TimetunnelMachen Sie eine Zeitreise … Erkunden Sie die Zeittafel der Machtergreifung 1933
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Meine Kindheit, ein Leidensweg
1949 bis 1995
Die Helgolandfahrt 1953

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  1. Prolog – Meine Kindheit, ein Leidensweg
  2. Fahrt nach Helgoland 1953
  3. Erziehung bei Tisch
  4. Ein parkendes Auto
  5. Ein norddeutsches „Moin“
  6. Klassenspiegel und blauer Brief
  7. Entnazifizierung der „Nazi-Kinder“
  8. Krankheit als Versagen
  9. Meine innere Flucht
  10. Ausbruch und Flucht vor der Familie
  11. Mein selbstbestimmtes Leben
  12. Sehnsucht – Bitte melde dich
Börte-BootDamals wie heute, Ausbooten mit dem Börte-Boot auf Helgoland [Bild: Pixabay, Werner 77] KegelrobbeDeutschlands größtes und gefährlichstes Raubtier, die Kegelrobbe [Bild von Wolfgang Vogt auf Pixabay]

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Die Helgolandfahrt im August 1953, ein Mordsvergnügen?

Vater war länger auswärts arbeiten, in Ägypten und Indien. Er sollte in zwei Wochen mit dem Schiff zurückkommen.

In der großen Tageszeitung, die auch in unserer norddeutschen Kleinstadt verkauft wurde, gab es Werbeanzeigen für die Vergnügungsschifffahrt. Gerade wurde eine Fahrt zur Insel Helgoland angeboten. Eine der letzten Fahrten mit dem beliebten Schiff »Hansa VI«. Dem provisorisch umgebauten ehemaligen Minensucher R408. Das Schiff gehörte zur 16. RäumbootflottilleDie 16. Räumboots-Flottille wurde am 27. Oktober 1944 in Wesermünde aufgestellt. Ihr wurden die Räumboote R 401 - R 408 (alle im Oktober 1944 in Dienst gestellt), R 253 (von 14. R-Flot) und R 264 (von 15. R-Flot) zugeteilt. Sie wurde am 25. November 1947 aufgelöst. der deutschen Reichsmarine. Solche Schiffe wurden von den alliierten Siegermächten an deutsche Reedereien verchartert. Der Chartervertrag lief nun aus und das Schiff war teilweise rückgebaut.

Ausnahmsweise begann die Reise im benachbarten Bremen mit Zwischenhalt in Vegesack, wo wir im Februar von Bord des Frachtschiffs komplimentiert wurden. Mutter fand die Helgolandfahrt gut und beschloss, mit mir dort hinzufahren. Eingestiegen werden sollte laut Mutter genau im besagten Vegesack, wo wir von Bord verwiesen wurden, obwohl es die viel näher liegende Einstiegsstelle gab. Für sie war das der Ausgleich zum schmachvoll empfundenen Verweis vom Frachtschiff. Die Werbung versprach etwas Besonderes, diese Reise des Schiffs sei eine Sonderfahrt und die letzte nach Helgoland. So begann meine zweite Erfahrung mit der Seefahrt. Auf die Reise freute ich mich.

Als nun Vierjähriger, der vor langer Zeit beschlossen hatte, ein Seemann zu werden, sah ich mir Landkarten mit der Küste und der Insel Helgoland an. Darauf waren mit gestrichelten Linien die Fährstrecken der Passagierschifffahrt eingezeichnet.

Auch die Fahrstrecke über den Fluss, die Flussmündung, die küstennahen Inseln und den Seeweg nach Helgoland sah ich mir genau an. Morgens hin, abends zurück. Mutter amüsierte sich zwar über meine Reiseplanungen, sie waren ihr aus irgendeinem Grund aber nicht lästig wie mein Tun sonst immer. Wahrscheinlich machte sie sich über mein Interesse an den Landkarten lustig, weil sie annahm, ich könne diese Karten nicht verstehen. Für meine Zwecke reichten die Landkarten jedoch. Damit hatte die Reise gute Voraussetzungen. Weil ich gehört hatte, dass für die Fahrten ehemalige Schnellboote genutzt wurden und weil ich Fotos von solchen Booten in schneller Fahrt gesehen hatte, nahm ich an, dass wir auch mit so einem Boot fahren würden.

Wir mussten viel zu früh aufstehen. Die morgendliche Anreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Vegesack klappte gut. Der Zug hielt nahe dem Anlegeplatz unseres Schiffs.

Das Schiff sah für mich wie ein Schnellboot aus. Wir gingen an Bord und es legte ab. Wegen meiner Größe konnte ich nicht alles sehen, aber es gab Lautsprecherdurchsagen und dann konnte ich in die jeweilige Richtung gucken. Die fünfzig Kilometer lange Flussfahrt war für mich interessant, aber langsam. Das Schnellboot darf hier nicht so schnell fahren, dachte ich. Es ging an Elsfleth, Brake und Nordenham vorbei. Dann kamen wir nach Bremerhaven an der Flussmündung. Dort lag ein großes Passagierschiff mit vergilbten Aufbauten. Es war von einem maroder Brandgeruch umgeben.

Nun auf See durften keine Passagiere an Deck bleiben und mussten ins Innere. Ich hoffte jetzt auf hohe Geschwindigkeit und spritzende Wellen. Aber das Schiff fuhr langsam vor sich hin. Auf dem Meer waren einige andere Schiffe zu sehen. Viel beobachten konnte ich aber nicht. Zum Rausgucken aus den hinteren Aufbauten war ich zu klein. Das Schiff bog ab und lief erst noch die Nordseeinsel Wangerooge an. Dort gab es einen langen Holzsteg, der bis in das Wattenmeer reichte. Auf diesem fuhr die Inselbahn bis fast zu unserem Schiff. Der Steg musste so lang sein, weil mit ihm eine Stelle erreicht wurde, die bei Ebbe noch genug Wassertiefe für Schiffe hatte. Wie sich bei der Recherche herausstellte, bin ich einer der letzten Zeitzeugen, der dieses Bauwerk und den „Bahnhof“ auf dem Steg betreten hat. Heute sind an dieser Stelle der Insel Wangerooge nur noch Pfahlreste im Wattenmeer zu finden. Unser Schiff machte dort fahrplanmäßig fest. Ein Zug wartete und fuhr dann mit den Fahrgästen, die umgestiegen waren, ab. Während der Liegezeit ging ich auf dem Steg bis zu dem Wartehäuschen für die Zug-Fahrgäste. Das gab Ärger, weil so kleine Kinder dort nicht alleine rumlaufen sollten. Tatsächlich habe ich Erinnerungen daran, wie es unter dem Steg, beziehungsweise der Seebrücke bei Ebbe aussah. Ob ich die Treppe neben dem Wartehäuschen heruntergegangen war, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Möglicherweise hing am Wartehäuschen ein Plakat mit dem Bild der Seebrücke bei Ebbe und dem Zug darauf. Andererseits habe ich auch heute noch das Gefühl, Mutter schickte mich runter ins Wattenmeer und als ich die Treppe wieder heraufkam, gab es viel Ärger.

Dann kam der Zug zurück. Die Passagiere stiegen auf das Schiff um und es legte ab. Die weitere Fahrt dauerte lange, aber es war mir nicht langweilig. Meine spätere Recherche ergab, dass die Fahrzeit drei Stunden lang gewesen sein könnte.

Vor Helgoland wurde geankert. Die Schiffe der weißen Flotte lagen dort auf Reede. Dann kamen offene Boote, die uns zur Mole der Hauptinsel brachten. Es gab Proteste wegen des kleinen Jungen, der so was noch nicht mitmachen sollte. „Der kommt mir nicht ins Boot. Es dürfen nur Personen ins Boot, die selbst ein– und aussteigen können.“

Dann wurde kurz zwischen unserer Schiffsbesatzung und der Bootsbesatzung verhandelt, ob es richtig sei, das Kind für die Ankerliegezeit an Bord des Passagierschiffes zu lassen. Schließlich wurde ich ins offene Boot gehoben und musste mich dort sofort hinsetzen. Es schaukelte angenehm.

Als das offene Boot voll besetzt war, wurden wir zur Mole der Hauptinsel gebracht. Die übrige Hauptinsel durfte man aber nicht betreten. Auf der Mole waren Buden, an denen man Sachen kaufen konnte. Gegenüber der Mole, hinter dem Hafenbecken, auf dem Unterland der Insel, war Lärm. Baulärm. Für meine Kinderohren sehr laut. Dumpfes Dröhnen und Gepolter, viele Presslufthämmer. Die hörten nicht auf. Besonders laut war ein blauer Bagger. Ein Seilzug-Löffelbagger. Seine Winden nudelten mit dem typischen Geräusch solcher Maschinen, und dann donnerte der Löffel irgendwo drauf. Der schwere Bagger kippte und rutschte dabei hin und her.

Man konnte auf der Mole bleiben bis das Schiff wieder abfuhr, oder eine Hin- und Rückfahrkarte zur Nebeninsel, der Düne, kaufen. Dorthin fuhren regelmäßig offene Börte-Boote. Auch wir setzten über.

Auf der Düne angekommen, suchte Mutter nicht den zweihundert Meter entfernt beginnenden Badestrand auf, sondern einen entgegengesetzt liegenden fünfhundert Meter entfernten leeren Strandteil. Eventuell wollte sie die Verpflegungsbuden am Touristenstrand meiden. Das tat sie, obwohl die Besatzung des Börtebootes uns angewiesen hatte, nur an den Touristenstrand zu gehen. Bei der ausgewählten Strandstelle breitete sie eine Decke aus und legte sich darauf. Die Decke war nicht für mich. Mir gestattete sie, an der ausgewählten menschenleeren Strandstelle herumzulaufen. Das durfte ich entgegen ihren sonstigen Kontrollgepflogenheiten ohne Einschränkung. Diese Freiheit nutzte ich freudig und ging ans Wasser. Es plätscherten kleine Wellen. Dort wo sie ausliefen, suchte ich den Sandstrand nach Interessantem ab. Darin war ich von unserem heimischen Fluss-Sandstrand geübt. Zunächst fand sich aber nichts Interessantes. „Geh nicht so weit!“ Mit dieser Anordnung schränkte sie meine Bewegungsfreiheit auf ein angedeutetes Gebiet ein.

Mutter war schnell von ihrem umher tollenden, alles untersuchenden und immer wieder bei ihrer Decke auftauchenden Kind genervt. Sie stellte sich nun schlafend, was andeutete, dass ich Abstand halten müsse. Als ich ihr gefundene kleine Sachen zeigen wollte, schickte sie mich entnervt zum Wasser und drehte sich weg. Daraufhin ging ich knietief ins Wasser.

Plötzlich stand da ein Mann. „Geh hier weg. Du darfst nicht ins Wasser. Hier sind Kegelrobben. Das ist der Robbenstrand!“ Zu den Robben im flachen Wasser wollte ich tatsächlich gehen. Die blieben da ruhig sitzen und guckten nur. Damals wusste ich noch nicht, dass es Deutschlands schwersten und größten Raubtiere sind und dass ich Beutegröße hatte. Der Mann war wohl im Recht und redete auf Mutter ein, weil sie ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkam und den Naturschutz missachtete. Wegen dieser „ungerechten“ Behandlung war sie so genervt, dass sie beschloss: „Hier ist es zu kalt, wir fahren zurück auf die Mole und warten da auf das Übersetzen zu unserem Schiff. Wegen dir müssen wir früher rüber. Du kannst dich nirgendwo benehmen!“

Wir mussten an der Anlegestelle nicht lange warten. Das Börteboot von der Düne zur Mole kam fahrplanmäßig. Es fuhr kaum jemand mit. Auf der Mole angekommen, dauerte es lange. Sie war fast menschenleer. Stundenlang hatte ich Zeit, die Mole der Hauptinsel abzuschreiten. Dabei balancierte ich gelangweilt an der geländerlosen Kai-Kante zum offenen Meer und guckte auf die etwa vier Meter tiefer liegende Wasseroberfläche. Das Wasser schwappte vor sich hin. Einige Sachen schwammen darin. Dort wo sich Publikum für den Einstieg in die Passagier-Versetzboote drängen konnte, gab es an der Kante Geländer. Durch diese Geländer ins Wasser gucken war auch langweilig.

Die Niedergänge für das Einsteigen in die Börteboote waren aus Metallgitterrosten gebaute Treppen und führten ins Meer. Die waren unten grün und glitschig. Da waren auch Schilder mit Uhrzeiten für die Abfahrt und mit Angaben, zu welchem Passagierschiff das Boot dann fährt. Die Uhrzeiten konnte ich lesen und mit der Turmuhr auf der Mole vergleichen. Die Schiffsnamen konnte ich noch nicht lesen, nur das Schriftbild vergleichen, was mich ärgerte. Wie konnten die Leute auf den glitschigen Treppenrosten laufen? Aber vielleicht mussten sie das gar nicht, wenn das Wasser bei Flut wieder steigt.

Auf der Mole waren Kioske. An diesen Buden gab es zwar was zu kaufen, aber ich bekam nichts. Mutter sagte: „Wegen dir mussten wir früher hierherkommen, nun warte gefälligst anständig und höre auf zu quengeln!“ Sie saß oder stand immer woanders und ich ging hin und wieder zu ihr. Langsam kamen mehr Leute auf die Mole. In der mittlerweile riesigen, teils dicht gedrängten Menschenmenge musste ich sie suchen. Nah kam ich nicht an sie ran. Wenn sie mich sah, löste das wieder Befehle aus: „Du musst warten. Benimm dich anständig. Es gibt nichts Süßes! Geh wieder los.“ Dabei hatte ich keine Zeit, sie anzusprechen. Wenn ich aus ihrem Blickwinkel weit genug weg war, ging sie woanders hin. Aber sie konnte mir nicht entwischen. Für mich war das ein Spiel. Außerdem, alle bekamen Süßes, nur ich nicht. Angst, sie in der Menschenmenge zu verlieren, hatte ich nicht, aber „kein Süßes“ und nichts zu trinken, das war ärgerlich.

Den blauen Seilzugbagger mit seinen charakteristisch nudelnden Geräuschen konnte ich nun ausgiebig beobachten. Weil sein Löffel aber immer wieder unter meinen Blickhorizont fuhr, konnte ich nicht sehen, worauf er einhackte. Bauarbeiten fand ich interessant. Die waren im Augenblick abwechslungsreicher, als das Schwappen des Meerwassers zu beobachten. Nach genügend langer Betrachtung der Szene beschloss ich, später am Bau zu arbeiten, aber nicht als Baggerfahrer, sondern als Architekt. Tatsächlich wusste ich, was ein Architekt ist.

Dann kamen die offenen Boote. Sie brachten die wartenden Passagiere von der Mole zu den vor Anker liegenden Fahrgastschiffen. Für mich auffällig, die Boote waren pünktlich, obwohl ich nicht gesehen hatte, woher sie kamen. Das Einsteigen fand ich interessant, weil die Flut das Wasser hatte steigen lassen, aber noch nicht ganz über die glitschigen Roste hinaus. Es war aber schon mehr als einen Treppenlauf hochgestiegen. „Wer rutscht?“ Rutschenden wurde von den Bootsbesatzungen jedoch routiniert geholfen. Das Wasser stieg noch viel weiter und dann kamen auch wir dran. Mutter schritt in der Menge unauffällig mit. Ich hatte sie an der richtigen Treppe abgepasst und wir stiegen ins Boot.

Wie unser Schiff den Anker lichtete und dann von der Insel wegfuhr, war für mich gut zu sehen. Es gab Schiffe auf dem Meer. Die Insel wurde immer kleiner. Manche großen Schiffe waren schneller als unseres. Endlich sah ich auch ein Schnellboot. Es raste an uns vorbei mit einem verschlungenen Kurs durch das Wattenmeer. Nun dachte ich, wir sind nicht auf einem Schnellboot. Unser Schiff kann nicht schneller fahren.

Mutter und ich saßen dieses Mal nicht im hinteren Deckshaus, sondern im vorderen, wo auch der Steuerstand war. Die Fahrt dauerte. An Steuerbord hatte das Deckshaus eine schwere Außentür mit hoher Schwelle, wie sie bei seegängigen Schiffen üblich ist. Zwischen Tür und Wand war ein Holzstück geklemmt. Vermutlich sollte die Tür zur besseren Lüftung offenstehen, aber eben nicht ganz. Der Spalt war so groß, dass ich über die vierzig Zentimeter hohe Schwelle hindurch hätte rausklettern können.

Gemäß meiner Recherche fuhren wir damals 14 Knoten, etwa fünfundzwanzig Stundenkilometer schnell. Noch auf See, in der Nähe der Flussmündung, fragte mich Mutter, ob ich nicht rausgehen wolle. „Wir dürfen doch nicht raus“, gab ich zu bedenken. „Ach was, ich mache dir die Tür auf, und du gehst an Deck. Wenn jemand schimpft, dann sage ich, du bist mir entwischt und von selbst an Deck gegangen.“ Das fand ich klasse und ging direkt aufs Vorschiff.Mutter machte hinter mir die Tür ganz zu.

Es war sonst niemand an Deck. Passagieren war es verboten, an Deck zu gehen. Nach vorne konnte ich nicht viel sehen, aber zur Seite. Breitbeinig stand ich mitten auf dem Vordeck und brauchte mich nicht festzuhalten. Mein Seemannsdasein war super. Diese Freude währte nicht lange. Die Motoren hörten auf zu dröhnen, und das Schiff stoppte. Es kam ein Mann von der Besatzung, nahm mich an der Hand und brachte mich zurück ins Deckshaus. Dort stellte er Mutter zur Rede. „Das Kind hätte von Deck fallen oder über Bord gespült werden können!“ Mutter antwortete: „Der Junge ist mir entwischt und durch die Tür an Deck gegangen. Ich habe ihm das ausdrücklich verboten.“ Der Seemann war nur einen Augenblick verdutzt, dann stellte er trocken fest: „Die Tür hätte das Kind gar nicht alleine aufgekriegt. Achten Sie auf das Kind!“

Mutter war mit irgendwas unzufrieden. Die Fahrt ging nun weiter. Wir kamen wieder an dem verbrannt und faulig riechenden Passagierschiff vorbei. Diesen eigenartigen Geruch habe ich heute noch in der Nase.

Die Fahrt flussaufwärts dauerte lange. Nun musste ich mich wie sonst immer benehmen und still in der Ecke sitzen. Spät waren wir wieder zuhause in unserer Kleinstadt Delmenhorst. Ich war sehr müde.

Das war die Reise, aber wieso hatte ich all die Jahre Beklemmungen, wenn in mir die Erinnerung daran aufblitzte?

Als Vater einige Tage danach von seiner Seereise zurückkam, erzählte ich ihm von unserer Helgoland-Reise und auch, dass wir in Vegesack abgefahren waren, wo wir damals von Bord des Frachtschiffs gehen mussten. Auch mit meinem tollen Erlebnis auf dem Vorschiff prahlte ich. Er glaubte das zunächst nicht. „Von diesem Hafen fahren keine Schiffe nach Helgoland, die fahren nur von Städten direkt an der Küste ab.“ Mutter widersprach: „Es war eine Sonderfahrt. Das Schiff fuhr das letzte Mal nach Helgoland.“ Sie hatte auch die Zeitung mit der Werbeanzeige.

Bei der anschließenden Beweisdiskussion gerieten sich meine Eltern in die Haare. „Du kannst doch den Jungen in Fahrt auf See nicht alleine auf das Vorschiff eines Schnellbootes lassen. Er hätte über Bord gehen können. Da wird man doch runtergespült. Solche Schiffe haben keine engmaschige Reling. Was hast Du dir denn dabei gedacht?“ Noch lange hagelte es Vorwürfe. Er konnte sich kaum beruhigen. Die Aufregung fand ich unpassend. Es war doch so schön.

Beim Aufschreiben dieser Erinnerungen ergaben sich andere Perspektiven. Die Frau hatte ihr Kind beim kurzen Zwischenhalt auf Wangerooge für niemanden sichtbar unter den Holzsteg ins Wattenmeer gehen lassen. Sie stellte sich schlafend, als das vierjährige Kind allein zu den wilden Kegelrobben ging. Sie ließ dieses Kind unbeobachtet auf der Hafenkante zum Meer balancieren. Sie versteckte sich in der Menschenmenge vor dem Vierjährigen. Sie schickte das Kind seeseitig auf das unsichere Vorschiff und verschloss die Tür der Aufbauten. Wegen der empfundenen Bedrohung vergaß das Kind die Reise. Später wurde bekannt, diese Frau war schon als Kind auf dem Meer mit der Motoryacht ihrer Großeltern unterwegs, hatte Bootserfahrung. Bei den geschilderten Ereignissen wirkt der damalige Zeitgeist mit. Kinder spielten unbeaufsichtigt draußen. Die Menschen hatten den mörderischen Krieg überlebt. Das Zivilleben stuften sie noch als gefahrlos ein, heute undenkbar.


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  • Autor: Wolfram Stratmann, im März 1995
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