Teil 1 - Arnsdorf, 1852 bis 1857
Kapitel 11:
König Friedrich Wilhelm IV.
Dass ich damals schon viel Verständnis für die Herrlichkeit der uns umgebenden Natur gehabt hätte, wird man nicht erwarten. Auf Ausfahrten der Eltern außer zu bekannten Familien wurde ich daher noch nicht mitgenommen. Alexander erhielt diese Vergünstigung schon eher. Eine Ausnahme machte nur Schreiberhauheute Szklarska PorębaSiehe Wikipedia.org [45], wo ich einige Male, und Erdmannsdorf, wo ich öfter gewesen bin. In Schreiberhau besuchte ich wohl auch das Rettungshaus, zu dessen Vorstand mein Großvater gehörte. Mehr aber interessierte mich die Josephinenhütte mit ihren Glaswerken, wo ich mir das Glasblasen ansah, und der unweit davon gelegene Zackenfall, der allerdings wie die Wasserfälle im Riesengebirge nur wasserarm ist, deshalb der Regel nach gestaut wird, um nur vor Besuchern gegen ein Trinkgeld geöffnet zu werden, wo er dann immerhin ein sehenswertes Schauspiel gewährt.
Öfter war ich wie gesagt in Erdmannsdorf, das allenfalls auch zu Fuß erreicht werden konnte, mit seiner Kolonie ZillertalDie Zillertaler Inklinanten waren eine Gruppe von Protestanten (Augsburger Bekenntnis), die 1837 aus religiösen Gründen aus dem Zillertal vertrieben und im Riesengebirge neu angesiedelt wurden.Siehe Wikipedia.org [46], wo die ihres Glaubens wegen im Jahre 1837 aus ihrer Heimat ausgewanderten und von Friedrich Wilhelm III. gastlich aufgenommenen Tiroler die heimatliche Tracht und Bauart der Häuser noch bewahrt hatten, und vor allen Dingen mit dem königlichen Schloss. Friedrich Wilhelm IV. residierte noch jährlich einige Wochen dort. Einmal wurde ich mitgenommen, um ihn zu sehen. Ich besinne mich noch, wie ich mit meinen Eltern vor dem Gitter stand, das den Park abschloss, und nach dem Schlossteich hinübersah, an dem die königlichen Herrschaften mit ihrem Gefolge standen. Mein Auge fiel aber nicht auf den König, der Zivilkleidung trug, sondern auf einen Offizier in Uniform, der in der Nähe der Königin stand. Erst später erfuhr ich, dass das der König gar nicht gewesen war.
Einmal kam der König durch Arnsdorf, um die Annakapelle und das unweit davon gelegene Wang, dem stets seine besondere Liebe galt, zu besuchen. Natürlich war das ein Tag gespannter Erwartung für uns wie für das ganze Dorf. Meine Mutter besorgte zwei prachtvolle Blumensträuße, einen für Alexander, einen für mich, in der Hoffnung, dass wir dieselben den königlichen Herrschaften überreichen würden. Wir wurden aber arg enttäuscht. Der königliche Wagen fuhr in schnellster Gangart durch das Dorf und am Pfarrhause vorbei.
Meine Mutter, die mich auf dem Arm hielt, besaß so viel Geistesgegenwart, mir meinen Strauß aus der Hand zu reißen und schleuderte ihn mit solcher Geschicklichkeit durch das offene Wagenfenster, dass er der Königin gerade ins Gesicht flog. Ich sehe noch das enttäuschte Gesicht Alexanders, mit dem er seinen Blumenstrauß in der Hand hielt, den er nicht hatte loswerden können. Er hatte dafür aber die Genugtuung, – ich bin allerdings nicht sicher, ob bei dieser oder bei einer anderen Gelegenheit – von Vater auf die Annakapelle, bei der der König Aufenthalt nahm, mitgenommen und von demselben beachtet zu werden. Der König, kurzsichtig wie er war, trat dicht an meinen Vater heran und erkundigte sich, wer der Kleine wäre, fragte Vater dann, ob er eine schöne Kirche hätte und sprach seine Bewunderung der Hirschberger Gnadenkirche aus, die ihm Pastor Werkenthin am Tage zuvor gezeigt.
Mit dem König hatte mein Vater noch ein anderes Mal eine Begegnung gehabt. Der König hatte zu einem Schulbau – ich glaube in Krummhübel – ein Geschenk gegeben und Vater war daraufhin mit dem Schulvorstand aufs Erdmannsdorfer Schloß gegangen, um seinen Dank auszusprechen und war vom König gnädig empfangen worden. Mein Vater hat lebenslang eine große Verehrung für Friedrich Wilhelm IV. gehabt. Nicht minder meine Mutter, die den Patriotismus aus ihrem Vaterhause geerbt hatte. Übrigens hing in unserem Wohnzimmer neben dem Bilde des Königs das des Kaisers Nikolaus I. von Russland, der bei uns schlechthin der Kaiser hieß, und dessen Bild von meiner Mutter nach seinem Tode mit einem Trauerflor verhangen wurde. Vater hat auch, wie ich aus seinen schriftlichen Aufzeichnungen sehe, in der Predigt auf diesen Todesfall Bezug genommen. Erst viel später erfuhr ich, dass wir mit dem Kaiser Nikolaus eigentlich gar nichts zu tun hätten.
[46] Die Zillertaler Inklinanten (auch Zillertaler Emigranten; von lateinisch inclinare ‚neigen', ‚ab-' oder ‚hinlenken') waren eine Gruppe von Protestanten (Augsburger Bekenntnis), die 1837 aus religiösen Gründen aus dem Zillertal vertrieben und im Riesengebirge neu angesiedelt wurden.