De Sniederstuuv
Mien Onkel Julius Hatje hett - all nööm se em Julus Snieder - sik 1928 een Huus baut, dor wo vörher sien Öllernhuus stünn in de oole Dörpstroot. As se dat oole Huus affreeten, güng he jümmers dörch de Hökertwiet, he kunn dat nich mit ansehn. As dat nee groote Huus fardig weer, harr dat eenen Loden mit'n groote Tonbank un Riechen för de Stoffballn, Neihgoorn un wat dor noch so bruukt warrt ton Sniedern.
Achter den Loden leeg de Sniederstuuv mit groote Dischen ton Tosnieden, Plätten un ton Opsitten. Een Neihmaschien, Tüüchstänner, een grooten Speegel, poor Stöhl un 'n Barg Platz in de Mitt. Dat eene Fenster güng no Oosten, dor stünn de Neihmaschien un vör de Südfenster stünnen de beiden Dischen.
Neben de Sniederstuuv weer de Poststuuv. Jo, wi harrn in Gorstedt een sonennte Postnebenstell. Hier harr Tante Bertha-Julus - so wöör se nöömt, dormit man se nich mit Tante Bertha-Erwin verwesseln kunn - dat Seggen. Se kunn Poketen annemmen un Breefmarken verköpen, allns wat to de Post höört, kunnst dor besorgen. No'n Krieg hebbt se de Nebenstell affschafft aver de Poststuuv bleev de Poststuuv.
Tante Bertha hett den Loden ok övernomm'n un verköff dor Ünnerwäsche, Handdöker, Korseletts , Bettwäsche, Windeln - allns wat man so in'n Huushalt bruuk, kunnst dor kriegen - ok hüüt noch, denn Marianne hett den Loden von Tante Bertha övernomm'n. Se is ehr Swiegerdochder un Willi Snierders Fro.
Willi is de öllste Söhn von Onkel Julus un Tante Bertha.
Willi hett, so lang as ik denken kann, Willi Snieder heeten. So weer dat wenn man de Söhn von een Snieder weer. Dat geev jo ok to veel Hatjes int Dörp. Un Hatje heeten de sowieso nich - all heeten se Hait
. Denn weer dor noch een Söhn Oswald - de paß von Nomen gor nich in de Familje - de heet Oschi Hatje. Gediegen nich?
De Snierderstuuv weer de Middelpunkt in jüm ehr Leven. Hier speel sik allns aff. De Wohnstuuv weer son Oort beste Stuuv, dor wöör meist nich de Heizung anstellt. Aver dat mookt gor nix. De Lüüd, de mol eben inkieken wulln, keemen dörch den Loden, grööln: Ik!
oder Ich!
oder Wir!
un güngen foorts in de Sniederstuuv. Onkel Julus seet jo sowieso op den Sniederdisch. Nich jeder de keem, wull wat köpen oder wat mookt hebbn. De meisten Lüüd keemen ton Snacken. Wenn de sülven nix Nees wüß, kreeg he wiss wat Nees to weten. De reinste Ümschlagplatz för Neeigkeiten. Dor wöör nich sludert, nee- bloß över anner Lüüd snackt, dor wöör lacht un Spooß mookt. Dor weer jümmers wat los.
Eenmol weern wi in Hamborg bi eenen Stoffgroothändler un söchen eenen Antogstoff. As de Verköper uns froog, wer uns schickt harr, sään wi: Julius Hatje
. He anter: Da sparen Sie ja 25 Zentimeter Stoff. Kein Schneider schafft das und ich weiß auch nicht, wie er das macht mit einem viertel Meter Stoff weniger aus zu kommen.
Onkel Julus weer een spoorsomen Snieder - för siene Kunnen.
Wenn eener storven weer, hier wüssen se dat toeerst, denn Onkel Julus harr de Sargdregers ünner sik. He müß dat Tüüch för jüm in Ordnung holn, un Tante Bertha wüsch, stärk un plätt de witten Krogens dorto. Dat hett Marieanne no ehrn Dood ok övernomm'n. Onkel Julus hett noch lang bi Willi un Marieanne leevt, he is negenunachtig Johr oolt worrn.
Ik heff jümmers över sien Huusschoh lacht. Bi't Sitten op den Disch in Sniedersitt hett he se ganz verdreiht, dat he meist op dat Oberledder güng.
He weer een vergnögten Menschen un hett mit uns Kinner veel Spooß mookt. So as he weer - wöör Willi. He weer ok Sniedermeister un hett 'n Barg bi sienen Vadder lehrt - nich bloß dat Sniedern ok dat Ümgohn mit de Menschen. De Lüüd günnen ok bi em in un ut in de Sniederstuuv as bi sienen Vadder. Un lachen müch he genau so geern.
Veele Döntjes un Geschichten ut dat oole Gorstedt un von oole Gorstedter wüß he to vertelln. Hier in de Sniederstuuv hett he se all höört. Ok Marieanne weet veel to vertelln. Un wenn irgendwo Hochtiet weer, wöör hier de Hochtiets-zeitung mookt un öövt, wenn se wat vördreegen schulln. Se hebbt veel Spooß dorbi hatt un all dat wöör doon un ploont in de Sniederstuuv. Wenn de vertelln kunn- dat weer wat.
Denn wöör Willi krank. Eerst harr he dat mit Hatt un denn keem de bösoortige Krankheit dorto. Dat hett em hart dropen, aver he hoff un kunn dat nich glöven, dat he Krebs hebben schull. Aver de Krankheit hett em keen Schanz geven. Willi is inslopen un hett nu Ruh no all de Quolen.
Un de Sniederstuuv? - De is nu leer - dor sitt keen Julus un keen Willi Snieder mehr op'n Disch. Könnt ji dat begriepen? - Ik nich.
Die Schneiderstube
Mein Onkel Julius Hatje hat - alle nannten ihn Julus-Schneider - sich 1928 ein Haus gebaut, auf dem Grundstück, wo bis dahin sein Elternhaus gestanden hatte, in der Alten Dorfstrasse. Als sie das alte Haus abrissen, ging er immer durch die Hökertwiete, er konnte das nicht mit ansehen. Als das neue große Haus fertig war, hatte es einen Laden mit einer großen Tonbank und breite Borte für die Stoffballen, Nähgarn und was sonst noch gebraucht wird in der Schneiderei.
Hinter dem Laden lag die Schneiderstube mit großen Tischen zum Zuschneiden, Bügeln und Draufsitzen, denn Schneider sitzen im Schneidersitz auf dem Tisch. Eine Nähmaschine, Zeugständer, einen großen Spiegel, ein paar Stühle und viel Platz in der Mitte. Das eine Fenster ging nach Osten, dort stand die Nähmaschine und vor den Südfenstern standen die beiden großen Tische. Neben der Schneiderstube war die Poststube. Ja, wir hatten im alten Garstedt eine so genannte Postnebenstelle. Hier hatte Tante Bertha-Julus — so wurde sie genannt, damit man sie nicht mit Tante Bertha-Erwin verwechseln konnte — das Sagen. Sie konnte Pakete annehmen und Briefmarken verkaufen, alles was zur Post gehörte, konnte man hier besorgen. Nach dem Krieg wurde die Postnebenstelle abgeschafft- aber die Poststube blieb die Poststube.
Tante Bertha hat auch den Laden übernommen und verkaufte dort Unterwäsche, Handtücher, Bettwäsche, Korseletts, Windeln - alles was in einem Haushalt so gebraucht wurde, konnte man dort erstehen - auch heute noch, denn Marieanne hat den Laden von Tante Bertha übernommen. Sie ist die Schwiegertochter und Willi-Schneiders Frau. Willi ist der älteste Sohn von Onkel Julius und Tante Bertha.
Willi hieß so lange ich denken kann Willi Schneider oder Willi-Snieder. So war es eben, wenn man der Sohn eines Schneiders ist. Es gab aber auch so viele Hatjes im Dorf und Hatje hießen sie so wie so nicht — alle wurden Hait genannt. Dann war da aber noch ein Sohn Oswald - der passte namentlich nicht zur Familie, der hieß immer Oschi Hatje- komisch, nicht wahr?
Die Schneiderstube war der Mittelpunkt in ihrem Leben. Hier spielte sich alles ab. Das Wohnzimmer war so etwas wie Beste Stube, dort wurde nicht mal die Heizung angestellt - aber das machte gar nichts. Menschen, die mal eben eingucken wollten, kamen durch den Laden, riefen: Ich!
oder Wir!
und gingen sofort in die Schneiderstube. In der Wand zwischen Laden und Schneiderstube war ein Fenster, damit Onkel Julus auf dem Schneidertisch, wenn die Ladenklingel ging, sehen konnte, wer da gerade in den Laden kam. Nicht jeder der kam, wollte etwas kaufen oder etwas genäht haben. Die meisten Leute kamen zum Schnacken
. Wenn sie selbst nichts Neues wussten, hier bekamen Neues zu hören. Der reinste Umschlagplatz für Neuigkeiten. Dort wurde nicht geschludert, nein — nur über andere Leute gesprochen, dort wurde gelacht und viel Spaß gehabt. Da war immer etwas los.
Einmal waren wir in Hamburg bei einem Stoffgroßhändler und suchten einen Anzugstoff. Als der Verkäufer uns fragte, wer uns geschickt hätte, sagten wir: Julius Hatje
. Er antwortete: Dann sparen Sie ja 25 Zentimeter Stoff. Kein Schneider schafft das und ich weiß auch nicht, wie er das macht mit einem viertel Meter weniger Stoff auszukommen
. Onkel Julus war ein sparsamer Schneider — für seine Kunden.
Wenn jemand verstorben war, hier wussten sie es zuerst, denn Onkel Julus hatte die Sargträger unter sich. Er musste das Zeug für sie in Ordnung halten, und Tante Bertha wusch, stärkte und bügelte die dazu gehörenden weißen Kragen. Das hat Marieanne nach ihrem Tod auch übernommen. Onkel Julus hat bis zu seinem Tod bei Willi und Marieanne gelebt, er wurde neunundachtzig Jahre alt.
Ich habe immer über seine Hausschuhe gelacht. Beim Sitzen auf dem Tisch im Schneidersitz hat er sie ganz verdreht, dass er zum Teil auf dem Oberleder ging.
Er war ein vergnügter Mensch und hat mit uns Kindern viel Spaß gemacht. So wie er war, wurde Willi. Er war auch Schneidermeister und hat viel bei seinem Vater gelernt — nicht bloß das Schneidern — auch den Umgang mit den Menschen. Die Menschen gingen wie bei seinem Vater ein und aus in der Schneiderstube, und lachen mochte er genau so gern.
Viele Anekdoten und Geschichten aus dem alten Garstedt und von alten Garstedtern wusste er zu erzählen. Hier in der Schneiderstube hat er sie alle gehört. Auch Marieanne weiß viel zu erzählen. Wenn irgendwo eine Hochzeit stattfand, hier in der Schneiderstube wurde die Hochzeitszeitung gemacht und geübt, wenn sie etwas vortragen sollten. Die haben dabei viel Spaß gehabt und all das wurde geplant und geprobt in der Schneiderstube. Wenn die erzählen könnte — das wäre toll!!
Willi wurde krank. Zuerst hatte er es mit dem Herzen und dann kam die bösartige Krankheit hinzu. Das hat ihn hart getroffen, aber er hoffte und wollte nicht glauben, dass er Krebs haben sollte. Der Krebs hat ihm keine Chance gegeben. Willi ist eingeschlafen und hat nun seine Ruhe nach all den Qualen.
Und die Schneiderstube? Die ist nun leer- da sitzt kein Julus und kein Willi Schneider mehr auf dem Tisch. Könnt ihr das begreifen? - Ich nicht.