Ein parkendes Auto und privat genutztes NS-Willensstrafrecht
Inzwischen war ich sieben Jahre alt und ging noch nicht zur Schule. Meine spätere Recherche zeigte: Ich war als Bürger des Wohnortes nicht registriert. Mich gab es verwaltungsmäßig nichtLesen Sie auch:
Ein Ausweis des Landes
[… Klick]. Als kontaktloses Flüchtlingskind war ich niemand aufgefallen. Während Vaters beruflicher Abwesenheit hatte Mutter mich nicht einschulen lassen. Nach ihrem NS-Bewusstsein war ich ein geistig zurückgebliebenes Kind, unwertes Leben, welches keine Schulbildung brauchte.PAA
Meine kindliche Situation war unverändert. Einsam schlurfte ich an der leeren Straße entlang. Es gab keine für mich sichtbaren Kinder. Vater arbeitete inzwischen in der weit entfernten Stadt. Mein einziger Kontakt war der zur übellaunigen Mutter. Wenn sie freundlich war, dann schickte sie mich raus: „Geh draußen spielen!“ Das war damals so üblich. Kinder trafen sich auf der Straße und spielten dann miteinander. So störten sie die Erwachsenen nicht bei der Erledigung ihrer häuslichen Pflichten. Offensichtlich war es Mutter egal, dass zu dieser Zeit keine Kinder in meinem Alter draußen spielten. Die Kinder waren in der Schule und jüngere Kinder spielten in dieser Gegend nicht auf der Straße.
Der Klumpen in meinem Magen machte sich wieder bemerkbar. Das Rumlaufen fiel mir schwer. Jeder Schritt erschien sinnlos. Weil es auf der Straße für mich nichts gab, wollte ich im Garten unseres Wohnhauses spielen. Da waren Beete und eine kleine offene Laube. Mutter verbot mir, dort hinzugehen: „Du machst nur alles kaputt. Geh auf die Straße!“ Aus Einsamkeitsgründen fand mein Dasein in der Gosse statt. Ich ging am Rinnstein entlang und betrachtete darin liegende Steinchen. Hin und wieder keimten in den Fugen zwischen den Rinnsteinen irgendwelche Pflanzen. An wenigen Stellen fanden sich auch runde Flechten. Die Gehwegplatten und deren Randsteine hatten öfter Höhenunterschiede und bildeten so kleine Stolperkanten. Manchmal fand ich zertretenen Hundekot mit einige Schritte weit reichenden Kotabdrücken von den Schuhsohlen. In der verlassenen Gegend liefen also doch Menschen umher.
Wenn ich des Tagesgeschehens überdrüssig war, ging ich wieder auf die Wiese und guckte nach den Fischen im Graben. Das war wirklich ein Graben, zwei Spatenstiche breit und tief. Darin waren zwei Sorten Fische. Die wenigen Fische im Graben zu beobachten war auch langweilig, zumal die meist in der schwachen Strömung an einer Stelle standen.
Ob auf der Wiese oder auf der Straße, das weiß ich nicht mehr, traf ich irgendwann einen Jungen. Der war nicht älter als ich, aber dicker. Er ging zur Schule. Wir trafen uns einige Male. Guckten zusammen in den Graben. Wenn er nach Hause ging, dann sagte er: „Ich darf dich nicht mitnehmen“ und ging alleine weg. Er sei irgendwo zu Besuch, nahm ich an. Nach einiger Zeit erkannte ich: „Der wohnt anscheinend im Haus gegenüber unserem Wohnhaus“. Das stritt er zunächst ab. Mit zu ihm rein durfte ich nicht. An seiner Haustür sollte ich nicht klingeln und nach ihm fragen. Wenn er wolle, dann käme er von alleine raus. Das war für mich nicht schön, aber besser als nichts. Der Junge blieb mir fremd. Anscheinend wurde er von seinem Wohnhaus aus beobachtet und bewegte sich befangen.
Als Kind nahm ich sein großes Haus mit viel Abstand von unserem Wohnhaus wahr. Mehr als ein halbes Jahrhundert älter stellte ich fest, zwischen dem kleinen Einfamilienhaus des Jungen und meinem Haus gegenüber waren etwa fünfzehn Meter Abstand.
Eines Tages stand vor deren Haus ein Auto. Es war entgegen der Fahrtrichtung am Straßenrand abgestellt. Das einzige Auto weit und breit. Er sagte so was wie: „Das ist das neue Auto meiner Tante“. Wir standen vor der Motorhaube. Plötzlich putzte er mit seinem Ärmel etwas von der Haube ab. Staub oder so. Ich hatte einen dunklen Trainingsüberzieher an. Der hatte unten am Ärmel einen Gummizug und war überall weich. Einer Anwandlung folgend, wollte ich ihm helfen und wischte mit meinem Ärmel auch über die Motorhaube. Er hörte sofort auf und sah in Richtung seines Wohnhauses hinter meinem Rücken. Noch einmal wischte ich, und dann gingen wir auf die Wiese zum Graben mit den Fischen. Es schien ihm aber irgendwas nicht zu passen. Dann wollte er auch keine Fische gucken und hielt Abstand zu mir. Ich beschäftigte mich mit den Fischen und wollte ihn zum Graben locken. Er kam aber nicht und wandte sich ab.
Plötzlich wurde ich von hinten gepackt und bekam von einer Frau kräftige Ohrfeigen. Sie schrie mich an, holte den Jungen, und beide gingen zurück in ihr Haus. Verschreckt auf der Wiese stehend, wusste ich nicht, wie mir geschah. Später machte ich mich weinend auf den kurzen Nachhauseweg. Es waren nur fünfzig Meter. Weil ich aber annahm, von Mutter keinen Trost zu bekommen, ging ich langsam, bis ich aufhören konnte, zu weinen. Mutter war nicht erfreut, dass ich so früh vom Spielen reinkam. Dass es mir sehr schlecht ging, interessierte sie nicht.
Weil sie mich nie beschützte und mich obendrein immer wegen irgendeines Delikts beschuldigte, das Prügel Fremder rechtfertigte, wagte ich nicht, ihr von meinem Kummer und dem Schreck zu erzählen. Damals am Sandkasten als Dreijähriger, bei den Schlägen des fremden Mannes, hatte sie mich auch nicht beschützt.
Wieso mich die fremde Frau verprügelt hatte, wollte ich wissen. Nach etwas Grübeln war ich davon überzeugt, auf der Wiese etwas falsch gemacht zu haben. Vielleicht sollte ich die Wiese nicht betreten. Eingezäunt war die Wiese nicht, sie lag nur jenseits der Straße, die ich nicht überqueren sollte.
Einige Tage später, als das Auto und die böse Frau weg waren, ging ich rüber zu dem Wohnhaus des Jungen. Dort klingelte ich trotz Verbot und fragte nach dem Jungen. Tatsächlich durfte ich rein und kam zu Erwachsenen. Die fragten: „Was willst du denn?“ „Ich möchte den Jungen zum Spielen abholen“. Während die Leute einen Moment nachdachten, konnte ich sehen, dass man aus diesem Zimmer die ganze Straße überblicken konnte. Die hatten mich vermutlich, seit ich dort wohnte, auf der Straße gesehen. Zunächst fragten sie, ob ich zur Schule gehe. Das verneinte ich. Dann fragten sie, wie alt ich sei. Ich antwortete „sieben“. Es gab Gemurmel. Man erklärte mir dann, der Junge ist sechs Jahre alt und ich müsse jünger sein, weil ich nicht zur Schule ginge und keine Hausaufgaben machen müsse. In dem Augenblick kam der Junge hinter einer Glasschiebetür hervor. Dann sagten sie mir: „Der Junge darf nicht mit dir spielen!“ Die klare Aussage akzeptierte ich und ging. Diesen Jungen sah ich nie wieder. Vermutlich hatten diese Leute dazu etwas Organisationsaufwand, denn wir wohnten nahe und ich ging bei jedem Wetter um.
Abermals flanierte ich in der Gosse. Mein Klumpen im Magen wurde immer schwerer und meine Schritte erschienen mir noch sinnloser. Nun begegnete ich niemandem mehr. Auf die Wiese zu dem Graben und den Fischen ging ich auch nicht. Wegen der Prügel von der Frau nahm ich an, das sei verboten. Lustlos taperte ich nur noch zwischen dem Damm mit der Hauptstraße, den davorliegenden Feldern und unserem Wohnhaus umher.
Der Kontaktversuch zur einheimischen Bevölkerung war auch dieses Mal gescheitert. Wegen meiner familiären Einsamkeit wünschte ich mir einen Freund, aber nichts klappte. Danach trug ich tief bedrückt meine Perspektivlosigkeit auf den mir zugänglichen dreihundert Metern trister Stadtstraße umher. Es wird ein schwerwiegendes Nachspiel geben.
In unserem häuslichen Briefkasten lag ein Brief. Der war von der Polizei. Den Brief noch ungeöffnet in der Hand, verdächtigte Mutter mich und fragte prophylaktisch: „Was hast du wieder gemacht?!“ Mir war nichts Böses bewusst. Dann stellte sich heraus, mit dem Brief wurden die Erziehungsberechtigten zur Befragung wegen einer Straftat ihres Kindes vorgeladen. Wütend herrschte mich Mutter nochmal an: „Was hast du gemacht?!“.
Was gemeint war, wusste ich nicht. Sie konnte aus dem Text erkennen, dass die Sache etwas mit einem Auto in der Nachbarschaft zu tun hatte. Mit dem Brief ging sie zum Nachbarhaus und fragte nach. Dort erklärte man ihr, ich hätte ein Auto zerkratzt. Mutter müsse die Neulackierung bezahlen und man habe Strafanzeige erstattet, damit ich bestraft werde.
Mit gesteigerter Wut kam Mutter zurück in unsere Wohnung und stellte mich zur Rede. Dabei erkannte ich, dass es sich um das Auto handelte, über dessen Motorhaube ich mit dem Ärmel meiner Trainingsjacke gewischt hatte. Beschädigt hatte ich mit dem weichen Ärmel nichts. Wegen der Anschuldigung war ich verblüfft.
Heute kann ich nur spekulieren: Eventuell war das Auto ein Gebrauchtwagen und hatte schon Kratzer. Vielleicht zeigte sich damit auch wieder der Flüchtlingshass in dieser Stadt.
Im Laufe des Ermittlungsverfahrens wurde die Beschädigung umfangreicher. Nun war das Auto rundherum zerkratzt.
Diese Tat warf mir Mutter nun vor. Dazu erzählte ich ihr, dass ich mit dem Ärmel der Trainingsjacke über die Motorhaube gewischt hätte, nachdem der Nachbarjunge damit anfing. „Gekratzt habe ich nicht. Der Ärmel ist auch ganz weich“. Meine Jacke hatte keinen Reißverschluss und keine Knöpfe, sie bestand nur aus weichem putzlappenähnlichem Stoff. Mutter kannte die Trainingsjacke, glaubte mir jedoch nicht.
Während ihres aggressiven Verhörs erzählte ich ihr, dass eine Frau mich auf der Wiese verhauen hatte. Mutter sah das als gerechte Strafe an und erklärte: „Das geschieht dir recht“.
Anschließend war sie mit sich selbst beschäftigt. Wegen der Vorladung aufgeregt. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten solle. Eventuell versuchte sie, den Vorladungstermin auf meinen dreihundert Kilometer entfernt arbeitenden Vater abzuwälzen. Das gelang ihr nicht und sie musste sich der Polizei wegen des schlechten Kinds stellen. Wegen ihres Bestrebens nach einer besseren gesellschaftlichen Stellung muss es sich für sie wie das Abrutschen in die Kriminalität angefühlt haben. Verursacht von dem schlechten Kind. Sie ging mit meinem kleinen Bruder im Kinderwagen dorthin. Währenddessen musste ich mich auf der Straße bei unserem Wohnhaus aufhalten. Was bei Mutters Polizeibesuch geschah, blieb mir verborgen. Ob sie dabei befürchtete, dass ich in der Zeit erneut unbeaufsichtigt eine Straftat begehen könnte, blieb unbekannt. Vermutlich war sie in vielschichtigen Nöten.
Dann gab es einen Gerichtstermin in dieser Sache. Die Erziehungsberechtigten wurden dazu vorgeladen. Mutter war sehr aufgeregt, weil sie auch dort ohne ihren Mann hingehen musste.
Anscheinend lief das Verfahren nach immer noch geltenden Regeln des untergegangenen NS-Staates gegen mich und ich wurde von den Erziehungsberechtigten vertreten.
Meine Recherche dazu zeigt eine Besonderheit. Das Verfahren begann in diesem neuen Staat teilweise noch nach dem NS-Recht. Nach dem neuen Jugendgerichtsgesetz von 1952 waren siebenjährige Kinder nicht mehr strafmündig. Bis dahin und zu Nazizeiten waren Kinder ab dem Alter von sechs Jahren strafmündig und wurden in Erziehungsheime gesteckt, die teilweise Konzentrationslagern angegliedert waren. Dort wurden sie als „Volksschädlinge“ der Euthanasie zugeführt. Nach dem immer noch geltenden Jugendwohlfahrtsgesetz(RGB. I, S. 633) von 1922 konnten Kinder, die Falsches getan hatten, weiterhin in Erziehungsheime gesteckt werden. Dieses Recht wendeten die deutschen Nachkriegsbehörden oft an. Erst am 25. April 1977 wurde eine grundlegende Neufassung dieses Gesetzes(BGBl. I. S. 633, S. 795) verkündet.
Andererseits kann das Gerichtsverfahren auch nach den neuen Rechtsregeln gelaufen sein. Gemäß diesen wurde nicht das Kind angeklagt, sondern die Eltern, wegen Verletzung der Aufsichtspflicht. Für Mutter wäre das der schwierigere Fall gewesen, weil sie nach ihrem Empfinden wegen des schlechten Kindes unschuldig angeklagt wurde. In der Tatsache, dass sie dieses Kind permanent unbeaufsichtigt auf die Straße schickte, war für sie keine Pflichtverletzung erkennbar. Sie fühlte sich bei beiden Verfahrensansätzen unschuldig.
Mutter ging zu dem Gerichtstermin mit der Überzeugung, für ihr Kind bestraft zu werden und Schadensersatz leisten zu müssen. Sie war von meiner Täterschaft überzeugt. Schließlich hatten die Nachbarn ihr versichert, dass ich das Auto zerkratzt hätte. Den ehrbaren Leuten konnte sie glauben. Mutter drohte mir: „Wenn du lügst, dann kommst du ins Erziehungsheim, und wenn ich zahlen muss, dann bekommst du das zu spüren. Dir gebe ich dann nichts mehr!“
Von dem Gerichtstermin kam sie missmutig zurück. Irgendwas passte ihr nicht. Mir war das ungeheuer. Sie sagte nur, als ob das bei der Gerichtsverhandlung festgestellt wurde: „Du hast doch gelogen!“
Weil Mutter nicht mit mir reden wollte, fragte ich Vater, als er wieder von seiner auswärtigen Arbeit nach Hause kam. Er sagte mir: „Du und wir haben Glück gehabt, etwas früher, und du wärst bestraft worden. Das Jugendstrafrecht wurde geändert. Kinder von sieben Jahren sind nun nicht mehr strafmündig. Du konntest nicht bestraft werden. Außerdem dürfen Erwachsene jetzt keine fremden Kinder mehr züchtigen, oder ohrfeigen. Die Frau, die dich gehauen hatte, beging deshalb eine Straftat. Der Richter urteilte salomonisch, indem er die beiden Taten miteinander abwog und beide Parteien ohne Strafe wegschickte. Du wirst nicht bestraft, die Frau wird nicht bestraft und wir brauchen die angebliche Neulackierung des Autos nicht bezahlen.“
Daraufhin fragte ich mich: „Warum hatte Mutter mir das nicht erzählt?“
Froh war ich nicht über diese Form der Gerechtigkeit. Mir wäre es lieber gewesen, wenn vor Gericht herausgekommen wäre, dass ich nichts zerkratzt hatte. Ich wusste ja, dass ich nichts zerkratzt hatte.
Solange Vater da war, verhielt sich Mutter verdächtig ruhig. Als wolle sie zum nächsten Schlag ausholen.
Als Vater aber wieder zur auswärtigen Arbeit abgereist war, begann Mutter mich zu beschimpfen. Sie zeigte mir deutlich, dass sie nicht mit einem lügenden Straftäter zusammenwohnen könnte. Auf die Idee, mich mehr in das Familienleben einzubeziehen und weniger unbeaufsichtigt auf die Straße zu schicken. kam sie nicht. Sie verhielt sich wie eine höherstehende Person, die genau wusste, was das niedere Individuum, der Untermensch, dachte und die berechtigt war, es dafür zu bestrafen. „Du hast das Auto zerkratzt, gib es doch zu. Wenn du das nicht gewesen wärst, dann hätten die Nachbarn doch gar keinen Prozess angefangen!“ Schlitzohrige Feindlichkeit gegenüber Flüchtlingen konnte sie bei den Nachbarn nicht erkennen.
Jedes Mal widersprach ich Mutters Vorhaltungen und wies auf den komplett weichen Ärmel meiner Trainingsjacke hin. In Mutters Wahrnehmung wurde der sehr weiche Ärmelstoff meiner Jacke anscheinend immer härter. Möglicherweise konnte sie sich in ihrer Rage nicht mehr an diese Jacke erinnern. Zum Anziehen bekam ich die Jacke nicht mehr.
Nun begann der für mich unerträgliche Psychoterror. Diese Frau fing immer wieder davon an und machte mir mein Leben zur Hölle. Sie wollte mir nicht glauben. Dabei wurde sie mir immer fremder.
Natürlich musste ich weiter auf der Straße „spielen“. Immer mit der Ermahnung: „Man kann dich eigentlich nicht rauslassen, du begehst ja Straftaten!“ Trotzdem jagte sie mich raus. „Geh nicht weit weg, bleibe bei unserem Wohnhaus!“ Damit glaubte sie, ihrer Aufsichtspflicht Genüge zu tun. Tatsächlich versuchte ich, ihre Anweisung zu befolgen. Täglich, viele Stunden, taperte ich etwa fünfzig Meter weit am Bürgersteig vor dem Haus auf und ab.
Mein Klumpen im Magen begann zu schmerzen und meine Schritte erschienen mir noch sinnloser als vorher. Nun durfte ich nicht mehr in der Wohnung in einer Ecke spielen, sondern musste draußen sein, ohne etwas zu tun. Mir war nicht klar, woher meine Magenschmerzen kamen. Davon Mutter zu berichten, erschien mir sinnlos. Es war eine Krankheit, so viel ahnte ich.
Draußen beschäftige ich mich in der Gosse wieder mit den Pflanzenkeimen, Moosen und Flechten. Mit der Detailbetrachtung verging die Zeit. Diese Natur bedrohte mich nicht und gab mir Ruhe. Den Hundekot mit menschlichen Fußspuren traute ich mich nicht mehr anzusehen, es erschien mir verboten, menschliche Handlungen nachzuvollziehen.
Drinnen keifte Mutter weiter. Die Vorwürfe wurden immer häufiger: „Sag doch endlich, dass du das Auto rundherum zerkratzt hast. Gib es zu. Wann kriege ich eine ehrliche Antwort? Wenn du weiter lügst, dann kommst du ins Erziehungsheim.“ Standhaft widersprach ich, weil ich an die Wahrheit glaubte.
Mutters Vorwürfe blieben mir lästig. Aus meinem selbstschützenden gedanklichen Abstand, mit dem ich diese Frau betrachtete, erschien sie mir abgedreht. „Was wollte die eigentlich? Wie konnte ich diese Meckerei und die unberechtigten Vorwürfe nur abstellen?“ In mir tobte ein Konflikt: „Soll ich weiterhin die Wahrheit sagen, dazu war ich erzogen, oder sollte ich die gewünschte Unwahrheit sagen und die Tat zugeben?“ Mutter kam mir nicht so vor, als würde sie mein Dilemma überhaupt begreifen. Deshalb hielt ich sie inzwischen für hoffnungslos dumm. Dass ihr Verhalten nazimäßig war und üble Absichten verfolgte, wusste ich nicht. Auch nicht vom narzisstischen Anteil solchen Verhaltens.
Weil sowieso egal war, was ich tat, entschloss ich mich, zu lügen und die Tat zuzugeben. Sofort war Ruhe. Sie hatte es gewusst. Aus meiner Lüge folgerte sie: „Siehst du, du musst immer die Wahrheit sagen.“ Ich wendete mich angewidert ab. Verachten konnte ich sie nicht, sie war meine Mutter.
Das Leben folgte nun seinem damaligen Alltag. Draußen schritt ich weiter mit meinem quälenden Kloß im Magen, ohne Hoffnung, aber weisungsgemäß, vor unserem Wohnhaus auf und ab. Es war alles hoffnungslos und ich wusste, sterben kann ich nicht, ich muss das aushalten.
Auch wenn Mutter sicher war, ich hätte wegen meiner Rassenmerkmale einen schlechten Charakter, sei dumm und könne die Prozesssache nicht verstehen, oder wäre zu den hier beschriebenen kindlichen Denkleistungen nicht fähig, so hatte ich umgekehrt von ihr den Eindruck, sie sei dumm und unabänderlich starrsinnig.
Die Gedanken, sterben zu können, um dem Traktat dieser Frau zu entgehen, erinnere ich deutlich, sogar an Stellen auf dem Bürgersteig, an denen sie mich überwältigten. Vielleicht bildete sich hier die natürliche Überlebenstaktik der dissoziativen AmnesieDissoziative Amnesie ist eine Gedächtnisstörung (Gedächtnisverlust), die durch Traumata oder Stress ausgelöst wurde und zur Unfähigkeit führt, sich an wichtige persönliche Informationen erinnern zu können aus.
Währenddessen suchte Mutter Hilfe beim Jugendamt um das kriminelle Kind loszuwerden. Das war damals als besondere staatliche Erziehungshilfe für Flüchtlinge möglich. Die Aktion misslang trotz oder wegen des Besuchs des Jugendamtes.


