1944 - Tiefflieger und Strümpfe aus Wolle
Meine Mutter hatte irgendwo eine Frau aufgetrieben, die aus der Wolle ihrer Schafe Kniestrümpfe strickte. Die Dinger waren grau, schrecklich kratzig und rutschten. Meine Mutter nähte Gummiband zu Ringen zusammen, die wir uns um die Beine zogen, um das obere Strumpfende darüber zu klappen. Somit brauchten wir nur ein Paar Gummibänder für alle unsere Strümpfe, denn auch die Gummibänder gab es nur auf Bezugsschein. Mein Bruder hatte Schuhe, Strümpfe und Gummibänder ausgezogen, bevor er in die Tarpenbek stieg, aber bei dem ständigen Hoch und Runter an der Böschung waren Strümpfe und Gummibänder wohl in den Bach gerutscht und davon geschwommen – natürlich ein Riesenverlust! Zum Glück waren wenigstens seine Schuhe noch da.
Eines Tages spielten wir im Garten, unsere Mutter grub um. Auf dem benachbarten Feld holten Bauern ihre Kartoffeln aus der Erde. Plötzlich kam ein Tiefflieger – wir wussten sofort, was zu tun war: Wir schmissen uns platt auf den Rasen. Die Bauern duckten sich unter ihren Pferdewagen. Der Tiefflieger versuchte die Bauern zu beschießen, dann drehte er eine Runde und versuchte es erneut – Gottseidank passierte den Bauern nichts. Als der Tiefflieger eine größere Schleife drehte, rannten wir was wir konnten, um in den Kellereingang zu gelangen. Dort stand auch schon unsere Mutter. Als der Flieger endlich wegflog, sah unsere Mutter auf ihrem frisch umgegrabenen Landstück frische Fußspuren. Sie schimpfte mit uns Kindern – dabei war offenbar sie selbst die Verursacherin: Für uns wäre das ein Umweg gewesen.
1945 - wie ich das Kriegsende erlebte
Im Januar 1945 wurde meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, krank und musste ins Krankenhaus. Die Krankenhäuser Hamburgs waren zum Teil ausgebombt oder überbelegt, außerdem war es wegen der Angriffe gefährlich, in Hamburger Krankenhäusern zu liegen – also wurde Omi nach Ricklingen verlegt. Zu der Zeit war eine Fahrt nach Ricklingen fast eine Tagesreise, aber wir besuchten sie alle dort. Auch Onkel Hans, Omis jüngster Sohn, bekam rechtzeitig Urlaub von der Front in Italien. Aber meine Omi wünschte sich nichts sehnlicher, als ihren ältesten Sohn Jonny zu sehen, doch Jonny kam nicht: Bis das Telegramm meiner Mutter und meiner Tanten meinen Vater an der russischen Front erreichte, verging einige Zeit. Bis ein Sonderurlaub in dieser Zeit genehmigt wurde, verfloss wiederum einige Zeit, und für die Rückreise benötigte mein Vater wegen der kriegsbedingt beeinträchtigen Bahnverbindungen eine wesentlich längere Zeit als normal, sodass er schließlich erst im März 1945 in Harksheide ankam. Meine Großmutter war bereits im Januar gestorben.
Mein Vater und meine Großmutter hatten ein sehr enges Verhältnis, und als ich dann mit ihm an ihrem Grab in Ohlsdorf stand, habe ich meinen Vater zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben weinen sehen. Ich denke, meinem Vater war klar, dass der Krieg nicht mehr sehr lange dauern würde und auch, dass wir ihn verlieren würden. Dennoch machte er sich an den erneut sehr langen Rückweg an die Front, um nicht Gefahr zu laufen, als Deserteur kurzerhand an der nächsten Laterne aufgeknüpft zu werden.
Ich war inzwischen zehn Jahre alt, wir mussten uns im Januar 1945 auf dem Schulhof in ordentlicher
Haltung aufstellen und warten, bis die Kommission erschien, die uns für den Bund Deutscher Mädchen (BDM) mustern sollte – das dauerte und dauerte. Zwischenzeitlich wurden wir müde und froren. Es kam aber immer wieder ein Lehrer, der uns ermunterte, uns anständig
hinzustellen. Nach ewig langer Zeit erreichte die Schule die Mitteilung, dass die Musterung heute nicht stattfände. Sie fand nie mehr statt, denn der Krieg endete zwischenzeitlich.
Inzwischen rückte die Front immer näher. Dann war es soweit, Hamburg sollte kämpfen. Wir versuchten, mit unseren Lebensmittelkarten für den gesamten Monat einzukaufen und uns auf ein längeres Leben im Keller vorzubereiten. Plötzlich kam die Nachricht: Es gibt keinen Kampf um Hamburg!
Wir mussten aber trotzdem für drei Tage in den Keller, jetzt auf Geheiß der Engländer, danach konnten wir uns wieder einigermaßen frei bewegen. Auf meinem ersten Gang vom Glashütter Damm zur Segeberger Chaussee sah ich auf einem Feld an der Ecke Alte Landstraße/Segeberger Chaussee einen Panzer stehen. Um ihn herum standen englische Soldaten in Uniform. Ich war höchst verwundert, dass sie aussahen wie normale Menschen, weil unheimlich viele Geschichten von ihnen erzählt wurden, wie böse sie seien und dass sie die Kinder von ihren Eltern trennen würden.