Das Haus wird zu klein
Ende der 1950er Jahre beschlossen unsere Eltern, das Siedlungshaus, in dem wir wohnten, durch einen Anbau zu vergrößern. Die bauliche Veränderung sollte dabei vor allem meiner Schwester und mir zugutekommen, denn das einzige Kinderzimmer des Hauses hatte eine Grundfläche von gerade einmal sechseinhalb Quadratmetern, die wir uns zu zweit teilen mussten. Dabei waren wir vergleichsweise noch gut dran, denn in den Nachbarhäusern, die alle den gleichen Grundriss hatten, lebten Familien mit bis zu acht Kindern, was nach dem Krieg keine Seltenheit war. Unsere unmittelbaren Nachbarn, es handelt sich um ein Doppelhaus, hatten vier Kinder. Man muss seine Ansprüche schon sehr zurücknehmen, damit sechs Personen in so einem kleinen Haus auf 65 Quadratmetern Wohnfläche miteinander leben können. Wir haben uns damals darüber belustigt und gewitzelt, dass wohl die Nachbarskinder nacheinander einzeln ins Bett gebracht und, wenn sie eingeschlafen waren, an der Wand übereinander gestapelt wurden. Anders konnten wir uns das kaum vorstellen, denn mehr als zwei Betten konnten im Kinderzimmer nicht untergebracht werden; wegen der Dachschrägen ließen sich auch keine Etagenbetten stellen.
Mit Beginn des Jahres 1960 war der geplante Anbau das beherrschende Thema meiner Eltern. Es wurden Bauzeichnungen angefertigt und ein Bauantrag eingereicht, die Finanzierung bei der Bank beantragt, das Haus wurde mit einer Hypothek belastet. Ein Bauunternehmer wurde für die Maurerarbeiten gesucht, die übrigen Arbeiten wollte mein Vater mit der Unterstützung seines Bruders selber erledigen, so reichte das aufgenommene Geld gerade, um das Material und die Leute zu bezahlen.
Im September ging es dann los und der Maurermeister Scheithauer rückte mit seinem Hilfsmann an. Er brachte seine Gerätschaften auf die Baustelle. Dort, wo im vergangenen Jahr noch unser schöner Kirschbaum gestanden hatte, wurden jetzt die Fundamentgräben ausgehoben. Im August 1959Lesen Sie, wie ich das Ende des Sommers 1959 erlebte.[Klick ...] wurde der Kirschbaum von einer Windhose erfasst, wie ein Streichholz umgeknickt, einmal um sich selbst gedreht, angehoben und beiseite geworfen. Damit war der Weg für einen Anbau frei. Die Firma Scheithauer war als Einmannbetrieb schon auf anderen Baustellen in unserer Siedlung tätig gewesen und hatte sich einen guten Ruf als preiswert und gut
erworben. Jetzt wurde Beton von Hand gemischt und mit allerlei zerkleinerten Betonresten, Gehwegplatten und Steinen gestreckt, dann damit die Fundamentgräben verfüllt.
Beim Aushub wurde ein wenig gemogelt und der Anbau gegenüber der genehmigten Bauzeichnung und um einen halben Meter nach Westen verbreitert. Das wird die Baupolizei schon nicht merken
, meinte mein Vater. Eine Woche später kamen die Steine per Lastwagen. Werden heute Baumaterialien schonend per Kran auf einer Europalette an der Straße abgestellt, machte man das in den 1960er Jahren ganz anders. Die Mauersteine aus Kalksandstein wurden auf einem Lastwagen gebracht und einfach vor die Tür gekippt. Dabei ging auch einiges zu Bruch, aber man tröstete sich, es werden ja schließlich auch halbe Steine gebraucht
. Der Maurer, in Kordhose und weißer Jacke, hatte einen Hilfsmann dabei, der als Gastarbeiter
nach Deutschland gekommen war. Er war in Spanien zu Hause und sah so aus, wie ich mir Sancho Panza
aus Don Quijote
vorstellte, mit einem runden, freundlichen Gesicht. Der arme Kerl rannte den ganzen Tag schwitzend hin und her, brachte die Steine auf das Gerüst, mischte den Mörtel und füllte die Mörtelbottiche, damit der Maurermeister ohne Leerlauf mauern konnte. Schwere Arbeit, die er dort leistete. Aber wie sein Chef auf unsere Toilette gehen durfte er nicht. Da hatte mein Vater etwas dagegen, die haben doch alle Bienen
, begründete er sein Verbot. Auf meine Nachfrage, was er mit Bienen
Mein Verdacht aber, er könnte mit Bienen
Filzläuse (Schamläuse) gemeint haben, blieb. Die als Kind empfundenen Ungerechtigkeiten bleiben oft ein Leben lang in Erinnerung. meinte, gab es, wie so oft, keine Antwort. Da habe ich mich für meinen Vater, seine Vorurteile und sein Verhalten geschämt.
Als der Bau so weit hoch gemauert war, dass der Dachstuhl gebaut werden konnte, rächte sich der halbe Meter, der in der Breite dazu gemogelt und in der Zeichnung nicht mit einem neuen Maß angegeben wurde. Der bestellte Eisenträger, der die Decke abstützen sollte, war zu kurz geliefert worden. Was nun? Zurückgeben und neu bestellen, dafür reichte das Budget nicht, solche Träger waren zu teuer. Kein Problem für den Maurer, der Schornstein wurde so verbreitert, dass der zu kurze Träger dort sein Auflager fand, was mir, viele Jahre später, bei der Sanierung des Hauses einiges Kopfzerbrechen bereitete, weil ich den Schornstein komplett abgebrochen habe.
Den hölzernen Dachstuhl bauten mein Vater und sein Bruder in Eigenhilfe auf. Das hatten sie 1957 schon einmal gemacht, als für Oma Frieda ein kleines HäuschenLesen Sie auch den Bericht über Omas Stübchen
, wohnen im Behelfsheim, Wohnungsbau nach dem Zweiten Weltkrieg., als Stall
genehmigt, auf dem Grundstück errichtet wurde. Dann folgte das obligatorische Richtfest, mit einem Richtkranz aus Grünzeug und mit bunten Bändern verziert, der oben am Giebel an einem Galgen befestigt wurde. Den Richtkranz in Form einer Krone hatte meine Mutter eine Woche vor dem Fest mit Tannengrün aus dem eigenen Garten gebunden. Nach Ausbringen des Richtspruches ließ der Baumeister sein Schnapsglas in der Tiefe zerschellen, dann luden der Maurer und sein Hilfsmann ihr Werkzeug und Material auf den Kleinlaster und zogen ab. Die Restarbeiten wurden, der Kosten wegen, wieder in Eigenhilfe erledigt. Fenster aus Holz wurden eingebaut, das Fensterglas wurde vor Ort passend zugeschnitten und mit Kitt in die Fensterrahmen eingepasst. Der Anbau bekam ein Dach aus roten Tonziegeln, die Wände wurden innen und außen mit Mörtel geputzt. Inzwischen war es November und schon recht kalt geworden, aber der Rohbau stand.
Mit ganzer Kraft wurde nun am Innenausbau gearbeitet und der Fußboden verlegt. Der Mutterboden zwischen den Fundamenten war bereits durch eine Lage Sand ersetzt worden. Auf dem Sand wurde als Nächstes eine Schicht Schlacke verteilt. Die Schlacke von ausgebranntem, entgasten Koks, stammte aus der Kokerei am Hamburger Grasbrook und wurde damals als isolierender Baustoff eingesetzt. Auf die Schlacke legte man die tragenden Balken und nagelte darauf die Fußbodendielen aus Red Pine, einer schön gemaserten, sehr harten Nadelholzart. Für die Heizung baute uns der Ofensetzer auf dem Fundament neben dem Schornstein einen Hamburger Kachelofen aus Schamottesteinen und braunen Kacheln auf. Für die Beleuchtung des neuen Wohnzimmers waren flache Kabel unter Putz verlegt worden, für die drei Wandlampen mit Messinggestell und den typischen Tütenlampen jener Zeit aus mattem Glas. Die Wände wurden mit Kalk-Leimfarbe in rosé und hellgrau gestrichen, tapezieren ließen sie sich noch nicht, weil zu viel Feuchtigkeit in den Steinen steckte. Der Ofen diente nun als Bautrockner und wir wurden zu Trockenwohnern
Frei nach Zille; siehe unser Lexikon der alten Wörter und Begriffe..
Aber Weihnachten feierten wir schon im neuen Wohnzimmer, meine Schwester hatte jetzt ihr eigenes Zimmer, ich das Kinderzimmer für mich allein, und auch die Eltern besaßen wieder ein eigenes Schlafzimmer. Acht Jahre später wohnten die Eltern dann allein in dem Haus, das sie eigens für ihre Kinder vergrößert hatten. Wir Kinder waren beide ausgezogen.