einige Zeit sind wir in Badow geblieben. Aber Mutti wollte nicht auf die Dauer unter sowjetischer Herrschaft in Mecklenburg bleiben.

Mutti versuchte ausfindig zu machen, wo sich Papa aufhielt. Mutti bekam heraus, dass sich Papa in Norddeutschland, inzwischen im Westen aufhielt. Wir wollten rüber in den Westen. Wir drei sind losmarschiert, es war im Herbst 1948. Mutti wusste auch nicht so genau, wo der Westen anfing. Wir haben Leute gefragt. Jemand sagte schließlich da drüben, wo Sie den Wald sehen, da fängt der Westen an.

Es waren vielleicht noch einen Kilometer zu gehen. Wir wussten zwar, wir durften nicht so ohne Weiteres rüber. Wir haben uns immer ängstlich umgeschaut, ob uns auch jemand sieht. So tasteten wir uns langsam nach Westen vor. Da war noch vor uns ein etwas breiterer Graben, da mussten wir rüber. Ganz plötzlich stand ein russischer Soldat vor uns. Der Soldat schrie uns an, was wir da wohl vorhaben und hielt sein Gewehr im Anschlag! Mutti sagte ihm, wir wollen in den Westen, wir konnten die Grenze praktisch schon sehen, da hinten am Waldrand. Der Grenzwächter schrie nur, wenn wir weitergehen, würde er uns erschießen.

Gerd und ich fingen an zu weinen, wir hatten unsägliche Angst. Bitte nicht schießen, bitte nicht schießen! Mutti sagte nur, wenn er uns schon erschießen wollte, dann erst uns Kinder, danach sie selbst. Wir haben nur noch geweint. Daraufhin senkte er sein Gewehr und ließ von uns ab. Er sagte dann, er müsste uns mitnehmen und einsperren. Wir gingen mit. Er brachte uns in ein Haus, die Kommandantur. Hier wurden wir vernommen. Mutti sagte, sie wolle unbedingt in den Westen, da drüben sei ihr Mann und unser Vater.

Wir wurden daraufhin erst mal in diesem Haus auf dem Dachboden eingesperrt. Wir sollten uns da oben ja ruhig verhalten, sie wollten sehen, was sie für uns machen können. Auf dem Dachboden befand sich fast nichts. Gerd sagte dann nach einiger Zeit, er müsse mal! Mutti war ratlos. Sie fand auf dem Boden einen Pappkarton und sagte, da können er reinmachen. Irgendwann brachte man uns was zu essen. Dafür waren wir dankbar.

Ich weiß nicht, wie viele Tage wir da oben verbringen mussten. Dieses Haus, in dem wir uns befanden, war irgendwo bei Lauenburg, auf der östlichen Seite, in der „Ostzone“. Dann hieß es plötzlich, wir könnten rüber in den Westen. Man hatte auch Papa ausfindig gemacht. Wir packten unsere wenigen Habseligkeiten. Man brachte uns bis zu der Brücke. Wir brauchten nur noch über die Brücke gehen. Auf der anderen Seite wäre der Westen. Dort würden wir von unserem Vater abgeholt werden.

Flüchtlingsnot 1948 © FWU - Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht

Im Westen

So war‘s dann auch, wir befanden uns in Lauenburg. Papa nahm uns auf der anderen Seite in Empfang. Die Freude war vor allen Dingen bei Mutti groß. Uns Kindern war unser Vater völlig fremd. Laut Datum hatten wir ein oder zwei Tage vor Weihnachten 1948. Papa arbeitete schon bei der Bundesbahn. Papa wohnte mit drei anderen Kollegen in einem Bauwagen. Der Standort von dem Bauwagen war Ottersberg bei Bremen.

Die Kollegen machten Weihnachtsurlaub bei ihren Familien, also stand zu dieser Zeit der Bauwagen leer. Papa konnte uns deshalb da mit hineinnehmen. Als wir da ankamen, war es im Bauwagen völlig kalt. Papa musste erst den Ofen heizen.

Papa hatte für uns ein Weihnachtsgeschenk. Gerd bekam ein kleines, zirka zehn Zentimeter langes, rotes Holzauto, sah einem VW ähnlich. Ich bekam eine Puppe mit Pappkopf und Stoffkörper. Ich gab ihr den Namen Käthe. Wir haben uns nicht sonderlich wohl gefühlt, waren uns fremd. Jetzt sollten wir als Familie zusammenwachsen. Gerd war sechs Jahre alt, ich war acht Jahre und Mutti 38 Jahre, Papa war 51 Jahre alt.


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