Omas Stübchen
oder:
Wohnungsbau nach dem Zweiten Weltkrieg
Hamburg hat während des Zweiten Weltkrieges sehr unter den Bombenangriffen gelitten und durch die erklärte Absicht des Bomber Command Arthur Harris, die Stadt auszuradieren
weitgehend sein bis dahin bekanntes Gesicht verloren. Besonders die Stadtteile Barmbek, Rothenburgsort, Eilbek und Hamm hat es ab Ende Juli 1943 während der sogenannten Operation GomorrhaOperation Gomorrha war der militärische Codename für eine Serie von Luftangriffen, die von der britischen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg beginnend Ende Juli 1943 auf Hamburg ausgeführt wurden. Es waren die damals schwersten Angriffe in der Geschichte des Luftkrieges. Befohlen wurden diese Angriffe von Luftmarschall Arthur Harris, dem Oberbefehlshaber des Britischen Bomber-Command.Siehe auch: Erinnerungswerkstatt, Historische Hintergründe -
schwer getroffen. Als nach Kriegsende die Trümmer geräumt wurden und der Wiederaufbau begann, erlebten besonders Rothenburgsort und Hamm eine Transformation. Aus ehemaligen Wohngebieten wurden Industrie- und Geschäftsviertel. Wer die Stadtteile Barmbek und Eilbek heute mit offenen Augen durchstreift, findet an den typischen Wohnhäusern aus rotem Backstein Tafeln mit der Aufschrift: Operation Gomorrha
Zerstört 1943 * 1957 Aufgebaut
.
Die vielen Menschen, die ihr Zuhause verloren hatten lebten in Nissenhütten und Ruinen. Als Mitte der 1950er Jahre Geld aus dem European Recovery Program
, im Volksmund MarshallplanDer Marshallplan, offiziell European Recovery Program (kurz ERP) genannt, war ein großes Wirtschaftswiederaufbauprogramm der USA, das nach dem Zweiten Weltkrieg dem an den Folgen des Krieges leidenden Westeuropa zugute kam. Es bestand aus Krediten, Rohstoffen, Lebensmitteln und Waren.Siehe Wikipedia.org
genannt, zur Verfügung stand, begann in Hamburg der Wiederaufbau der Stadt mit einem neuen Gesicht. Lange Zeit verhinderte die englische Nachkriegsverwaltung jeglichen Zuzug in die Stadt, wer nach Hamburg wollte, musste Arbeit und Wohnraum nachweisen können, um von den Behörden eine Zuzugsgenehmigung zu erhalten. Viele Hamburger bauten sich in den Kleingartenanlagen der Stadt aus dem noch brauchbaren Material, das aus dem Trümmerschutt geborgen wurde, ein BehelfsheimDie Idee war nicht neu, am 9. September 1943 wurde auf Erlass Adolf Hitlers das Deutsche Wohnungshilfswerk eingerichtet, um auf verschiedene Art Wohnraum für ausgebombte deutsche Volksgenossen
zu schaffen. Unterstützt wurde der Ausbau von Dachgeschossen und bestehenden Gartenlauben in Behelfswohnungen, die Sicherung bombengeschädigter Häuser durch den Aufsatz von Notdächern, sowie die Errichtung von Behelfsunterkünften für Bombengeschädigte
(BfB), einem zweigeschossigen normierten Barackenbau für 16 Familien nach einer Entwicklung von Ernst Neufert. Robert Ley, der gleichzeitig Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Leiter der Deutschen Arbeitsfront und Reichswohnungskommissar (RWK) war, erhielt den Auftrag, das DWH einzurichten und eine Organisationsstruktur zu schaffen. Das Behelfsheim des DWH, auch Reichseinheitstyp genannt, wurde in der Deutschen Akademie für Wohnungswesen e. V.
(DAW), die dem RWK als Forschungsinstitut angegliedert war, entwickelt. Der Volksmund sprach von sogenannten Ley-Häusern
.Siehe auch Wikipedia.org - Deutsches Wohnungshilfswerk. Etliche wohnten auch in behelfsmäßig errichteten Barackenlagern und NissenhüttenNissenhütte (engl. Nissen hut) ist die Bezeichnung für eine von dem kanadischen Ingenieur und Offizier Peter Norman Nissen im Jahr 1916 entwickelte Wellblechhütte in Fertigteilbauweise mit halbrundem Dach und 40 m² Grundfläche, einer Länge von elfeinhalb Metern und etwa fünf Metern Breite.
Siehe Artikel in Wikipedia.org
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-19000-0733/
CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de,
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5422298 , die von der englischen Besatzungsmacht zur Verfügung gestellt wurden.
Die Zeit vor 1950 kenne ich nur vom Hörensagen
, ich wurde erst vier Jahre nach Kriegsende geboren und hatte das Glück, ab September 1950 in einem neugebauten Siedlungshaus aufwachsen zu dürfen. Mein Vater war 1945 bei Plön in englische Kriegsgefangenschaft geraten und hatte nach seiner Entlassung in Hamburg bei der Schutzpolizei eine Anstellung bekommen. Eigentlich hatte er sich als Techniker beworben, da er bei der U-Boot-Waffe zum Funker ausgebildet worden war, wurde aber für den Polizeidienst angenommen. Die Unterkunft in der Kaserne Alsterdorf reichte jedoch nicht, um die Familie nachholen zu dürfen, die zunächst in Zarpen und Reinfeld einquartiert worden war. Die Gemeindeverwaltungen, zum Beispiel in Schleswig-Holstein, haben damals für die vielen obdachlosen Flüchtlinge aus Böhmen, Mähren, Schlesien und Ostpreußen, sowie für die ausgebombten Bürger Hamburgs bestehenden Wohnraum beschlagnahmt und die Menschen dort untergebracht, was natürlich zu Spannungen unter den zwangsweise eingerichteten Wohngemeinschaften
führte.
Als mein Vater vom Bauvorhaben der Nordwestdeutschen Siedlungsgesellschaft hörte, dass eine neue Siedlung am Stadtrand in Hamburg-Langenhorn gebaut werden sollte, bewarb er sich als neuer Siedler bei der Baugesellschaft um eine Siedlerstelle und hatte Glück. Am 1. September 1950 hatte die Familie wieder Wohnraum und erhielt von der englischen Verwaltung eine Zuzugsgenehmigung nach Hamburg. Das kleine Siedlungshaus hatte im Erdgeschoss eine Gute Stube
, die nur sonntags und wenn Besuch kam, geheizt und bewohnt wurde, eine Küche mit Gas- und Kohleherd, einen Flur und eine Waschküche. In der Waschküche stand ein kohlebefeuerter Waschkessel, in dem das wöchentliche Badewasser für die ganze Familie und Wasser für die Wäsche erhitzt werden konnte. Gebadet wurde dann in einem Zinkzuber, der auf den Zementfußboden gestellt wurde. Außerdem gab es hier noch eine Einrichtung für menschliche Bedürfnisse, bestehend aus einem Holzbrett mit Deckel, darunter stand der Goldeimer
. Und daneben ein Zinkeimer mit Torfmull zum Nachwerfen
, um die Geruchsbelästigung möglichst gering zu halten. War der Eimer voll, wurde sein Inhalt als Dünger
im Garten vergraben. Das Obergeschoss des Hauses bestand aus Treppenhaus und zwei Zimmern, dem Elternschlafzimmer und einem kleinen Kinderzimmer von rund acht Quadratmetern, in dem meine Schwester und ich schliefen. Eine Heizmöglichkeit gab es nur im Elternschlafzimmer, dort stand ein kleiner Kanonenofen, den ich allerdings nie im Betrieb erlebt habe.
Soviel zu den Verhältnissen in diesen äußerst schlicht errichteten Siedlungshäusern, aber wir waren froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Vielen Menschen ging es zu der Zeit noch weitaus schlechter. Meine beiden Großmütter mussten aber vorerst noch in ihren Zwangseinquartierungen in Zarpen und in Reinfeld bleiben, eine Unterbringung im neuen Haus war wegen mangelnden Platzes nicht möglich. Meine Oma Martha, die in Reinfeld im Forsthaus einquartiert worden war, bekam aber 1954 in der Karpfenstadt eine eigene Wohnung, was die Unterbringungslage entspannte. Oma Frieda in Zarpen wohnte weiterhin als Einquartierung bei Bauer Moll. Sie war als junge Frau mit siebenundzwanzig Jahren an spinaler Kinderlähmung erkrankt und hatte davon ein gelähmtes Bein behalten. Es war der Wunsch meiner Mutter, sie in das neue Haus nach Hamburg-Langenhorn zu holen, damit sie sich um ihre Mutter kümmern konnte. Unter den momentanen Platzverhältnissen war das aber nicht möglich, eine Lösung musste gefunden werden.
Die ergab sich 1955, als die Nordwestdeutsche Siedlungsgesellschaft einen Architektenplan für ein Stallgebäude innerhalb der Siedlung freigab. Nun musste nicht jeder Siedler einen eigenen Architekten bezahlen, es gab einen Standardbauplan mit Statik und allem, was für eine Baugenehmigung auf dem Grundstück nötig war. Der Bezug eines Siedlungshauses war nämlich mit Bedingungen verknüpft. Jeder Siedler musste sich verpflichten, auf dem zirka eintausend Quadratmeter großen Grundstück Obst und Gemüse anzubauen und Kleintiere zu halten. Mit diesen Maßnahmen versuchte die Verwaltung, die Versorgungslage der Bevölkerung zu verbessern, indem sie die Siedler zur Selbstversorgung verpflichtete. Hühner, Enten, Gänse, Kaninchen, aber auch Schweine und Ziegen wurden von den Siedlern gehalten, um so die Versorgung mit Eiern und Fleisch sicherzustellen. Aus diesem Grund wurden die Pläne zur Errichtung eines Stalles freigegeben und mein Vater reichte eine Baugenehmigung ein. Am liebsten wäre es ihm damals gewesen, mit dem Nachbarn zusammen zwei Gebäude Wand an Wand direkt auf der Grundstücksgrenze zu errichten, genau so wie das Siedlungsdoppelhaus gebaut war. Aber der Nachbar hatte viele Ausflüchte und wollte erst später anbauen. 1957 kam die Baugenehmigung per Post und der Neubau konnte beginnen.
Die Baukosten belasteten das Familienbudget enorm, zumal mein Vater allein für das Familieneinkommen sorgte und als kleiner Beamter nicht gerade viel verdiente. Die ersten, die sich in den 1950er Jahren ein Auto kauften, waren Bauhandwerker aufgrund des Baubooms, und die gutbezahlten Maurer waren die ersten, die sich sogar einen Mercedes leisten konnten. Einer der Gründe, warum für solche Kleinbauwerke keine Handwerker zur Verfügung standen, waren die übervollen Auftragsbücher der Baufirmen. Der zweite war das dafür fehlende Geld. Auch der Bruder meines Vaters, Onkel Ullrich, war ein geschickter Handwerker. Beide zusammen haben dann gemeinsam die Fundamentgräben ausgeschachtet und die Fundamente geschüttet. Einen Betonmischer, wie er heutzutage auf den Baustellen zu sehen ist, hatten sie damals nicht zur Verfügung, alles musste mit Hand und Schaufel gemacht werden. Ich, als Achtjähriger empfand das als großartiges Spiel und habe mich überall nützlich gemacht
– oder auch im Wege gestanden; früh übt sich, was ein Siedler werden will.
Im Sommer wurde das Bauholz für den Dachstuhl geliefert und meine Mutter flocht aus Draht und Tannenzweigen, die wir extra dafür aus dem Tangstedter Forst holten, einen Richtkranz. Der wurde an einer Dachlatte über dem fertigen Dachstuhl aufgehängt und seine bunten Bänder aus farbigem Krepppapier flatterten lustig im Wind. Als der Innenausbau begann, hatten wir sommerliche Temperaturen um 30 Grad, der Wandputz wurde viel zu schnell trocken und musste immer wieder mit Wasser benetzt werden. Das Häuschen hatte zwei Zimmer bekommen, das größere sollte die Schlafkammer für meine Oma Frieda werden, im kleineren Raum sollten unsere Hühner ihr neues Zuhause erhalten. Die Balkenlage der Geschossdecke in Omas Stübchen
wurde mit Brettern verschalt, darauf wurde eine Strohmatte genagelt. Ein Nachbar aus der Siedlung hatte das Wissen, wie man eine Gipsdecke herstellt. Von irgendwoher brachte mein Vater dann zwei gebrauchte Holztüren mit und baute sie als Doppeltür, als Innen- und Außentüre ein. Zum Ende des Sommers schleppte er mit einem Kanonenofen an, denn das Stübchen sollte im Winter auch beheizt werden können.
Am 21. August, gleich nach der Bauabnahme, fand der Umzug statt. Als Erstes zogen die Hühner aus dem kleinen Anbau des Hauses in ihr neues Quartier im Stall um. Mein Vater hatte eine ebenerdige Luke eingebaut, sodass keine aufwendige Hühnerleiter wie bisher mehr nötig war, damit die Tiere ins Freie, in die Voliere gelangen konnten. Der bisher als Hühnerstall genutzte Raum wurde weiß gekalkt, mit Stellagen und Abtrennungen ausgestattet, denn hier sollte zukünftig das Brennmaterial für den Winter gelagert werden. Dann hieß es für Oma Frieda Abschied von Familie Moll in Zarpen zu nehmen. Tagsüber hielt sie sich jetzt bei uns im Haus auf, zur Nacht, oder wenn mal im Hause dicke Luft
war, ging sie in ihr neugebautes Stübchen
. Dort hatte sie ihr Bett, Tisch und Stuhl, ein Radio, den Vogelkäfig mit dem Wellensittich Buttje
und einen bequemen Sessel. Zum Waschen oder Baden musste sie aber ins Haus, einen Wasseranschluss oder gar eine Toilette war für das neue Häuschen nicht vorgesehen und auch nicht genehmigt worden. Die Baugenehmigung wurde nur zur Errichtung eines Stallgebäudes erteilt, damit war eine Nutzung als Wohnraum ausgeschlossen.
Eines Tages im Jahr darauf, Oma hatte sich bei uns gut eingelebt, kamen zwei Herren von der Baubehörde, stellten sich als Baupolizei
vor und verlangten den neu errichteten Stall zu begutachten. Die verbotene, beziehungsweise nicht erlaubte Nutzung war offensichtlich, die Herren waren aufgrund einer Anzeige aus der Nachbarschaft gekommen und machten nun zur Auflage, diese unerlaubte Nutzung sofort einzustellen. Eine zweite Begutachtung wurde schriftlich vorher angekündigt und meine Eltern verwandelten Omas Stübchen
am Tage zuvor in einen Abstellraum, indem sie Bett, Tisch und Stuhl übereinander gestapelt an die Wand schoben. Damit waren die Herren Baupolizei
zufrieden und nach Zahlung eines geringen Bußgeldes wurde das Verfahren eingestellt. Ein Nachbar erzählte, dass vier Häuser weiter, dort war ebenfalls so ein Stall gebaut worden, der Vater der dort wohnenden Siedlerin wieder ausziehen musste, weil ein neidischer Nachbar sie bei der Baubehörde wegen nicht genehmigter Nutzung eines Stalles angeschwärzt hatte. Als die Herren zur Überprüfung bei ihr auftauchten, zeigte sie mit dem Finger und sagte die machen das doch auch
. So kam es, dass die Baupolizei
auch auf Omas Stübchen
aufmerksam gemacht wurde. Der Nachbarin hatte es aber nicht geholfen, dass sie in ihrem Frust auf andere gezeigt hatte. Wie sie die Sache überstanden hat, weiß ich nicht, ich meine aber mich zu erinnern, dass später dort im Ställchen auch wieder jemand gewohnt hat. Als meine Oma 1967 starb, wurde aus ihrer Schlafstube ein Vorratsraum. Hühner hatten meine Eltern nicht mehr, sodass der Stall zu einer Holzwerkstatt umgebaut werden konnte, in der mein Vater nach seiner Pensionierung tischlernd und drechselnd seinen Hobbys nachging.
1960 wurde das Haus vergrößert, es wurde angebaut. Meine Schwester bekam ein eigenes Zimmer und ich durfte das kleine Kinderzimmer ganz für mich allein bewohnen. Der Stall war damit weder für meine Schwester noch für mich jemals eine Option für ein eigenes Zimmer gewesen. Aber das ist eine andere Geschichte…