1946 - Hungersnot und harte Winter
Jetzt begann eine längere Hungerszeit. Damit wir Kinder einigermaßen etwas zu essen hatten, beschloss Mutti ungeachtet der Strafandrohungen ihre erste Hamstertour. Sie hatte zur Hochzeit jede Menge Kristallglas bekommen, damals sehr wertvoll, davon verpackten wir mehrere Teile. Wir benutzten den Blockwagen, zum einen, um Hans-Jürgen zu ziehen, zum anderen hofften wir auf einige Erträge. Mutti wurde ihr gesamtes Kristall los, aber der Gegenwert war armselig; einige Steckrüben und ein kleines Säckchen Kartoffeln.
Im Oktober 1946 kam mein Vater nach eineinhalb Jahren russischer Kriegsgefangenschaft völlig zerlumpt und dünn wie ein Skelett wieder zurück. Er hatte ständig Hunger und konnte an nichts anderes denken. Also entschloss Mutti sich zu weiteren Hamstertouren. Eine davon führte meine Mutter und mich mit der Fähre ins Alte Land. Die Bauern dort waren noch unfreundlicher als andere. Trotzdem schafften wir es nach und nach, einige kleinere Säcke Äpfel zu bekommen. Einige andere Hamsterer hatten uns inzwischen erzählt, dass es unsinnig wäre, mit der Fähre zurückzufahren, wir sollten es lieber vom Bahnhof Buxtehude per Bahn versuchen. Der Bahnhof war einige Kilometer entfernt. Auf dem Rückweg – Mutti schleppte zwei etwas größere Säcke, ich einen etwas kleineren – sahen wir in einiger Entfernung einen Polizisten in unsere Richtung radeln. Was tun?
Die neben der Straße liegenden Äcker und Wiesen waren von Wassergräben durchzogen. Mutti, ich kann über den Wassergraben springen! Dann wirfst Du mir die Säcke zu und ich verstecke sie …
Danach gingen wir ein Stückchen weiter und taten, als ruhten wir uns aus. Der Polizist radelte an uns vorbei und verschwand in der Ferne. Ich sprang wieder über den Wassergraben und versuchte mit viel Mühe, die Säcke so hochzuziehen, dass meine Mutter sie wieder zurückzerren konnte. Dann setzten wir unseren Weg Richtung Buxtehuder Bahnhof fort.
Die Säcke wurden schwerer und schwerer. Kurz vor dem Bahnhof konnte ich einfach nicht mehr. Es waren viele Hamsterer auf dem Weg zum Buxtehuder Bahnhof und ein paar junge Männer sagten zu mir: Keine Sorge, wir nehmen dir die Säcke durchaus ab!
Das ärgerte mich dermaßen, dass ich mir den Sack wieder über den Rücken warf und meine Tour fortsetzte. Endlich erreichten wir den Bahnhof, es fuhr auch noch eine Bahn und wir kamen tatsächlich unbehelligt mit Bahn und U-Bahn zum Ochsenzoll. Nun mussten wir die Säcke ja auch noch vom Ochsenzoller Bahnhof nach Hause schleppen. Dort kam ich dann aber wirklich fix und fertig an.
1947 - Der zweite harte Winter
Im Januar 1947 machte ich die Prüfung für die Mittelschule. Der Winter 1946/47 war der härteste Winter des 20. Jahrhunderts. Es gab sehr viel Schnee, keine Schuhe und keine Feuerung. Die Prüfung bestand aus einem zweitägigen schriftlichen Teil und einem eintägigen mündlichen. Nach Auswertung des schriftlichen Prüfungsteils mussten nur die Schüler den mündlichen Teil absolvieren, die den schriftlichen nicht mit sehr gut
bestanden hatten. Von uns Glücklichen, die die Prüfung bereits bestanden hatten, hatten einige denselben Nachhauseweg. Wir waren vor Freude so übermütig, dass wir immer wieder in die schneegefüllten Gräben sprangen, obwohl wir uns dann wieder mühselig daraus hervor arbeiten mussten. Am Ende waren wir nass und kalt, aber restlos glücklich.
Niemand in unserer Familie hatte noch heile Schuhe. Da konnten wir für ein Brot ein Paar langschäftige Stiefel für mich einkaufen. Das war natürlich bitter – ein ganzes Brot!
Da ich nun das einzige beschuhte
Familienmitglied war, fiel mir die Aufgabe des Einkaufens zu. Das hieß lange Wege, langes Anstehen und hoffen, dass man für seine Lebensmittelkarten bekam, was darauf stand. Es war so kalt in der Wohnung, dass die Familie die Zeit meistens im Bett verbrachte. Wenn wir aßen, saßen wir Kinder zu zweit in einem Clubsessel, zugedeckt mit einer Wolldecke, um es etwas wärmer zu haben. Hin und wieder kam es noch schlimmer: Die Abwasserrohre froren zu und wir konnten nicht mehr zur Toilette gehen – heißes Wasser, um das Eis in den Rohren zu tauen, hatten wir nicht. Ich weiß nicht, wie meine Eltern es geschafft haben, aber hin und wieder war dann doch ein Toilettengang möglich.
In der Schule hatten wir Unterricht in Schichten. Das hieß, dass ich im Winter erst im Dunkeln nach Hause kam. Bis zur Wiesenstraße hatte ich Gesellschaft, aber durch den unbeleuchteten Wiesenweg – nur Wassergräben und Wiesen – musste ich allein gehen. Die Wiesen waren zwar im Sommer umzäunt, aber im Winter nahmen die Bauern die Zaunpfähle heraus, weil sie sonst als Brennmaterial verschwunden wären. Zu der Zeit ging das Gerücht um, es gäbe eine Frau, die Kinder finge und ermordete. Ein wenig ängstlich war ich deshalb schon, daher versprach meine Mutter, sie würde mich abholen. Als ich mich am Ende der Wiesenstraße von den anderen Kindern verabschiedete, war keine Mutter da. Also machte ich mich allein auf in den finsteren Wiesenweg. Schon nach kurzer Zeit hörte ich ein klägliches Rufen: Gisela … Gisela …
Meine Mutter war in einem Wassergraben gelandet und konnte sich selbst nicht daraus befreien. Also half ich ihr aus dem Wassergraben und beschloss, von nun an lieber allein nach Haus zu gehen.
1948 - Währungsreform, Neuanfang mit 40 D-Mark
Im Juni 1948 änderte sich durch die Währungsreform vieles: Die Reichsmark verlor ihren Wert und die D-Mark wurde ausgegeben. Von nun an gab es fast alles wieder zu kaufen, aber das Geld war knapp. Meine Tante kaufte für meinen 1939 geborenen Bruder eine Banane. Hans-Jürgen hatte noch nie eine Banane gesehen und fragte verwundert: Was soll ich denn mit einer gelben Gurke?