Heute vor 80 Jahren: Der Horror von Dresden
Kapitel 2
Was wird aus den Demokraten
Eng, ja freundschaftlich verbunden waren unsere Eltern mit den Nachbarn in der Dr.-Conert-Straße auf gleicher Etage: Joseph und Elisabeth Ragsch. Die Verbindung hielt über Herrn Ragschs Tod hinaus zu seiner Frau an. Auf einem Foto von meiner Jugendweihe 1964 hat sie zwischen unserer Familie in der hinteren Reihe der Erwachsenen Aufstellung genommen mit Vati, Mutti, Omi und Tante Inge; davor die Kinder Thomas, unser 1954 geborener Bruder Claus-Dieter und Schwesterchen Dagmar (1960 geboren), daneben Sabine und Matthias aus Görlitz, Cousin und Cousine von uns Sprink-Kindern. Das Foto dürfte mein Görlitzer Onkel Karl-Heinz gemacht haben. Elisabeth Ragschs Gesicht war in meiner Erinnerung auffällig durch ungewöhnliche, beinahe lappenartige Hauterweiterungen unter beiden Augen geprägt. Einmal äußerte sie, das seien Folgen der Bombennacht, in der sie durch das brennende Dresden gelaufen war. So viele tote Menschen …
erinnerte sie sich.
Joseph Ragsch war von 1946 bis 1952 erster Chefredakteur der katholischen Wochenzeitung DIE UNION
in Dresden. Am 13. Februar 1946 appellierte er in einem Artikel, der Wiederaufbau der Stadt böte die Möglichkeit, einen Teil der Schuld wieder gutzumachen, die auf den Schultern unseres Volkes wie ein ungeheurer Alpdruck lastet.
Ragsch taucht in den Debatten um die Gründung der sächsischen CDU auf, er verfasste im Neuen Deutschland
vom 28. Mai 1946 den Leitartikel Entmachtung der Schuldigen
und erscheint zweimal im Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Technischen Hochschule Dresden (der Jahrgänge 1959/60 und 1961/62) als Mitglied der Hauptabteilung Fernstudium/Abteilung Pädagogik und Lektorat. Den Nachbarn, also uns Sprinks, ließ er in witziger Reimform allerlei Selbstgefertigtes zukommen, darunter zu Vatis 34. Geburtstag 1956: … so teilen wir als treue Nachbarn mit Eberhard Sprink Freud und Leid eines Geburtstagskindes
, in Anspielung auf gelegentliche Ungezogenheiten der beiden erstgeborenen Brüder. Die Überschrift auf dieser dreiseitigen, handgeschriebenen und mit aufgeklebten Zeitungszeilen versehenen Huldigung lautet Was wird aus den Demokraten?
– also Thomas und mir. Irgendwie (politisch) schalkhaft geht er um mit Demokratie
, so auch und gleichfalls mit Hand verfasst in seinem Ständchen anlässlich des Internationalen Frauentags An die Demokratenmutter Edith!
: Hänge rote Fahnen raus! Schmücke so das ganze Haus!
Auch meine 1960 geborene Schwester Dagmar wird in einem 22-strophigen Gedicht anlässlich ihrer Erdenankunft gefeiert. Der Schluss lautet: Und den Eltern und den Jungen/ die wir hier etwas besungen/ möchten wir in´s Stammbuch schreiben/daß wir gute Freunde bleiben.
Da waren wir aber schon ein paar Jahre zuvor (1957) in die noble Altmarkt-Wohnung umgezogen.
Uns Brüdern – den Demokraten
– war Joseph Ragsch in besonderer Weise verbunden, gleichwohl er, so meine ich mich zu entsinnen, selbst einen Sohn hatte. Dieser beherrschte kleine Zaubertricks, die uns Kinder faszinierten; ein plötzlicher Hirnschlag riss ihn später, als er schon verheiratet war, des Nachts mit einem Male aus dem Leben … Genau im Gedächtnis habe ich aber noch, als Elisabeth Ragsch am Telefon die Todesnachricht ihres Mannes an Mutti übermittelte. Wir lebten da schon (seit 1963) in Bautzen, aber die Verbindung hatte angehalten. Mir ist schlecht
, hatte Mutti da gesagt … Von Joseph Ragsch – Onkel Ragsch
– besitze ich kein klares Erinnerungsbild. Etwas korpulent, so schwebt er mir vor. War er ein Lebemann? Ein witziger, kluger und umtriebiger Typ allemal. Jedenfalls schnappte ich einmal auf, dass er seine Wohnung zwecks Besorgung von Zigaretten verlassen habe und erst Tage später wieder aufgetaucht sein soll …
Entscheidung für das Leben. Gedanken zum Internationalen Kindertag am 1.Juni
lautet die Überschrift eines von ihm verfassten Artikels in der UNION
, vermutlich Jahrgang 1955. Da stehen wir Jungs vor seinen Augen: Blickt doch nur in Nachbars Garten! Da ist ein Sandhaufen und ein Roller, und zwei glückliche vier- und fünfjährige Buben tummeln sich, ihre nackten Knie, ihre Hände und Gesichter werden dadurch zwar nicht sauberer und die junge Mutter freut sich nicht gerade über die äußerliche Beschaffenheit ihrer liebenswerten ´Strolche´, wenn sie zum Mittagessen ruft. Aber möchtet ihr sie lieber sehen, wie sie die Brandmale von Phosphor an sich tragen, unheilbare radioaktive Verletzungen, oder im Lodern eines neuen Krieges verkohlen? Ihr möchtet das nicht? Dann macht endlich – soweit ihr das nicht schon getan habt – Schluß mit eurer Passivität gegen die Bedrohungen eines neuen Krieges! Dann werdet aktive Kämpfer für den Frieden in den Reihen derer, die eine neue, bessere Ordnung der menschlichen Gesellschaft errichten!
Joseph Ragsch war, gewiss nicht nur zehn Jahre nach dem Horror, ein engagierter Friedensrufer – und wir Jungs in Nachbars Garten die mahnenden Boten?
Altmarkt 13, seit der Neubebauung der Südseite des Altmarkts wieder Seestraße 16, schloss die Altmarkt-Ostseite in südwärtiger Richtung zum Dr.-Wilhelm-Külz-Ring ab. Hier hatte 1953 der Wiederaufbau Dresdens unter Aufnahme barocker Bautraditionen begonnen. Die letzten Bauarbeiten auf dieser Altmarktseite liefen noch, als unsere Familie 1957 in das repräsentative Gebäude einzog, das wie alle hier in seinem großzügigen Eingangsbereich eine Travertin-Wandverkleidung aufwies und mit aufwändigen Messingleuchten ausgestattet war, Aufzug und Müllschlucker
inklusive. Hier wohnen die Kaiser
, hörte ich einmal ein älteres Ehepaar davorstehend staunend sagen. Und tatsächlich gehörte Prominenz zur Bewohnerschaft, so Walter Weidauer und die Witwe des Dichters Martin Andersen-Nexö. Weidauer war bis zu seinem Tod 1986 über viele Jahre Oberbürgermeister der Stadt gewesen. Von ihm stammt die 1965 erstaufgelegte Publikation Inferno Dresden. Über Lügen und Legenden um die Aktion ‚Donnerschlag´
, von ihm ist aber auch der Satz überliefert Das sozialistische Dresden braucht weder Kirchen noch Barockfassaden
. Unser Vater war inzwischen Chefdramaturg am Staatstheater geworden.
Ein Fotodokument von 1958 zeigt einen Blick, der sich so auch von unserm Haus aus bot, nach Süden bis hin zum Hauptbahnhof. Abgebildet ist das weiträumige Gelände um die Prager Straße, eine der ehemals prächtigsten im alten Dresden mit prunkvollen Leitbauten wie dem Victoriahaus sowie zahlreichen Einkaufs- und Vergnügungsstätten. Auch hier hatten die Horror-Bomber ganze Arbeit geleistet. Von Schutt und Trümmern inzwischen beräumt, ragte aus der riesigen Fläche ein einziges Gebäude noch auf: Hotel Excelsior
, gelegen an der einstigen Sidonien-Straße 8 und 10. Die Ruine des Residenzkaufhauses im Vordergrund war bereits 1950 abgerissen worden. Erst 1969 verschwand es durch Abriss; da war die Bekanntgabe eines Architekturwettbewerbs für die neue Prager Straße bereits erfolgt, 1962. Uns Kindern, auch aus Haus und Nachbarschaft, bot das noch unbebaute weite Gelände mit seinen Trümmerresten und dichtem Buschwerk aufregendste Erkundungs- und Entdeckungsmöglichkeiten. Bewaffnet mit Pfeil und Bogen machten wir Jagd auf in Grüppchen versteckt umherspazierende, dann schreckhaft aufschwirrende Rebhühner. Erlegt haben wir niemals eins.