1942 - Evakuierung nach Hüttenbach
Eine zweite Evakuierung erfolgte nach Hüttenbach, ebenfalls in Bayern. Pappenheim war ein Luftkurort und hatte schon häufig Gäste von Kraft-durch-Freude-Reisen
, deshalb waren die Pappenheimer bereits an Fremde gewöhnt. Es kam aber trotzdem häufiger vor, dass wir als Saupreußen
beschimpft wurden. Eigentlich fühlten wir uns wegen unserer ursprünglichen Herkunft, der Wohnung knapp außerhalb Hamburgs und des Arbeitsplatzes meines Vaters am Jungfernstieg weiter als Hamburger, nicht als Preußen, aber für die Bayern gehörten offensichtlich alle deutschen Gebiete außerhalb Bayerns zu Preußen.
Die Hüttenbacher betrachteten alle Fremden als Eindringlinge. Es gab Schwierigkeiten mit den Kindern wie mit den Erwachsenen. In der Schule fragte der Lehrer mich nach dem Vornamen meines Vaters – ich antwortete wahrheitsgemäß: John
. Der Lehrer schimpfte mich aus, John
sei kein Name, mein Vater hieße wohl Johannes. Schüchtern wendete ich noch ein, mein Vater hieße doch John und nicht Johannes, daraufhin schwieg der Lehrer. Die Kinder aber johlten: Die weiß ja nicht einmal, wie ihr Vater heißt!
Das erzählte ich später meiner Mutter und sie nahm mich kurzentschlossen aus der Schule – wie sie das geschafft hat, weiß ich bis heute nicht …
Da meine Mutter sich im hinterwäldlerischen Hüttenbach stets unwohl fühlte, erreichte sie es auf unbekannten Wegen, dass wir wieder nach Pappenheim gelangten. Unser Quartier war diesmal eine enteignete Judenkapelle, die wir uns mit der Familie Hüttinger und deren sechs Kindern teilten. Der Friedhof diente uns als Spielplatz.
1943 - Operation Gomorrha, Großangriff auf Hamburg
Mehrmals an verschiedene Orte evakuiert, landeten wir zuletzt bei meiner Großtante Bertha in Nordhausen im Harz. Von dort kehrten wir im Frühsommer 1943 nach Harksheide zurück, weil mein Vater Heimaturlaub erhalten hatte. Ich war froh, meinen Vater mal wieder zu Hause zu haben, aber leider verging der Urlaub wie im Fluge.
Ein paar Tage nach dem Abschied von meinem Vater hatten wir wieder Fliegeralarm, aber diesmal dauerte der Alarm ewig. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass es einen Großangriff auf Hamburg gegeben hatte. Als wir aufstanden, war es ziemlich dunkel, die Sonne von einem Aschenregen verdunkelt, es wurde den ganzen Tag nicht hell. Aus Angst fuhr Herr Eckert mit der Familie Sander in den Tangstedter Forst, mehr Leute passten nicht in sein Auto. Also war Mutti mit uns Kindern in der Nacht praktisch allein, als der zweite Großangriff erfolgte. Am nächsten Morgen ging unsere Mutter mit uns beiden Kindern zum Bahnhof Ochsenzoll, wo sehr viele Ausgebombte mit ihrer letzten Habe lagerten. Schließlich nahm meine Mutter einen Kohlenhändler mit seinen beiden erwachsenen Töchtern mit nach Hause. Sie versuchte, für alle irgendwie eine Lagerstatt einzurichten. In der Nacht erfolgte der dritte Großangriff. Ich versuchte, eine der beiden Töchter zu überreden, mit mir spazieren zu gehen. Ich zeigte ihr den Weg zu unserem kleinen Wäldchen. Wir unterhielten uns und ich erzählte ihr von Elfen, über die ich schon einiges gelesen hatte. Sie meinte: Ja, die Elfen schlafen am Tage in den Blumen
– bald kamen wir an einen kleinen Weiher – und die Elfen tanzen um diesen Weiher in der Nacht von elf bis zwölf!
Ich war Feuer und Flamme und bat sie, mit mir die nächste oder übernächste Nacht dorthin zu wandern.
Durch die Arbeiten an einer Familienchronik wieder zur Beschäftigung mit der Zeit meiner Kindheit angeregt, verfasste ich 2018 das folgende Gedicht:
Juli 1943
Die Welt meiner Kindheit war eine andere –
Spaziergänge im Wald,
die alten knorrigen Bäume gaben den Elfen Herberge,
die um Mitternacht am schwarzen Waldweiher tanzten.
Über der Stadt fielen Bomben
und Feuersbrünste wüteten in den Straßen.
Der Himmel war blutrot. Gisela Lange, 2018
Daran sieht man, dass Kinder durchaus in der Lage sind, ihre Kinder- und Märchenwelt mit der (in diesem Falle grausamen) Wirklichkeit in Verbindung zu bringen.
In Harksheide kam ich nach einer langen Unterbrechung von fast einem Jahr kurz vor den Sommerferien 1943 wieder in die erste Klasse, nach den Herbstferien wurde ich in die zweite versetzt. In Bayern hatte ich bereits in lateinischer Schrift schreiben gelernt, in Harksheide wurde dagegen im ersten Schuljahr noch die Sütterlin-SchriftDie Sütterlinschrift wurde 1941 von den Nazis als undeutsch
verboten, siehe Bormann-Erlass Klick … gelehrt. Erst mit dem zweiten Schuljahr kam die Umstellung auf die mir bereits bekannte lateinische Schrift. So hatte ich in Harksheide noch die Möglichkeit, innerhalb weniger Wochen auch die Sütterlin-Schrift zu lernen.
Nach und nach wurden wir immer mehr Kinder in der Schule, es gab auch neue, allerdings nur alte Lehrer – die jüngeren Lehrer waren ja an der Front. Mein Bruder Hans-Jürgen war ein durchaus unternehmungslustiges Bürschchen, er versuchte ständig, die Umgebung zu ergründen – auch schon, als er noch ziemlich klein war. Vermutlich besaß er schon damals seinen fantastischen Orientierungssinn, denn er fand stets wieder nach Hause. Also mussten meine Mutter und ich uns ständig um die Mittagszeit auf die Suche nach ihm begeben – wir trennten uns und liefen jeder in eine andere Richtung. Eines Tages, als ich ihn am Schmuggelstieg suchte, sah ich ihn ein Stück weiter an der Tarpenbek spielen. Er lief ständig die Böschung hinauf und hinunter und wieder in die Tarpenbek – was immer er da spielte.