Wir fahren nach Ostpreußen
Impressionen eines Kindes …
Der Sommer 1938 ist besonders sonnig und warm. Das fällt sogar mir fünfjährigem Steppke auf, obwohl meine Vergleichsmöglichkeiten noch sehr gering sind.
Eines strahlenden Morgens stehe ich mit meiner Mutter oben auf dem Bahnsteig unseres Bahnhofs Bochum-Langendreer zwischen zahlreichen Menschen, alle mit viel Gepäck wie wir auch. Das heißt, ich habe nur meine Butterbrottasche aus braunem Rindleder, die ich sonst zum Kindergarten trage, umgehängt. Mutti müht sich mit zwei schweren Koffern ab. Vati ist nicht zu sehen. Er ist wohl wie immer ab sechs Uhr in der Fabrik und muss Geld verdienen, das wir nach der langen Erwerbslosenzeit dringend nötig hätten, sagt Mutti. Weil sie mich wegen des Gepäcks nicht an die Hand nehmen kann, schärft sie mir ein, vor ihr in den Zug einzusteigen. Irgendwer, meistens ein Schaffner oder auch ein Fahrgast wird mir schon unter die Arme greifen wie sonst auch in Zügen oderStraßenbahnen, weil ich noch so kurze Beine habe und äußerst schwer die hohen Stufen in den Zug hinauf klettern kann. Wir warten, und ich spüre bei den Menschen eine freudige Spannung.
Wo fahren wir hin, Mutti?
frage ich. Nach Ostpreußen.
antwortet sie. Ist das weit?
— Ja, sehr weit, mein Junge. Guck mal, da kommt schon der Zug.
Und meine Mutter zeigt in Richtung Bahnsteigende.
Die Reisevorbereitungen habe ich kleines Kind natürlich kaum mitbekommen. Ich kann mich nur erinnern, von meinen Eltern gelegentlich gehört zu haben, dass in Ostpreußen viele Verwandte meiner Mutter wohnten. Aber wo dieses Ostpreußen liegt, davon habe ich keine Vorstellung.
Der Zug kommt näher. Aus einem kleinen schwarzen Punkt in der Ferne entwickelt sich rasch ein riesiger Bandwurm, der unter fürchterlichem Zischen bedrohlich herankriecht und dicken, weißen Dampf ausstößt. Zugfahrten kenne ich schon. Meine Eltern sind mit mir zu Oma und Opa und anderen Verwandten im gemütlichen Personenzug nach Gelsenkirchen-Horst, Buer-Süd oder Essen Hauptbahnhof gefahren, Fahrzeit höchstens zwei Stunden mit Umsteigen. Aber dieser Zug heute ist ganz anders, riesiger. Die Lokomotive (Lok) erscheint mir als ohrenbetäubend fauchender Koloss auf mannshohen, roten Speichenrädern mit gleichfarbigen, langen Schubstangen, die ungeheuer kraftvoll rollen, beziehungsweise hin- und herstampfen. Den lang gestreckten, tonnenförmigen, schwarzen Dampfkessel zieren vorne zwei imponierende Windabweiser. Nur D-Zugloks sind damit ausgestattet. Lässig lehnt der Lokführer aus dem kleinen Schiebefenster des Führerstandes vor dem mächtigen Tender voller Stückkohle und bugsiert seinen unglaublich langen Zug mit modernen Wagons, die nur an ihren beiden Enden den Ein- und Ausgang haben, majestätisch in den Bahnhof. Noch etwas fällt mir besonders auf: Ein riesiges, weißes Tuch umhüllt einen Teil des dicken Dampfkessels, darauf stehen große, schwarze Buchstaben. So etwas Ähnliches habe ich erst einmal in meinem Leben gesehen, als vor einiger Zeit der Sonderzug des Führers Adolf Hitler durch unseren Bahnhof raste. Schwarz von Menschen war es die Bahnlinie entlang. Ich saß hoch auf irgendwelchen Schultern, damit ich etwas sehen konnte. Enttäuscht zogen die Tausende wieder ab, weil der Führer nicht aus dem Fenster geguckt hatte. Doch einige wollten ihn hinter den Gardinen winken gesehen haben. Mir war damals die ganze Aufregung völlig egal, weil ich von diesem Hitler zum ersten Mal an meinem fünften Geburtstag bewusst etwas gehört hatte, und er fiel sogleich bei mir in Ungnade, und das kam so:
Ich bin am 30. Januar 1933, dem Tag der Machtübernahme Adolf Hitlers, geboren worden. An meinen Geburtstagen begrüßte mich immer ein lustig flatterndes Fahnenmeer in der ganzen Stadt, wenn ich aus dem Fenster sah. Es gefiel mir sehr. In meiner kindlichen Unkenntnis bezog ich das natürlich auf mich. Doch an meinem fünften Geburtstag erfuhr ich den wahren Grund, der mir sofort den schönen Tag sowie den Namen des Urhebers vermieste.
Ich hatte während der Durchfahrt des Sonderzuges damals nur Augen für das gewaltig donnernde Dampfross, das ein ebenso großes, weißes Tuch auf dem Dampfkessel zierte wie heute, aber mit einem zackigen Hakenkreuz. So eine dieser modernsten Loks, wie der Hitler sie hat, zieht nun unseren Zug. Mein Herz jubelt. Mutti, was steht da auf dem Tuch?
Lesen kann ich ja noch nicht. Mutti antwortet durch den Lärm etwas abwesend, weil sie angestrengt nach den Wagennummern schaut: Das heißt
Mir erschließt sich der Sinn dieses Spruchs nicht ganz, aber er hört sich gut an.Kraft durch Freude
!
Auf einmal sind wir drin im Zug. Jemand hat mir unter die Arme gegriffen. Der Wagon ist voll, aber alle bekommen einen Sitzplatz. Mutti musste unser Gepäck schleppen und japst jetzt nach Luft. Ein hilfsbereiter Fahrgast hievt unsere schweren Koffer ins Gepäcknetz. Mit einem Lächeln bedankt sie sich.
Quälend lange dauert die Fahrt. Die Landschaft fliegt am Fenster vorbei, ich schlafe auf Muttis Schoß ein. Komm, Günterchen, wir sind in Berlin.
weckt sie mich. Trotz der lieben Anrede bin ich quengelig. Wir müssen umsteigen, mit dem Gepäck auf einen anderen Bahnsteig zur elektrischen S-Bahn hasten. Mit ihr fahren wir durch Berlin zu einem anderen Bahnhof, Schlesischer Bahnhof, glaube ich, aber ich weiß es nicht genau, bin zu müde. Dort wieder in einem Gewimmel von Menschen runter und rauf auf einen anderen Bahnsteig, wo wir in einen Zug mit Dampflok einsteigen. Vorher musste Mutti einen Auskunftsbeamten suchen und ihn nach dem Anschluss fragen, derweil ich auf die Koffer aufzupassen hatte. Es war schrecklich für mich, als ich sie für ein paar Minuten in der Menschenmasse verschwinden sah. Dieses Gefühl von Verlorenheit kann ich nicht vergessen.
Nun befinden wir uns in einem Zug Richtung Allenstein. Weil ich als Kind einem Erwachsenen Platz machen muss, sitze ich wieder auf Muttis Schoß, höre das rhythmische, aber eintönige Klack, Klack — Klack, Klack der Räder, wenn sie über die Schienenstöße fahren (damals noch nicht zusammengeschweißt wie heute), das leicht melancholische, heisere Ööööööt, Ööööööt und das forsche Üüüüüüüüittt der Dampfpfeife und schlafe ein. Als ich wieder aufwache, ist es ungewöhnlich still im Abteil. Wo sind wir jetzt?
frage ich Mutti. Wir fahren gleich in den Polnischen Korridor.Der Polnische Korridor (zeitgenössisch auch Danziger Korridor oder Weichselkorridor, polnisch Korytarz polski) war ein 30 bis 90 km breiter Landstreifen, der zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Ostpreußen vom deutschen Kernland abtrennte und zu Polen gehörte.Siehe auch: Wikipedia.org[2]
antwortet sie.Kann der Zug in einen Korridor fahren?
frage ich erstaunt zurück und denke dabei an einen langen Flur. Sie erklärt mir die Bedeutung dieses Begriffs mit einfachen Worten, die ihr offenbar schwerfallen. Als ich auch eine gewisse besorgte Anspannung bei den anderen Fahrgästen verspüre, brennt sich dieser Begriff in meiner Erinnerung als etwas Ungutes ein. Die Sommerhitze drückt, und wieder übermannt mich der Schlaf.
Als ich wach werde, ist es heller Tag. Wir sind schon in Ostpreußen und den Korridor haben wir hinter uns
. klärt mich Mutti auf. Sie scheint erleichtert zu sein, obwohl wir noch ein- oder zweimal umsteigen müssen. Die Menschen in den Zügen sprechen breiter, gemütlicher. Sie sind durchweg anders angezogen. Lodenmäntel, grüne Hüte, derbe Schuhe und Stiefel beherrschen die Szene.
Nach unzähligen Stationen im schaukelnden Bummelzug erreichen wir am zweiten Tag unser Ziel, ein kleines Nest in Masuren, Hasenberg oder so ähnlich heißt es. Zwei freundliche Menschen, die ich noch nie gesehen habe, erwarten uns an einem ganz kleinen, einsamen Bahnhof.
Da sind Tante Milla und Onkel Michel!
ruft Mutti mir zu und begrüßt die beiden besonders herzlich. Sie kannte sie ja von früher, als ich noch im Storchbrunnen
Storchbrunnen
ist ein Warmwasserteich, wahrscheinlich im Himmel, in dem die ungeborenen Kinder schwimmen, ehe sie von einem Storch zu einer Familie geflogen und auf der Fensterbank abgelegt werden, wenn dort zur Belohnung ein Zuckerstück liegt. So wurde damals kleinen, unaufgeklärten Kindern, jedenfalls in meiner Heimat, die Herkunft der Babys erklärt, falls sie danach fragten. [1] schwamm.
Tante Milla ist, glaube ich, die jüngste der zahlreichen Schwestern meiner Großmutter mütterlicherseits, Oma genannt. Oma fuhr während des Ersten Weltkrieges 1914/18, als Opa vier Jahre lang als Kanonier an der Front kämpfte, oft für mehrere Monate in ihre Heimat Ostpreußen zu ihren Eltern und anderen Verwandten, um dem Hunger im Ruhrgebiet zu entgehen. Sie nahm natürlich ihre ersten drei Kinder Martha (1910), Hans (1913), Hildegard (1915) mit. Die beiden letzten, Amalie, genannt Malchen, und Gertrud wurden erst nach dem Krieg geboren. Meine Mutter ist die Älteste und konnte sich deshalb 1938 noch gut an alle und alles erinnern. Onkel Michel Luka ist Tante Millas Ehemann. Sie hatten damals eine 13jährige Tochter, Gertrud.
Marthchen, schön, dass du da bist!
wird Mutti im breitesten Dialekt, den ich je gehört habe, von den beiden herzlich empfangen. Und das ist Günterchen. Na, du kleiner Lorbass.
Freundlich und gütig streicheln sie mir über die blonden Haare. Irgendwie fühle ich mich trotz der Reisestrapazen sofort wohl. Mein Glück ist vollkommen, als ich in die wartende Kutsche mit den beiden Pferden davor einsteigen darf, und es mit einem lauten Uii!
des Onkel losgeht.
Nach ungefähr einer knappen Stunde Fahrt, meistens auf Sandwegen, erreichen wir Onkel Michels Bauernhof, der uns als Basisstation
während der vielen Besuche bei den zahlreichen Verwandten in verschiedenen Orten dienen sollte. Der Onkel kommandiert Brrr
, und die Rosse stehen. Wie alle Höfe dort, wird auch dieser von einem kräftigen Kettenhund bewacht, der jeden, der nicht zum Hof gehört, angsteinflößend anbellt und anknurrt. Onkels Felder, Äcker und Weiden sind von mittlerer Größe.Er bewirtschaftet alles selber mit Frau, Tochter und einem ständigen Knecht, wenn ich mich richtig erinnere. Nur bei besonderem Bedarf und in der Erntezeit, die wir gerade miterleben, heuert er Saisonkräfte und eine Lohndrescherei an. Auf seinem Hof hält er sämtliches Nutzvieh außer Schafe und Ziegen. Die riesige Schar von Federvieh ist Tantes Sache, Onkel ist zuständig für die Schweine und größeren Tiere, bis auf das Melken der zwölf Kühe zweimal täglich, da müssen alle ran. Sie stehen auf der Weide und werden jedes Mal in den Stall und wieder herausgetrieben. (Melkwagen sind noch nicht bekannt und wären auch wegen fehlender Motorisierung nicht praktisch.) Minna heißt die Leitkuh. Wohin sie geht, folgen ihr die anderen blind. Sie verteidigt ihre Weide gegen alles mit ihren Hörnern. Eines Tages pflücke ich Blumen auf der Weide, als ich in meinem Rücken ein kurzes Muhen höre. Im Umdrehen sehe ich Minna, den mächtigen Schädel schon gesenkt, mit erhobenem Schwanz auf mich zupreschen. So schnell wie noch nie renne ich weg und klettere über den rettenden Zaun.
Trotz der ruppigen Minna fühle ich Stadtkind mich inmitten der vielen Tiere richtig wohl und kann mich an ihrem Treiben nicht sattsehen. Gewarnt wurde ich, dem gewaltigen Stier, der immer im Stall bleiben musste, sowie den Pferden nahe zu kommen. Diesen Warnungen komme ich gerne nach, weil diese Wesen schon allein aufgrund ihrer Größe und ihres Aussehens in mir alle Alarmglocken schrillen lassen. Aber die drei kleinen Kälbchen, die im Stall stehen und aus dem Eimer gefüttert werden, sind so niedlich und friedlich, denke ich. Ich nähere mich dem ersten ganz arglos von hinten, um es zu streicheln. Es muss mich aber missverstanden haben und tritt mir kräftig in den Bauch. Damit hat es schlagartig
mein Verhältnis zu Tieren von einer etwas schwärmerischen auf eine realistische Basis gestellt. Fortan mache ich auch um den bissigen, flügelschlagenden Ganter, der so gefährlich wie eine Schlange zischen kann, und um den eitlen und cholerischen Hühnerhahn einen großen Bogen, weil auch sie einem fünfjährigen Menschenkind ernsthaft zusetzen können.
Unvergesslich bleibt mir die freie Sicht über die weite, üppige Landschaft mit den vielen Bächen, Flüssen und Seen. Das Wasser ist so sauber, dass es in manche Häuser mit Eimern als Trinkwasser geholt wird. Überall erblicke ich Störche: in ihren Nestern auf den Hausdächern, im Gelände ihre Beute fangen oder am Himmel segeln. Das habe ich noch nie gesehen. Die ungewohnte Mittagshitze von ungefähr 40° C müsste doch alle Lebewesen lähmen, denke ich. Aber da hüpfen munter Heupferdchen herum, sie sind mindestens dreimal so groß wie die in Westfalen. Ich fange eines und stecke es in einen Pappkarton und höre seinem lauten Rascheln zu. Am nächsten Tag überredet mich Mutti, es wieder frei zu lassen.
Wir besuchen viele Verwandten in vielen Orten. In Erinnerung behalten habe ich nur wenige Namen wie Ortelsburg, Mensguth, Samplatten. Einige Gehöfte besitzen am Ende ihres Namens noch den — ganz offiziellen — Zusatz Abbau
Siehe Lexikon der alten Wörter und Begriffe: Abbau
. Was das bedeuten soll, weiß ich bis heute nicht. Alle Menschen sind unglaublich freundlich und fürsorglich zu uns. Doch einige archaische Lebensweisen fallen mir, der eher städtisches Leben gewöhnt ist, auf:
Die Millionen von Fliegen in den Wohnungen werden ohne Gegenmaßnahmen stoisch ertragen.
Kleine Fischlein, die im Trinkwasser aus dem See versehentlich miteingeschleppt
worden sind, schaufelt man lächelnd mit der Hand aus dem Eimer und kocht mit dem Wasser ungerührt seinen Kaffee.
Ein Onkel trinkt zum Frühstück 20 rohe Hühnereier aus, weil er eine schwere Arbeit vor sich hat.
Ein anderer Onkel, der besonders viele Schweine züchtet, schärft morgens sein Taschenmesser mit großer Hingabe, treibt alle seine kleinen männlichen Ferkel in einen engen Verschlag auf dem Hof und kastriert sie mit Hilfe zweier Nachbarn. Die Ferkel quietschen schon vorher so fürchterlich, dass es laut durch das ganze Dorf schallt. Aber niemand nimmt Notiz davon. Der entscheidende Schnitt wird in einer Sekunde vollzogen, das Schweinchen laufen gelassen, und schon ist es still und wühlt mit der Nase im Dreck. Ich bin einigermaßen beruhigt und sage mir: Viel Lärm um (fast) nichts.
Eines Morgens — wieder in einem anderen Ort - beklagt sich Mutti über fast unerträglichen Juckreiz und eine rot zerstochene Bauchhaut. Verantwortlich sind die Flöhe in den Strohsäcken, die dort noch anstatt Matratzen verwendet werden. Die besonders vielen Katzen, die auf diesem Anwesen leben, schleppen das Ungeziefer wohl ein. Die Tante, in deren Haus es passiert ist, bedauert und begründet es mit besonders süßem Blut
, das meine Mutter wohl hätte und das die Flöhe so liebten.
Tatsächlich klagt niemand aus dieser Familie über irgendeinen Stich, und auch ich habe nur ganz wenige Rötungen auf der Haut. Am selben Tag reisen wir weiter.
Auf einem Gehöft in einem Ort mit Abbau
fanden wir das größte Freiluftklo vor: zehn Meter freies Gelände rund um eine Scheune. Woanders haben die stillen Örtchen
im Gegensatz dazu vier Wände und ein Dach, Wasserspülung ist allerdings noch nicht üblich.
Alte, Verwirrte, Behinderte werden nicht irgendwohin abgeschoben, sondern völlig in den Familien- und Dorfverband integriert und genießen — wenn nötig — totale Narrenfreiheit
. Zum Beispiel lebt in einer winzigen Nebenwohnung bei Tante Milla und Onkel Michel ein Mann, der dort sein Essen und frische Wäsche bekommt und den ganzen Tag nur hektisch herumläuft und dauernd laut mit sich selber spricht. Da er nicht ansprechbar ist, andere Menschen anscheinend nicht wahrnimmt, auch nicht arbeiten kann und harmlos ist, nimmt man im Allgemeinen keine Notiz von ihm. Nur manchmal ganz unvorhergesehen kommt er für eine Stunde in die gute Stube, spricht mit uns völlig normal und verschwindet plötzlich wieder in seine Welt
. Niemand kann oder will mir sagen, wer dieser Mensch ist.
Eines Nachmittags kommen besonders viele Menschen in der guten Stube zusammen. Sie diskutieren aufgeregt und besorgt. Worum es geht, verstehe ich noch nicht. Es muss aber etwas Wichtiges, Schlimmes vor sich gehen. Diesen Eindruck habe ich rein gefühlsmäßig. In Erinnerung bleiben mir nur Gesprächsfetzen über Gräueltaten an Deutschen,Kriegsgefahr, Einmarschieren, Konferenz des Führers mit anderen Staatsmännern, Schließung des Korridors. Erst viele, viele Jahre später wird mir bewusst, das es sich um Ereignisse im Zusammenhang mit dem Münchener Abkommen gehandelt haben muss. Leider habe ich von diesen lieben Verwandten nach dem Krieg nur zwei — einer mehr tot als lebendig — wiedergesehen. Alle anderen …, aber das ist ein so tragisches Kapitel, dass ich es nicht aufschlagen möchte. Außerdem kenne ich die schrecklichen Ereignisse nur von Berichten und herausgeschmuggelten Hilfebriefen und nicht aus eigenem Erleben. Letzteres ist jedoch ein Grundsatz der Erinnerungswerkstatt.
Irgendwann tritt Mutti mit mir die lange, mit vielem Umsteigen gespickte Heimreise an. Alles wie gehabt, nur in umgekehrter Richtung. Auf einem Bahnhof in Berlin, als wir auf den Zug Richtung Ruhrgebiet warten, geschieht etwas Unvergessliches. Mit rhythmischen Schritten — für mich klingt es wie tschumm, tschumm, tschumm, tschumm — quillt eine große Menschenmasse die Treppe hoch und ergießt sich über den Bahnsteig zwischen die wartenden Reisenden. Es sind alles junge, schlanke, riesige Männer in schwarzen Uniformen mit Koppel und Schulterriemen und schwarzen, blitzblanken Lederstiefeln, angezogen wie aus dem Ei gepellt. Einer von ihnen trägt an einer schwarzen, glänzenden Stange eine über und über reich bestickte Fahne, wie ich sie noch nie gesehen habe. Der Zug läuft ein, und ich denke mit leichtem Schaudern an das übliche Gedränge beim Einsteigen und den Kampf um einen Sitzplatz. Aber nichts dergleichen geschieht. Ich werde auf einmal von starken Armen in den Zug getragen und behutsam auf einen Fensterplatz gesetzt. Mutti darf ohne Gepäck, unbedrängt wie eine Prinzessin einsteigen, ein schwarzer Uniformarm wird ihr galant als Stütze angeboten. Ein anderer schwarzer Hüne trägt fast spielerisch unsere schweren Koffer und lässt sie ins Gepäcknetz schweben, dann sucht er sich einen freien Platz wie die anderen auch. Sie benehmen sich zurückhaltend, aber freundlich und äußerst diszipliniert. Nachdem sich mein Staunen einigermaßen gelegt hat, wage ich Mutti zu fragen: Was steht dort auf der großen Fahne?
Anerkennend antwortet sie: Leibstandarte Adolf Hitler.
Das Wort Leibstandarte
kenne ich noch nicht und frage nach. Mutti erklärt es mir kindgerecht damit, dass es Beschützer seien. Ich wundere mich, dass jemand Beschützer braucht, obwohl alle ihn so verehren, dass sie für ihn überall Fahnen heraushängen. Doch Mutti weist mich darauf hin, dass es überall auch böse Menschen gäbe. Hitlers Namen hatte ich schon mehrmals gehört, aber den Mann noch nie gesehen. Jetzt müsste die Gelegenheit günstig sein, um ihn zu Gesicht zu bekommen, denke ich, denn wo sich seine Leibstandartebe findet, da sollte auch er sein. Zeig mir, wo der Hitler sitzt.
raune ich leise Mutti zu. Aber wohl nicht leise genug, denn die Männer in unserer Nähe lachen. Der Führer sitzt in Berlin, muss regieren und hat viel zu tun.
bekomme ich zur Antwort.
Es dauert nicht lange, und alle Männer in schwarzen Uniformen steigen aus. Nach Kriegsende erfahre ich, dass einer der Grundsätze der SS war, sich in der deutschen Öffentlichkeit wie kinderliebe Edelinge
(Zitat einer Dokumentation) aufzuführen.
Endlich kommen wir in Langendreer an. Vati holt uns vom Bahnhof ab. Wie lange wir weg waren, merke ich jetzt erst richtig, denn ich fremdele ihm gegenüber ein bisschen. Aber das wird sich bald legen, denke ich. — Wie wahr.
[1] Storchbrunnen ist ein Warmwasserteich, wahrscheinlich im Himmel, in dem die ungeborenen Kinder schwimmen, ehe sie von einem Storch zu einer Familie geflogen und auf der Fensterbank abgelegt werden, wenn dort zur Belohnung ein Zuckerstück liegt. So wurde damals kleinen, unaufgeklärten Kindern, jedenfalls in meiner Heimat, die Herkunft der Babys erklärt, falls sie danach fragten.
[2] Der Polnische Korridor (zeitgenössisch auch Danziger Korridor oder Weichselkorridor, polnisch Korytarz polski) war ein 30 bis 90 km breiter Landstreifen, der zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Ostpreußen vom deutschen Kernland abtrennte und zu Polen gehörte. Der Korridor war keine politisch-historische Einheit; zwischen dem Polen zuerkannten Küstenabschnitt und der deutsch-russischen Grenze von 1914 lagen außer der bisherigen Provinz Westpreußen auch Teile des historischen Großpolen, die als Provinz Posen unter der Hoheit des Königreichs Preußen und des Kaiserreichs gestanden hatten.
Historisch gehörte das Gebiet nach dem Zweiten Frieden von Thorn 1466 bis zur Ersten Teilung Polens 1772 zu Polen. Die Bildung des Polnischen Korridors
, der geographisch gesehen ein Zerschneidungskorridor
durch das Deutsche Reich war, wurde nach dem Ersten Weltkrieg am 28. Juni 1919 mit der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles beschlossen. Die Übernahme der Gebiete durch Polen fand mit Inkrafttreten des Vertrags am 20. Januar 1920 statt.