Der Klassenspiegel und ein blauer Brief 1957
Im Jahr 1957 besuchte ich eine Schule, schließlich gab es die Schulpflicht und ich konnte nicht länger versteckt werden.
Die Verhältnisse in den Schulen waren anders als heute. Damals fertigten die Lehrer in Schulen Klassenspiegel an. Das waren Listen, mit denen die Schule die Sozialstruktur einer Schulkasse darstellte. Damit ermittelte man das Bildungspotenzial der Schulklasse, welches dann mittels Notengebung anzustreben war. Warum sich diese in der NS-Zeit besonders gepflegte Grundlage der Schülerbewertung noch in meiner Grundschulzeit hielt, konnte ich nicht eindeutig recherchieren.
Zur Ermittlung der Sozialdaten befragten die Lehrer die Eltern der Schulkinder. Daraus konnte, je nach Weltanschauung, die Zuordnung der Eltern und damit auch eine Bildungsprognose für deren Kinder erfolgen. In der deutschen konservativen Standesdenkweise war es die opportune, sozial korrekte Vorgehensweise.
Die ermittelte Sozialstruktur der Schulklasse fand Berücksichtigung bei der Benotung von Schülern. Damit konnte die Gaußsche Verteilungskurve für die Benotung der Klasse pflichtgemäß eingehalten werden. Auch die Sitzordnung in den Klassenräumen richtete sich danach. Oft saß ich abseits. Die Kinder von gebildeten und Unternehmereltern saßen weiter vorne und mittig. Das hatte bei Klassen mit über vierundsechzig Schülern eine gewisse Bedeutung.
Für alle, die das Lehrerproblem zur Verteilung der Noten nach der Gaußschen Verteilungskurve nicht kennen, hier ein Erklärungsversuch:
Der Lehrer musste wenige sehr gute und wenige sehr schlechte Noten geben. Zur Mitte der Kurve hin mussten viele Noten erteilt werden. Neben jeder erteilten Note für eine Klassenarbeit wurde ein Kästchenbalken mit der Verteilung der Noten eingetragen. So konnten Interessierte sehen, wo die Leistung eines Schülers im Vergleich mit der Klasse stand. Manche Lehrer hatten ihre intellektuelle und moralische Not damit. Einer dieser Lehrer erklärte uns Schülern das System dieser Notenfindung auf statistischer und sozialer Klassenspiegel-Basis und beklagte sich darüber, weil es nicht leistungsbezogen sei.
Wie so ein Klassenspiegel meinen Unterricht beeinflusste, soll dieses Beispiel verdeutlichen:
Der Lehrer stand im Frontalunterricht vor der Klasse und stellte eine Frage. Zur Beantwortung wurde ich aufgerufen. Ich saß abseits am Rand des Klassenraums. Dazu musste ich aufstehen und dann antworten. Das tat ich. Der Lehrer stellte fest: „Setzen, vier!“ Nach mir sollte ein vorne in der Mitte sitzendes Arztkind, ein Mädchen, die gleiche Frage beantworten, sie hatte nicht richtig aufgepasst, brauchte nicht aufzustehen und wiederholte verdutzt meine Worte. Der Lehrer: „Sehr gut, eins.“ Das machte mich wegen der Ungerechtigkeit ärgerlich. Diese Form des Unterrichts erzeugte keine Lernfreude und machte auch keinen Mut zur Beteiligung an solchen Prozeduren.
Aber bevor es so weit kam, wurde der Klassenspiegel gefertigt. Dazu lud der Klassenlehrer die Eltern in den Klassenraum ihrer Kinder ein. Die Eltern hatten ihr Alter, die soziale Herkunft, ihre momentanen Berufe und den Arbeitsort zu nennen. Die zur sozialen Einstufung auch herangezogene Wohngegend war wegen des Schulbezirks überwiegend bekannt.
Vor diesem Hintergrund gab es den notwendigen Elternnachmittag. Uns Kindern wurden in der Schule Einladungen in blauen Briefumschlägen mitgegeben. Diese waren an die Eltern adressiert und wir Kinder sollten die Einladungen den Eltern überbringen. So sparte man das Porto und den Postweg.
Blaue Briefe waren eine negative Institution und erschreckten Kinder wie Eltern. Sie wurden wie Vorladungen bei Behörden wahrgenommen. Unter Schulkindern hieß es spöttisch: „Iiih, der bekommt einen blauen Brief, der muss aufs Brettergymnasium!“, weil so einen Brief vermutlich Sitzenbleiber bekamen. Als Brettergymnasium wurde die minderwertig eingestufte Hilfsschule bezeichnet.
Den erhaltenen Brief gab ich Mutter am gleichen Tag und es gab Zoff. „Du hast einen blauen Brief bekommen? Was hast du angestellt? Gib her!“ Mutter nahm mir den Brief mit einem Ruck weg und legte ihn gut sichtbar beiseite. „Den machen wir auf, wenn dein Vater nach Hause kommt, dann kannst du was erleben!“
Sie schlich immer wieder am Brief vorbei und fragte mich dann, was ich angestellt hätte. Für sie wurde immer klarer, ich musste etwas sehr Schlimmes angestellt haben, sonst gäbe es keinen blauen Brief. „Wenn du von der Schule fliegst, dann kommst du in ein Erziehungsheim!“ drohte sie.
Vater machte den Brief auf, las ihn und verkündete dann: „Wir sollen in die Schule kommen. Am übernächsten Samstag.“ Für Mutter war nun klar, ich hatte so viel angestellt, dass die Eltern vorgeladen wurden. Weil sie vergessen hatte, dass ich ihr den Brief freiwillig gab und in dunkler Vermutung meiner Verschleierungsabsicht fragte sie vorwurfsvoll: „Wie lange schleppst du den Brief schon mit dir rum?“
Der verdutzte Vater hatte seine Mühe, Mutter verständlich zu machen, dass der Brief eine an die Eltern gerichtete Einladung sei. Es wurde ein Elternnachmittag veranstaltet. An einem Samstag. Der Junge hatte keine böse Tat begangen. Damals gingen Kinder auch samstags zur Schule. Die Eltern sollten am Nachmittag in die Schule kommen.
Mutter blieb bei ihrer misstrauischen Protesthaltung: „Da gehe ich nicht hin. Das muss Vater machen!“ Zwischen den Eltern entwickelte sich eine hitzige Diskussion.
Mutter schien in Not zu geraten, sträubte sich immer mehr und begann eine innerfamiliäre Datenschutzinitiative. Sie wollte in der Schule auf keinen Fall persönliche Daten nennen.
Vater meinte, „Da muss man hin, aber ich kann nicht, weil ich an dem Nachmittag auswärts arbeite und nicht freibekommeMan arbeitete damals auch samstags bis Mittag.. Deshalb musst du hingehen. Das ist doch nur ein Treffen, wo sich die Eltern untereinander kennenlernen und wo die Eltern mit dem Lehrer sprechen können. Eben ein Elternnachmittag. Das ist alles unaufgeregt und man braucht sich davor nicht zu drücken. Es sind doch nur vierhundert Meter bis zur Schule.“ Daraufhin sah Mutter wegen dringend anstehender häuslicher Pflichten keine Möglichkeit hinzugehen. Er solle sich bei der Arbeit freinehmen. Das sei seine Pflicht, weil er zu wenig für die Familie täte.
Vater wollte das Argument von Mutter nicht gelten lassen, weil sie meinen Bruder, das kleine Kind, im Kinderwagen mitnehmen könne. Mutter hielt dagegen, sie müsse mich dann allein zuhause lassen, und das ginge überhaupt nicht. Sie könne da nicht hingehen, er, der Vater müsse seine Pflicht erfüllen und hingehen. Vater sah keinen ernsthaften Grund, weshalb Mutter nicht mit ihren beiden Kindern dahin gehen könnte. Um aus der für ihn sinnlosen Diskussion heraus zu kommen, schlug er vor: „Lass doch den Schüler, unseren Jungen, gehen. Es ist seine Klasse.“ Das lehnte Mutter ab. Sie behauptete: „Der erzählt dort nur Unsinn und kann bei Rückfragen nicht antworten!“ Vater meinte: „Dann geben wir ihm einen Zettel mit, oder das Familienstammbuch, da steht alles drin.“ Damit war Mutter erst recht nicht einverstanden.
Als der Samstag-Nachmittag kam, wurde Mutter immer unruhiger und schickte mich dann alleine los. Sie gab mir das Familienbuch und bestimmte: „Lass niemanden, auch nicht Frau D.(Name geändert), reinsehen. Zeig es nur dem Lehrer. Wenn dich jemand nach dem Beruf der Eltern fragt, dann sagst du, Vater ist Büroangestellter und Mutter ist Hausfrau!“
Mir schwante, ihr war irgendetwas sehr peinlich. Sie hatte etwas zu verbergen. Dann vergatterte sie mich noch wegen meines Geburtsdatums: „Wenn dich dazu jemand fragt, dann sagst du, du bist eine Frühgeburt!“ Die Anweisung kam mir spaßig und sinnlos vor, weil Mutter mir nicht erklärte, worum es tatsächlich dabei ging.
Mutters Verhalten nahm ich als Problemoper wahr und verstand den Grund nicht. Mir waren das Familienstammbuch und der Beruf meiner Eltern egal. An meiner Geburt konnte ich auch nichts Fehlerhaftes erkennen. Also musste ich nur das Familienbuch wieder mit nach Hause bringen. Außerdem hatte ich keine Lust, auch noch nachmittags in die Schule zu gehen.
Der Klassenraum war voll. Da standen viele Eltern und sprachen miteinander. Einige waren mit ihren Kindern gekommen. Als einziges Kind war ich ohne Eltern da. Der rothaarige Junge ohne Eltern fiel auf. Der Lehrer rief die Eltern nach seiner Schülerliste zu sich und sprach mit ihnen. Währenddessen saß ich an meinem Platz und wartete. Dann kam Frau D. von hinten, nahm mein Familienstammbuch und guckte rein. Dagegen konnte ich mich nicht wehren. Sie gab es mir zurück und ging wieder zu den umstehenden Eltern.
Nach einiger Zeit musste ich an das Lehrerpult kommen. Man sah das Familienstammbuch an und schmunzelte. „Was sind denn deine Eltern von Beruf?“ „Vater ist Büroangestellter und Mutter ist Hausfrau“, gab ich weisungsgemäß an. „Hat deine Mutter denn keinen Beruf?“ „Das weiß ich nicht, ich soll ‚Hausfrau‘ sagen“. „Du bist aber kurz nach der Hochzeit deiner Eltern geboren?!“, stellte der Lehrer fragend fest. Darauf antwortete ich, wie mir Mutter auftrug: „Ich bin eine Frühgeburt.“ Rundherum gab es bei den Eltern Heiterkeit. Man gab mir das Familienstammbuch zurück und ich durfte mich wieder hinsetzen. Nach einer Weile hieß es: „Du kannst jetzt nach Hause gehen.“ Froh, da wegzukommen, machte ich mich auf den Weg, allerdings langsam.
Mutter erwartete mich bereits. „Hast du dich an meine Anweisungen gehalten. Ich hätte dich da nicht alleine hinschicken dürfen. Vater hätte hingehen müssen, der hat sich aber gedrückt. Was ist passiert?“ „Eure Berufe habe ich genannt. Als ich sagte, ich sei eine Frühgeburt, lachten die Umstehenden.“ „Hat Frau D. in das Familienbuch gesehen?“, fragte Mutter aufgebracht. „Ja, sie hat es mir weggenommen.“
Nun platzte Mutter der Kragen: „Du solltest es doch niemandem zeigen! Ich will aus dieser Stadt sofort weg. Dich kann man auch nichts machen lassen. Du bist schuld, dass wir uns hier nirgendwo mehr sehen lassen können. Was sollen die Leute nur denken?“ Völlig verdattert, wusste ich nicht, worum es geht. Es war nichts Böses passiert. Ich wusste nur, dass ich dort als elternlos erschienenes Kind fehl am Platz war, schließlich hatte man meine Eltern eingeladen und erwartet. Für diesen Meckeranfall von Mutter hatte ich kein Verständnis. Ging das schon wieder los?
Sie hörte nicht auf: „Warte nur, wenn Vater nach Hause kommt, dann versohlt er dir den Hintern. Du hättest tun müssen, was man dir sagt. Du hast uns verraten, uns ruiniert, entehrt. Ich kann hier nicht mal mehr einkaufen gehen!“ Langsam dämmerte mir, hier war irgendein Familiengeheimnis im Spiel. Der Klumpen in meinem Magen machte sich wieder bemerkbar.
Als Vater nach Hause kam, meckerte Mutter mit ihm weiter und verlangte, dass er mir eine Tracht Prügel verpassen solle. Das tat er nicht. „Der Junge hat das doch gut gemacht. Du hättest ja hingehen können.“ Er konnte die Aufregung von Mutter nicht verstehen. Sie zielte mit ihrer Wut wieder auf mich. „Du hast uns verraten, das verzeihe ich dir nie!“
Vater sah keinen Verrat in meinem Verhalten, zu ihm wütete sie: „Hättest du dich nicht um den Schulbesuch gedrückt, dann wäre das nicht passiert. Ich will in dieser Stadt nicht bleiben. Wir müssen sofort umziehen. Mein Ruf ist ruiniert. Wie stehe ich denn jetzt vor den Leuten da?!“
Vater blieb ruhig und beschützte mich. „Der Junge kann doch nichts für das, was in dem Familienbuch steht. Da steht die Wahrheit drin, und die ist nicht schlimm. Das gibt es tausendfach und hat jetzt keine nachteilige Bedeutung mehr!“ Für Mutter war die Front zu mir verstärkt. Sie wollte mich Verräter loswerden. „Du schadest meiner Familie!“ Dieser Vorwurf und der Ausschluss aus der Familie blieben mir stets gegenwärtig.
Meine Recherche zeigte später, diese Frau war evangelische NS-ChristinDie Deutschen Christen (DC) waren eine rassistische, antisemitische und am Führerprinzip orientierte Strömung im deutschen Protestantismus, die diesen von 1932 bis 1945 an die Ideologie des Nationalsozialismus angleichen wollte.,nach deren Regeln war meine Geburt eine Sünde, die sie entehrte. Wobei die kirchliche Strafe für die Sünde gegen das Sündenkind gerichtet wird. Zusätzlich wusste sie, gemäß der NS-Ideologie war ich als unwertes Leben geistig behindert. Sie wusste deshalb, ich sei das dümmste Kind in der Schule. Darum ist mein Vater nicht zu dem Elternnachmittag gegangen. Ihre persönliche Not bestand im gefühlten Ansehensverlust, weil man nun von meiner Geburt wusste und weil sie so als Mutter des dümmsten Kindes der Schule erkannt wurde. Sie empfand einen tiefen Fall von ihrer Arier-NS-Karriereposition zur Mutter des dümmsten Untermenschen der Gegend. Dieses Ereignis wurde von meiner dissoziativen Amnesie geschluckt. Danach musste ich für die Familie einkaufen gehen.


