Harzwinter - Eisblumen und Wintersport
Wenn der Oktober mit seinen herrlich bunt gefärbten Laubwäldern vorüber war, begannen die düsteren Tage. Der Morgen kam spät, und die Dämmerung fiel früh herein. Hinter den Bergen verschwand die Sonne noch viel eher als im Flachland. Die Nebel hingen zwischen den Tannen und drückten ins Tal, sodass der Rauch aus den Schornsteinen geduckt nach unten zog. Eines Tages aber schwebte es weiß und zart aus den Wolken herab, die ersten Schneeflocken. Ich konnte mich nicht satt sehen, wie sie da in der Luft tanzten und an den vielfältigen regelmäßigen Formen, wenn sie auf meinem Ärmel landeten. Dann begann Mutter ihre Erzählung: Wenn der dicke, fette Schnee vom Himmel fällt, sagt der Weihnachtsmann zu seiner Frau:
Frau, hol mir mal meinen warmen Mantel her!
Brille auf, Mütze auf und nimmt den dicken, fetten Sack. Dann holt er seinen Schlitten aus dem Stall, spannt den weißen Hirsch davor, und dann geht es Bim, bim, bim
, zu Sigrid und Rose.
Noch mal!
bettelten wir, und Mutter musste das Verslein mindestens dreimal wiederholen und ja kein Wort verändern. Es war ja der Auftakt zur Weihnachtszeit. Dass der Weihnachtsmann eine Frau hatte, war mir so selbstverständlich, dass ich erst als Erwachsene bemerkt habe, dass die in allen anderen Erzählungen fehlt. Am ersten Advent kam dann der Nikolaus bei uns und nicht am 6. Dezember, weil wir vor der Schule keine Zeit hatten, seine Gaben recht zu genießen. So stellten wir am Sonnabend unsere Puschen ins Fenster und am Sonntagmorgen sahen wir, was er gebracht hatte: Kekse, vielleicht einen Bleistift, ein Radiergummi oder ein kleines Malbuch. Da durften wir lange im Bett bleiben und uns mit den Gaben beschäftigen. Sogar zum zweiten und dritten Advent durften die Puschen nochmal hingestellt werden. Sogar am Anfang der Kriegszeit fanden sich noch Kleinigkeiten, und als Sigrid 16 und ich 13 Jahre alt war, haben wir frechen Mädel Mutter total verunsichert, indem wir behaupteten, wir glaubten noch an den Nikolaus und wollten ihn nun endlich mal sehen.
Unser Schlafzimmer wurde, wie alle Grundner Schlafzimmer, nicht geheizt und war im Winter eiskalt. Die Fenster waren dick mit Eisblumen zugefroren, aber wir hatten warme Federbetten. Die wurden abends mit der großen kupfernen Wärmflasche, in die gut fünf Liter heißes Wasser ging, vorgewärmt. Wenn Mutter uns die Haare gewaschen hatte, kriegten wir auch eine alte Nachtmütze aus Omas Beständen auf. Wir nannten sie Wolfsmütze
, weil im Märchenbuch der Wolf, der das Rotkäppchen fressen wollte, solch eine Haube aufhatte. Das Aufstehen morgens war natürlich grausig, aber wir hörten nebenan schon Mutter die alte Asche aus dem Ofen kratzen und dann die Späne knistern. Das Wasser in der dicken Wärmflasche war vom Abend her noch warm zum Waschen, und dann ging es schnell, schnell in die Kleider. Die dicken Wollstrümpfe hatte Anna Berke auf ihrer Strickmaschine gestrickt. Sie wurden mit Strumpfhaltern am Leibchen befestigt, und warme Mäntel für den Schulweg hatten wir auch im Gegensatz zu manchen armen Bergmannskindern. Draußen lag der Schnee und wurde immer höher. Von Dezember bis mindestens Ende Februar gab es keine schneefreie Zeit. Ich erinnere mich, dass ich als Kind einmal um den 1. März im Walde unter einer Tanne am Südhang stand und jubelnd ausrief: Ich stehe auf Erde!
Zwar gab es auch mal milde Wintertage. Dann backte
der Schnee. Die Jungen machten Schneeballschlachten, und ich baute einen Schneemann. O wie schön war er geworden! Aber die bösen Jungen bewarfen ihn mit ihren Schneebällen, und ich liebte ihn doch so, dass ich mich davorstellte und mich lieber selbst bewerfen ließ. Meist aber lag der Schnee locker und pulvrig. Immer neuer kam dazu. Täglich fuhr der Schneepflug die Straße entlang und warf am Rand so hohe Wälle auf, dass ich als kleines Mädchen nicht darüber gucken konnte. Den langen Fußweg vor dem Garten mussten wir selbst freischaufeln, außerdem den Zugang zum Haus, ums Haus zu den Mülltonnen, über den Hof zu den Ställen. Mutter hat sich damit oft sehr abgequält. Als ich größer wurde, habe ich die Schaufelei gern gemacht, aber sie musste meist morgens passieren, wenn ich zur Schule musste. Gestreut wurde mit Asche. Da trug man viel Schmutz ins Haus. Man konnte sich auch Kies vom Pochwerk holen, aber das kostete natürlich Geld.
Natürlich wurde auch Wintersport getrieben. Zwar hatte Bad Grund keine langen Abfahrten und gespurte Loipen gab es nicht, aber man konnte mit den Schiern in den herrlichen Winterwald wandern, zum Beispiel die Gewitterplatzchaussee am Eichelberg hinauf und durchs Eichelbachtal hinunter oder auch nur den oberen Weg um den Schurfberg herum. Die Tannen bogen sich unter ihrer Schneelast und sahen wie weiße Zipfelmänner aus, manchmal brachen sogar die Spitzen ab, wenn der Schnee auf den Zweigen festgefroren war und dann der Wind kam. Interessant waren die Wildfährten darunter, die großen vom Rotwild, die kleineren vom Rehwild, wie auf eine Schnur gezogen die Tappen vom Fuchs, zwei längliche und zwei kleine runde vom Hasen. Einmal entdeckten wir sogar eine Dachsspur, obgleich sie die meiste Zeit des Winters verschlafen. Einmal war ein Igel aufgewacht und hatte sich wie ein kleiner Schneepflug durch den Schnee geschoben. Nein, der Sport war nicht die Hauptsache, wenn wir mit unseren Brettern loszogen, aber skifahren konnten alle Harzer Kinder. Mit vier bis fünf Jahren kriegte man die ersten Bretter. Ich hatte richtige Skier, die Arbeiterkinder kriegten Fassbretter unter die Füße gebunden. Aber auch die guten Skier hatten nur Lederriemen als Bindung draufgeschraubt. An die Absätze der Winterstiefel ließ man sich vom Schuster hinten einen kleinen Lederstreifen machen, damit die Bindung nicht abrutschte. Dazu trug man eine wollene Skihose. Damit der Schnee nicht oben in die Stiefel kam, wurden um die Knöchel bunte, gewebte Bänder, die Skibänder, gebunden. Wenn morgens der Neuschnee höher als 20 Zentimeter war, durften wir sogar so in die Schule gehen.
Der Sportunterricht der Schule bestand im Winter aus Skilaufen im Teufelstal. Ich weiß nicht, ob der Lehrer selbst nichts davon verstand. Jedenfalls hat er uns nichts an richtiger Haltung, Wedeln oder Bögen beigebracht. Jeder rutschte den Hang hinunter, den er sich zutraute. Ich traute mir nur einen ganz flachen zu. Mir war das Rodeln lieber, nicht das Heruntersausen an einem steilen Hang, sondern die weiten, kurvenreichen Strecken. Für uns war es ein Glück, dass die Straßen nicht gestreut wurden. Es fuhr ja auch kaum ein Auto, und für die wenigen war so nur die Straße unten im Ort befahrbar. Die steile, kurvenreiche Ibergstraße konnte als Rodelbahn dienen. Wenn ich mich oben am Kaffeehaus auf den Schlitten setzte, kriegte ich tüchtig Schwung und konnte, mit den Hacken lenkend, etwa einen Kilometer bis zu unserem Haus oder gar zum Markt hinabfahren. Kürzer aber noch steiler war die Abfahrt auf der Abgunst vom Knollen bis zum Pochwerk hinunter. Die hatte Mutter uns aber verboten, weil da einmal ein Unglück passiert war. Einige junge Leute hatten in der Gaststätte Hocheck gefeiert, wohl reichlich Alkohol getrunken, und dann versucht mit zwei zusammengebundenen Schlitten die Abgunst hinunterzusausen, hatten die Gewalt über die Schlitten verloren und waren gegen eine Mauer geprallt. Dabei hatte es Schwerverletzte gegeben. Solch eine Schlittenkombination war dort auch Wahnsinn. So konnte man nur auf der viel flacheren Clausthaler Straße fahren, weil das Tempo viel schneller wurde als bei Einzelrodlern. Das lag einmal am Gewicht, zum anderen daran, dass nicht bremsend mit den Hacken gelenkt wurde, sondern ein Schlittschuhfahrer setzte sich vorn in die Kuhle des ersten Schlittens und lenkte mit den Schlittschuhen. Größere Jungen und Mädel sausten gern abends im Dunkeln vom ersten Wendekreis aus mit solchen Schlittengespannen durch den Ort, so schnell, dass es Funken sprühte, wenn die Kufen auf ein Steinchen trafen. Für Schlittschuhe waren die vom Schneepflug geräumten Straßen sowieso die einzige Möglichkeit im Harz. Die Teiche waren alle dick zugeschneit.