Die Kornmuhme
Aufgewachsen bin ich ganz in der Nähe der Hamburger Stadtgrenze, dort, wo heute die Poppenbütteler Straße durch ein Wohngebiet führt, vorbei an den Tennis- und Fußballplätzen im Norderstedter Stadtteil Glashütte. Erst 1965 wurde das Gebiet urbanisiert, davor war hier alles Bauernland. Kartoffeln und Rüben, aber vor allem wurde auf den Glashütter Äckern Getreide angebaut. So lernte ich bereits früh den grauen Roggen von der Gerste mit ihren langen Grannen, vom Hafer und vom sattgrünen Weizen mit den dicken Körnern zu unterscheiden. Für uns Kinder war es ein Abenteuer, wenn wir uns vorsichtig in das Getreide wagten und eine Spur hineintraten. Die Halme schlugen über unseren Köpfen zusammen und nahmen uns die Sicht, da wir noch so klein waren. Dort herauszufinden war schwer, nur die plattgetretenen Halme wiesen den Weg aus diesem Labyrinth.
Meine Großmutter, die bei uns im Hause lebte, erzählte mir eines Tages eine Geschichte von der Kornmuhme, die alle Kinder, die ihr Reich betreten, gefangen nimmt und sie nie mehr freigibt. Diese Muhme wohnt im Getreidefeld, das sie vor den bösen Kindern bewacht und beschützt, die das Getreide platt treten und zerstören. Dann kommt eine große Hungersnot
sagte sie immer wieder und die Leute haben kein Brot mehr
. Sie erzählte mir, wie das Korn geerntet und gemahlen wird, um dann zu Brot gebacken zu werden. Und die Kornmuhme bewacht das Feld, damit niemand darin spazieren geht und den Leuten das Brot zertrampelt
, sagte sie sehr eindringlich.
Ich hatte, was die ominöse Muhme angeht, leichte Zweifel an ihren Worten, traute mich aber fortan nicht mehr in das Getreidefeld. Im Herbst wurde das Getreide mit einer Maschine geschnitten, die Halme zu Bündeln gebunden und in Garben zum Trocknen aufgestellt. Dann trauten wir Kinder uns wieder auf das Feld, die Kornmuhme hätten wir schließlich schon von Weitem sehen und davonlaufen können.
Dort, wo heute das kleine Einkaufszentrum Immenhof
ist, stand damals noch ein mit Reet gedecktes Bauernhaus und einer eigenen Dreschmaschine. Ich durfte zuschauen, wie der Traktor neben die Scheune gefahren wurde. Über das große Schwungrad des Traktors wurde nun ein breiter Lederriemen in Form einer Acht zum Antriebsrad in der Scheunenwand geführt. Dieser trieb im Innern der Scheune die Dreschmaschine an. Die getrockneten Garben waren tags zuvor mit Traktor und zwei Anhängern vom Feld geholt worden, kamen nun in das große Maul der Dreschmaschine. Auf der anderen Seite fiel das trockene Stroh und durch ein Rohr die gedroschenen Körner heraus. Wir Kinder durften am Tor stehen und dem Treiben zusehen, aber nicht in die Nähe der Maschine, das wäre zu gefährlich gewesen!
Mitte der 1950er Jahre muss es gewesen sein, als um die Mittagszeit der ganze Hof und seine Nebengebäude und Stallungen in Flammen aufging, Blitzschlag hieß es, wäre die Ursache gewesen.
Als ich die Sirenen hörte, setzte ich mich auf mein Fahrrad und sauste los. Mein Wegweiser war die schwarze Rauchwolke, die nordwestlich unseres Hauses am Horizont aufstieg. Die freiwillige Feuerwehr war schon dabei, den Brand zu löschen, als ich dort eintraf. Doch die Flammen gingen noch hoch und es stank erbärmlich nach verbranntem Fell und Fleisch. Der Bauer hatte nur wenige Tiere retten können, die meisten verbrannten elend im Stall. Zum erstem Mal in meinem Leben habe ich einen erwachsenen Mann weinen sehen, der zuschauen musste, wie sein Hof vollständig abbrannte.
Als ich dann ein Jahr später zur Schule kam, hatte sich unsere Lehrerin eines Tages einen besonderen Klassenausflug ausgedacht. Von der Heidbergschule gingen wir zu Fuß nach Glashütte, zu einem abgeernteten Getreidefeld. Unsere Aufgabe war es nun, die liegen gebliebenen Ähren aufzusammeln und in unseren Taschen zu verstauen. Am besten wäre es
, sagte sie, wenn ihr gleich die Körner herausklopft und die Ähren hier lasst
. Nach einiger Zeit ging es mit unserer Beute
zurück ins Klassenzimmer. Mit Kaffeemühlen, die unsere Lehrerin überall zusammengeliehen hatte, wurden nun die Roggenkörner zu einem grauen, groben Mehl gemahlen. Das Mehl wurde mit Eiern, einer Prise Salz und Milch zu einem dünnen Teig verrührt, anschließend in der Pfanne gebacken. Herrlich schmeckten uns diese Eierpfannkuchen in der Schulküche, von dem Getreide, das uns die Kornmuhme
überlassen hatte.
In meiner Erinnerung höre ich heute noch das Rascheln des Getreides und habe meinen Zweifel, ob damals die Muhme im Roggen umging, oder nur der Wind über die Ähren strich.
Übrigens ist die Muhme die Schwester der Mutter, im Gegensatz zur Tante, der Schwester des Vaters. Schauen Sie doch einmal in unser Lexikon der alten Wörter und Begriffe.