Rettungseinsatz
Ende der 1970er Jahre entdeckte ich für mich die Welt des Hochgebirges. Aus anfänglich eher gemächlichen Wanderurlauben wurden mit der Zeit Touren im Fels und Eis der Westalpen. Einige Erfahrung hatte ich bereits bei diesen Wanderungen gesammelt, aber es lockten mich die hohen Gipfel und so trat ich 1985 dem Deutschen Alpenverein, der Sektion Hamburg bei. Ich dachte, dabei Kenntnisse im Umgang mit Seilen und anderen Sicherungsmitteln zu erwerben und eine Kletterausbildung zu erhalten. Von da an war ich wohl fast jedes Wochenende im Harz oder Weserbergland auf einer der Alpenvereinshütten zu finden, die von der Hamburger Sektion dort unterhalten wurden.
War die Hütte bei Hessisch Oldendorf eher gemütlich und kuschelig, mit Ofenheizung und Gemeinschaftslager im Obergeschoss, hatte die Harzhütte etliche Zimmer auf drei Etagen und wirkte etwas kühler. An vielen Wochenenden wurden von den Vereinsmitgliedern Kletterveranstaltungen organisiert. Erfahrene Kletterer und Bergsteiger nahmen uns Neulinge unter ihre Fittiche, stiegen in den Felsen voran und ließen uns Anfänger gut an Seilen gesichert nachsteigen. So erlernte auch ich nach und nach das Felsklettern und wurde dabei immer sicherer. Die geografische Lage der Harzhütte in Silbernaal, nahe Clausthal-Zellerfeld bescherte uns nach einem langen, erfolgreichen Klettertag noch besondere Abenteuer.
Vor etwa 300 bis 400 Millionen Jahren, im Devon-Zeitalter befand sich an der Stelle, wo sich heute unsere Mittelgebirge Weserbergland und Harz erheben, ein tropisches Flachwassermeer, in dem Korallen zu Riffen heranwuchsen und die Schalen von Meereslebewesen sich teils zu gewaltigen Sedimentschichten ablagerten. Im Tertiär, also vor 65 Millionen Jahren drückten heiße, magmatische Gesteine an die Oberfläche und ließen den Harz entstehen. Weitere Hebungen riegelten das Flachwassermeer vom Ozean ab und ließen es im Laufe der Zeit eindunsten. Salze lagerten sich ab und bildeten Schichten von mehreren tausend Metern Mächtigkeit. An den flachen Ufern des Südharzes bildeten sich die gewaltigen Zechsteinschichten (zäher Stein) in mehreren Zeitabschnitten. Es wurden Kupferschiefer, Stein- und Kalisalze und Anhydrit abgelagert.
Fährt man heute die Schnellstraße von Seesen kommend, an Ostrode vorbei nach Düna, einem kleinen Dorf am Harzsüdrand, sieht man die weißen Felsen aus Anhydrit am Straßenrand aus dem Boden herausragen. Dieser Stein verwittert unter Aufnahme von Wasser zu Gips und gewinnt dabei bis zu fünfzig Prozent seines ursprünglichen Volumens. Durch die gewaltigen Sprengkräfte entstehen Risse und Klüfte im Gestein, Wasser kann nun ungehindert eindringen und den Gips auswaschen. So entsteht in kürzester Zeit eine Karstlandschaft mit ihren Höhlensystemen und unterirdischen Flussläufen, Expresskarst – eben.
Dieser kleine Ausflug in die Geologie soll verständlich machen, was wir nun am Abend am Südrand des Harzes, in Düna suchten. Von den Erfahrenen des Alpenvereins war ich vorgewarnt worden, im Hamburger Hafen gab es einen Händler, der ausgediente Militärkleidung verkaufte. Dort hatte ich für meine damalige Freundin und für mich je einen Overall aus reißfestem Baumwollstoff in der entsprechenden Größe gekauft. Als weitere Ausrüstung hatten wir noch unsere Steinschlaghelme und Taschenlampen, später sogar Gaslampen, die von einem Acetylen-Entwickler versorgt wurden.
Als unsere Gruppe abends nach einem langen Klettertag sich mit der beschriebenen Ausrüstung auf den Weg machte, um der Jettenhöhle einen Besuch abzustatten, waren wieder einmal einige Neulinge dabei, die dieses Vergnügen noch nicht hatten.
In Düna angekommen, es wurde dunkel, zogen wir unsere Bundeswehrkombis an, setzten die Helme auf und kontrollierten die Lampen. Nach knapp einem Kilometer waren wir dann im Gelände. Unsere Führer kannten einen besonderen Weg in die große Jettenhöhle. Vor langer Zeit gab es dort noch eine zweite Höhle. Das Wasser hatte dafür gesorgt, das diese zu groß und damit instabil wurde. Irgendwann in der Vergangenheit stürzte das Höhlendach ein und es blieb nur eine kleine Kluft, die kleine Jettenhöhle, übrig.
Durch diese Kluft war es möglich, eine Schluf-StreckeSchluf ist ein Begriff aus der Speläologie. Er bezeichnet eine Engstelle im Gestein einer Höhle oder in einem Höhlensystem, die ein Höhlenforscher in der Regel nur auf dem Boden kriechend passieren kann. Diese Fortbewegung wird als Schlufen
, oder Schliefen
bezeichnet. zu erreichen, die ebenfalls in die große Höhle führte. Wir wurden vor die Wahl gestellt: kriechen oder laufen
, sauber oder dreckig
. Die Gruppe teilte sich daraufhin, meine Freundin und ich blieben bei kriechen und dreckig
. Eine ganz besondere Atmosphäre umgab uns, als wir uns auf dem Abstieg zur kleinen Kluft befanden. Die warme Abendluft mischte sich mit der Kühle, die aus der Höhle stieg. Unversehens befanden wir uns in einem kleinen Raum, der in der Mitte ein Loch aufwies. Durch dieses Loch passte gerade ein Erwachsener, wenn er die Arme nach oben hielt. Als ich an der Reihe war, setzte ich mich auf den Grund, ließ meine Beine im Loch verschwinden und rutschte mit meinem Körper langsam nach. Die Arme nach oben zwängte ich mich durch die Engstelle zwei Meter nach unten und gelangte in einen weiteren kleinen Raum mit knapp 50 Zentimeter Deckenhöhe und seitlichen Ausmaßen, dass ich gerade darin zusammengekauert liegen konnte. Mit meiner Lampe erkannte ich den weiterführenden Weg und fädelte mich dort ein, es wurde sehr eng. Den Kameraden rief ich noch ein Schluf frei
zu, damit der nächste sich in das Loch zwängen konnte.
Zwischen den Versturzblöcken war gerade so viel Platz geblieben, dass man liegend, sich windend wie ein Wurm dazwischen hindurch kriechen konnte. An einer Stelle war es so eng, dass man kaum Atem bekam, außerdem knickte der Schluf hier um neunzig Grad nach links ab. Aber das konnte man nicht sehen, sondern musste es mit den Füßen ertasten.
Die gesamte Strecke betrug vielleicht gerade mal zwanzig Meter, aber es kam mir endlos vor, ich hatte kein Zeitgefühl mehr! Als sich die Decke über mir hob und etwas mehr Platz um mich herum wurde, änderte sich auch mein Empfinden für den Raum. Es hallte etwas und die Luft wurde kühler und feuchter. Ich hatte es hinter mir und war in der großen Jettenhöhle angekommen. Einer nach dem Anderen kam auch der Rest der Gruppe aus dem Schluf und atmete erst einmal tief durch. Wir hörten von Weitem die Anderen, die den bequemen Haupteingang gewählt hatten.
Am tiefsten Punkt der Höhle trafen wir uns und genossen den Blick auf den kleinen See, der sich dort gebildet hatte. Etwas entfernt von uns hörten wir eine Stimme: Hallo – hallo, sind Sie die Höhlenrettung?
Aber wer war außer uns Alpenvereinsleuten hier noch in der Höhle? Wir gingen der Stimme nach Hallo! Wo sind Sie? – sagen Sie mal was
Hallo ich bin hier – hallo
rief es zurück. Wir folgten der Stimme, plötzlich stand ein Mann mittleren Alters in seinem Trenchcoat und Mütze vor uns. Sind Sie die Höhlenrettung?
fragte er noch einmal. Als wir verneinten, erzählte er von seinem Missgeschick. Er war Psychotherapeut von Beruf, hatte von der Jettenhöhle hier in dieser Gegend gehört und wollte nun einen tiefenpsychologischen Selbstversuch unternehmen, er hatte sich dazu mit wärmender Kleidung und einer Taschenlampe ausgerüstet. Die Taschenlampe war ganz neu
, erzählte er aber als sie einmal herunterfiel, blieb sie einfach aus und war kaputt
. Ich weiß nicht, wie lange ich hier unten schon im Dunkeln sitze, aber ich habe meinem Freund erzählt, was ich vorhabe
. Er erzählte weiter: Als ich jetzt Ihre Stimmen hörte, war ich davon überzeugt, dass mein Freund die Höhlenrettung alarmiert hat
.
Naja, die Höhlenrettung waren wir nun nicht, wir hatten auch noch nichts von einer solchen Einrichtung hier im Harz gehört. Ja, wer bringt den Herrn denn nun zu seinem Auto?
Draußen war es in der Zwischenzeit sicher dunkel geworden und wir waren gerade in der Höhle angekommen, es hatte keiner Lust den Geretteten
zu begleiten.
Wir machen noch einen Rundgang durch die Höhle und Licht haben wir genug für alle – wollen Sie denn die Höhle einmal sehen?
fragte einer von unseren Führern. Das Ja – aber gerne!
kam so prompt und seine Augen leuchteten dabei wie die eines Kindes unter dem Tannenbaum – wie konnten wir ihm seine Bitte abschlagen?
Nun erkundeten wir mit der verstärkten Mannschaft die gesamte Höhle, stiegen in alle Nebenräume, soweit sie uns bekannt waren und stellten den Geretteten
vor die Wahl: Sie können jetzt mit einem Teil der Leute auf dem Hauptweg, den auch Sie gekommen sind, die Höhle wieder verlassen, oder durch einen nur wenig bekannten Nebenweg
sagte einer. Der ist allerdings ziemlich eng und sehr schmutzig
fügte ein anderer hinzu. Der Herr entschied sich, mit immer noch leuchtenden Augen, für den anderen Weg: kriechen und dreckig
.
Zurück ging es dann wieder durch den Schluf, der gar nicht so einfach im Chaos der Blöcke wiederzufinden war. Ich sah, wie er sich ohne zu zögern mit seinem Trenchcoat in den Schlamm legte und in den Schluf kroch. Die Schwierigkeit der Strecke lag diesmal an seinem Ende, die zwei Meter nach oben, ohne den Gebrauch der Hände und Arme machten Mühe. Als wir uns an den Fahrzeugen von unserer Zufallsbekanntschaft verabschiedeten, wurden wir mit Dankesworten überschüttet, seine Augen glänzten und sein Trenchcoat starrte vor Dreck.
Ich glaube, wir haben dem Mann eine große Freude bereitet. Er uns aber auch, wenn ich an diese Geschichte zurückdenke, werden meine Augen feucht – vor Lachen!