Einmal König sein …
oder:
Gier frisst Hirn
Anfang der 1980er Jahre habe ich den Arbeitsplatz gewechselt, um etwas für mein berufliches Weiterkommen zu tun. Nach dem Beamtenrecht des Bundes war es so geregelt, dass man sich zuerst auf einen höherwertigen Dienstposten bewarb. Nachdem der Zuschlag erfolgt war, konnte auch eine Beförderung ausgesprochen werden. Dienstposten haben etwas mit der zu verrichtenden Arbeit, Besoldungsstufen mit dem Geld zu tun, das man für die Arbeit erhält.
So wechselte ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge vom Außen- in den Innendienst. Ich war gern im Außendienst und hatte dort unmittelbar mit unseren Kunden und ihren Wünschen zu tun. In meinem neuen Umfeld gab es diesen Kundenkontakt nicht mehr, dafür aber die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen anderer Dienststellen zur Bewältigung meiner Aufgaben. Besonders die enge Zusammenarbeit mit zwei der Damen aus der AnmeldestelleDamals musste man bei der Post einen Antrag auf die Einrichtung eines Telefons stelle. Dieser Antrag wurde von der Anmeldestelle für Fernmeldeeinrichtungen beim jeweiligen Fernmeldeamt bearbeitet.Siehe Anmerkung [Klick …] entwickelte sich im Laufe der Zeit. Obwohl räumlich an unterschiedlichen Standorten untergebracht, sahen wir uns auch gelegentlich in der Freizeit, nachdem wir uns bei einem Hoffest in der Stresemannallee persönlich kennengelernt und Sympathie für einander entdeckt hatten. Gespräche zwischen uns blieben nicht nur auf das Dienstliche beschränkt, sondern wurden immer persönlicher, je mehr Vertrauen wir zueinander entwickelten. So sprach Inge, so hieß eine der beiden Kolleginnen, einmal über ihre Scheidungserlebnisse. Ich hatte ebenfalls eine Ehe hinter mir und lebte nach der Scheidung nun allein in einer kleinen Einzimmerwohnung. Die Kosten für meinen Lebensunterhalt, Miete, Fahrtkosten, Kleidung, den Unterhalt des gemeinsamen Sohnes, der als fester Betrag jeden Monat an meine Ex-Frau überwiesen wurde, zehrten mein kleines Beamtengehalt fast völlig auf. Kinkerlitzchen
Von frz. la quincaillerie für ein wertloses Schmuckstück. Aus Quincailleries im Sinn von Flitterkram wurde im Volksmund Kinkerlitzchen
Siehe Lexikon der alten Wörter und Begriffe konnte ich mir nicht leisten, die hätten ein ordentliches Loch in mein Portemonnaie gerissen. So war bei mir am Ende des Geldes immer noch recht viel Monat übrig. In einem Gespräch mit Inge hatte ich das wohl auch einmal erwähnt.
In unserem Amt, dem Fernmeldeamt 4 in Hamburg, tat sich etwas. Ich hörte hinter vorgehaltener Hand von einem Spiel, das verschiedene Kollegen spielten und dass man bei diesem Spiel sehr viel Geld gewinnen konnte, es war die Rede von achttausend D-Mark. Seltsame Dinge gingen jetzt im Amt vor, da steckten Kollegen während der Dienstzeit die Köpfe zusammen und verhandelten offensichtlich Privates. Kam man in deren Nähe, löste sich die Zusammenkunft sofort auf. Hatten sie sich eben noch die Köpfe heiß geredet, gingen sie auseinander, als ob nichts gewesen wäre. Seltsames Verhalten konnte ich beobachten. Da kam eine Kollegin mit einem fast neuen Auto zum Dienst, von der ich wusste, dass sie ständig rote Zahlen schrieb. Ein anderer fuhr plötzlich ein nagelneues Motorrad, auch dieser Kollege hatte nie Geld besessen, war immer abgebrannt und bettelte Kollegen um Kredite an. Nun kam er daher wie Graf Koks von der Gasanstalt
, war unerwartet zu Geld gekommen, dass er sofort in die neue Maschine investierte. Du kannst auch König werden, flüsterte er mir einmal andeutungsweise ins Ohr.
Hellhörig geworden, erfuhr ich nach und nach von einem Königsspiel, welches in unserem Amt grassierte. Für einen Einsatz von eintausend D-Mark konnte man achttausend herausbekommen, ging das Gerücht. Eines Tages wurde ich sogar zu Inges Geburtstagsfeier nach Hause eingeladen und lernte dabei ihre Familie kennen. Aus der kollegialen Zusammenarbeit hatte sich ein zartes Pflänzchen von Freundschaft entwickelt. Du bist auch so ein armes Schwein
, sprach sie mich auf der Feier an und erzählte jetzt Genaueres von den Königsspielen, bei dem unsere Kolleginnen und Kollegen plötzlich zu so viel Geld kamen. Willst du nicht auch einmal König sein und mit achttausend D-Mark nach Hause gehen
, fragte sie, du kannst es doch wirklich gebrauchen
, sagte sie weiter. Ja, so einen Batzen Geld konnte ich allerdings gut gebrauchen, deshalb hörte ich mir an, was sie noch zu sagen hatte. Ich sollte am Wochenende in eine Wohnung in die Stresemannallee, fünfter Stock, Altbau, kommen und meinen Einsatz von tausend D-Mark nicht vergessen. Dort würde ich den König treffen, der an diesem Abend mit dem Höchstgewinn ausscheiden würde, um einem der Prinzen Platz zu machen.
Das ganze Spiel entpuppte sich als ein Schneeballsystem mit hierarchischer Struktur. Unten acht Bauern
, die sich mit je eintausend D-Mark in die Hierarchie einkauften, darüber vier Fürsten
, über denen zwei Prinzen
standen, und an der Spitze der Pyramide stand der König
. Der wurde von den neu hinzugewonnenen Bauern
ausgezahlt und einer der Prinzen
rückte nach. Beim Nachrechnen fiel mir auf, wie viele Bauern
gewonnen werden mussten, um irgendwann einmal an die Spitze der Pyramide vorzurücken. Danach erlosch mein Interesse an diesem Spiel schlagartig, das roch zu sehr nach Betrug.
Trotzdem machte ich mich an einem Samstagabend auf in die besagte Wohnung in der Stresemannallee. Die heutige Krönung des neuen Königs wollte ich mir nicht entgehen lassen. Allerdings hatte ich meinen Einsatz nicht dabei, tausend D-Mark hatte ich einfach nicht für so eine windige Sache übrig. Nach zögerlichem Klingeln an der Wohnungstür im fünften Stock öffnete mir die Bewohnerin und hieß mich herzlich willkommen. Ihr Ehemann sollte heute zum König gekrönt werden, mit meinem Geld natürlich. Mir wurden die anderen Bauern
vorgestellt, die Prinzen und Fürsten. Meine liebe Kollegin Inge war auch dort. Sie hatte sich mit einer anderen Kollegin die Bauernrolle geteilt, beide zusammen wollten mit je fünfhundert D-MarkDie Burg Eltz in Rheinland-Pfalz symbolisiert die deutsche Ritterlichkeit einsteigen und am Ende gemeinsam Königinnen
zu je viertausend D-Mark werden. Auch das ging, minimierte auf jeden Fall das Verlustrisiko.
Es wurde an diesem Abend viel erklärt und das ganze Prinzip noch einmal in rosigen Farben geschildert, wie risikoarm das Ganze war und wie viel man doch gewinnen konnte. Man müsste nur die ganze Familie und seinen Freundeskreis dafür begeistern, dann hätte man wieder genügend Bauern
und könnte unglaublich schnell zum König
aufsteigen. Dort, in der Altbauwohnung gab es für die Gäste Knabberzeug, Bier und Wein sowie viele aufschlussreiche Gespräche, eine richtige Party mit finanziellem Hintergrund. Angesichts meines leeren Portemonnaies hatte ich mich strategisch Richtung Flur und Ausgang positioniert, als im Laufe des Abends die Krönungsfeierlichkeiten begannen. In eine bereitgestellte Schale flatterten nun braune FünfzigerMännerporträt (nach dem Gemälde Bildnis des Hans Urmiller mit seinem Sohn von Barthel Beham, um 1525; das Gemälde hängt im Frankfurter Städel-Museum), auf denen der Jurist Hans Urmiller abgebildet war, die RückseiteDas Holstentor in Lübeck symbolisiert den deutschen Bürgerstolz zierte das Holstentor in Lübeck. Blaue HunderterDer Kosmograph Sebastian Münster (nach einem Gemälde von Christoph Amberger, Gemäldegalerie in Berlin) mit dem Bild des Kosmografen Sebastian Münster auf der Vorderseite, rückseitigDer Adler mit ausgebreiteten Schwingen (Bundesadler) symbolisiert das Staatsbewusstsein der Deutschen einen Adler zeigend, wurden in die Schale gelegt und sogar ein brauner TausenderMännerporträt (nach einem Gemälde von Lucas Cranach d. Ä., Königliche Museen der Schönen Künste in Brüssel), lange Zeit als der Magdeburger Domherr Johannes Scheyring betrachtet, möglicherweise jedoch eher der Mathematiker und Astronom Johannes Schöner. mit dem Konterfei des Magdeburger Domherrn Johannes Scheyring darauf. Auf der RückseiteDer Limburger Dom symbolisiert die romanische Baukunst in Deutschland. des Scheins war der Limburger Dom zu sehen, eine eindrucksvolle Banknote, die man nicht oft zu sehen bekam. Doch jetzt war die Reihe an mir, auch ich sollte, als letzter der neuen Bauern
, meinen Obolus spenden. Mir war es bis dahin einigermaßen gut gelungen, mich taub zu stellen, wenn ich zur Einzahlung aufgefordert wurde, aber das beförderte mich in der Reihenfolge der Bauern
schon an die letzte Stelle. Doch jetzt schlug mir der nackte Hass entgegen, als ich eröffnete, dass ich mich heute nur informieren wolle und gar kein Geld mitgebracht hatte. Meinen Rückzug hatte ich aber gut vorbereitet, ich stand für einen schnellen Abschied strategisch an der richtigen Stelle. Schnell hatte ich meine Jacke von der Garderobe greifen können und die Eingangstür geöffnet, während der neue König
mit wütendem Gesicht und drohender Gebärde sich durch die vielen Leute zwängte, um mich zur Rede zu stellen. Enge Flure können manchmal von Vorteil sein, besonders für den sich eilig entfernenden Gast. Schnell war ich im Treppenhaus, die Treppe abwärts und auf der Straße. König wollte ich nach dieser Erfahrung nicht mehr werden.
Das Ende vom Lied: Das zarte Band der Freundschaft zwischen der Kollegin Inge und mir zerriss an diesem Abend für immer. Außer dem dienstlich Notwendigen gab es keine persönlichen Gespräche mehr. Das Vertrauen zwischen uns war verloren gegangen. Das Gute daran aber war, dass meine Freunde und meine Familie noch mit mir sprachen. Nicht auszudenken, ich hätte sie alle als Bauern
rekrutiert. Mir fiel der zu dieser Situation passende Spruch ein, den meine Oma bestimmt jetzt so ausgesprochen hätte: Freunde in der Not gehen tausend auf ein Lot
. Meine Oma hatte eben viel Lebenserfahrung.
Das Königsspiel wurde kurz nach dieser Begebenheit in unserem Amt für illegal erklärt und als betrügerisches Schneeballsystem
kurzerhand verboten. Bei Bekanntwerden weiterer Aktivitäten wurde allen Bediensteten mit einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft und schwerwiegenden disziplinarischen Konsequenzen gedroht. Ob die beiden Kolleginnen als halbe Bäuerinnen
in der Hierarchie noch weiter aufsteigen konnten, habe ich nicht in Erfahrung bringen können, auch nicht, ob der durch meine Schuld ungekrönt gebliebene König
noch an das große Geld gekommen ist.
Anmerkung zur Anmeldestelle:
Es gab damals, Anfang der 1980er Jahre noch keine SMS, keine E-Mails und kein Internet, aber es gab Telefone. Die hießen offiziell Fernsprechapparate und waren Teil eines sogenannten Fernsprechhauptanschlusses, den es in den Wohnungen und in Büros und in den Telefonzellen auf der Straße gab. Zuständig für die körperlose Übertragung von Sprache, aber auch von Text und Daten, war die Deutsche Bundespost, welche die analogen Fernsprechhauptanschlüsse samt Bedienungsanleitung ins Haus brachte. Bis man allerdings ein (Fernsprech-)Teilnehmer oder eine Teilnehmerin wurde, dauerte es seine Zeit.
Den Antrag dafür bearbeitete die Anmeldestelle für Fernmeldeeinrichtungen des zuständigen Fernmeldeamtes. Es wurden Haupt- und Nebenanschlüsse angemeldet, aber auch sogenannte Sprechapparate besonderer Art, Zusatzeinrichtungen sowie Nebenanschlussleitungen, seltener posteigene Stromwege und internationale Mietleitungen. Die Sprechapparate der besonderen Art
waren Telefone mit Schauzeichen oder Rollengebührenanzeigern, die ähnlich funktionierten wie die Kilometerzähler bei uralten Autos. Zusatzeinrichtungen waren beispielsweise Zweithörer zum – legalen – Mithören, Telefonsteckdosen und Telefonklingeln sowie längere Telefonanschlussschnüre (über zwei Meter lang). Für all diese Zusatzeinrichtungen musste man eine einmalige Anschlussgebühr und einen monatlichen Beitrag entrichten.