Damals … Erinnerungen 1935 -1948
Bombenkrieg und Feuersturm
Überschattet wurde unsere Kindheit durch die Auswirkungen des Krieges. 1941 machten wir die ersten Erfahrungen mit den Bombenangriffen. Ich erinnere mich an eine Nacht, es muss im Frühjahr 1942 gewesen sein, in der mein Cousin Werner bei uns schlief. Wir wollten am nächsten Tag nach Jenfeld in unseren Schrebergarten (heute Görlitzer Straße 21) fahren. Omi und Mutti hatten schon Vorbereitungen getroffen: Auf der Fensterbank in der Küche standen ein Mittagessen in der Aluminiummilchkanne und andere Lebensmittel zum Mitnehmen. Bevor Werner und ich ins Bett gingen, baten wir auch im großen Schlafzimmer schlafen zu dürfen und nicht im Kinderzimmer. Natürlich durften wir und das war unser Glück. Als nachts die Sirenen zu heulen begannen, nahmen wir es zwar zur Kenntnis, aber nicht allzu ernst.
Bisher war die Gefahr noch nicht so groß gewesen und wir meinten, oder vielmehr Omi und Mutti meinten, mit dem Aufstehen und dem Aufsuchen des Luftschutzkellers noch warten zu können. Dazu muss ich sagen, dass wir im obersten Stockwerk wohnten. Dann ging alles sehr schnell: Ganz in der Nähe schlugen die Bomben ein, wir hörten die Detonationen, das Krachen und Bersten, spürten den Luftdruck. Mutti und Omi hüllten Werner und mich in Decken und eilten mit uns die Treppen hinunter in den Luftschutzkeller. Als wir nach der Entwarnung (bestimmter Sirenenton beim Ende des Bombenangriffs) in die Wohnung zurückkehrten, wurde uns klar, was uns Kindern geschehen wäre, wenn wir in unserem Kinderzimmer geschlafen hätten. Die Fensterrahmen waren herausgerissen, das Holz zersplittert, Möbel und Fußboden waren übersät mit spitzen Glasscherben. Der Käfig mit unserem Kanarienvogel, der seinen Platz am Küchenfenster gehabt hatte, war unten in den Hof geschleudert worden. Irgendwo zwischen den Trümmern lag die verbeulte Milchkanne.
Wenige Monate später, die Renovierung war gerade abgeschlossen, wurde unsere Wohnung zum zweiten Male schwer beschädigt. Omi, Rosi und ich hielten uns zu der Zeit bei Tante Lotti in Nickelsdorf/Oberschlesien auf. Mutti war allein zu Hause und für diese Nacht zum Luftschutzdienst eingeteilt, das heißt, sie durfte beim Bombenangriff nicht in den Luftschutzkeller gehen, sondern sie hatte die Aufsicht über unsere Etage und musste eventuell Brandbomben löschen. Es war ein schwerer Angriff, Spreng- und Brandbomben zerstörten einige Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite; viele Gebäude in der Hamburger Straße, darunter die große Bäckerei Kloß, lagen in Trümmern – und auch viele Menschenleben waren zu beklagen.
Der Dachstuhl unseres Hauses war schwer beschädigt, in die Nachbarwohnung war eine Brandbombe eingeschlagen, die von Mutti gelöscht werden konnte. Wieder waren die Wohnungen ohne Fensterscheiben. In meiner Erinnerung sehe ich mich in der Küche auf dem Schoß meiner Mutter sitzen, glücklich wieder bei ihr zu sein nach unserer Rückkehr aus Oberschlesien und höre sie erzählen, wie sie bei dem Angriff durch das Treppenhaus geschleudert wurde und gedacht hatte, es wäre das Ende und Omi müsste mich allein großziehen.
Aber das schrecklichste Jahr der Bombenangriffe lag noch vor uns. Im Juli 1943 haben die großen Schulferien begonnen und wir wollten diesen strahlenden Sommer in unserem Schrebergarten etwas außerhalb Hamburgs verbringen. Der Garten war tausend Quadratmeter groß und es wuchsen hier viele verschiedene Obstbäume, Stachel- und Johannisbeeren und herrliche Erdbeeren. Die kleine Holzlaube bestand aus zwei Räumen, einer kleinen Wohnküche und einem Schlafraum mit einem Etagenbett und einem Einzelbett. Und dann gab es hinter der Holzlaube natürlich noch das Extra-Häuschen mit dem Herzen in der Tür.
Mutti hatte Urlaub und Tante Lotti war aus Oberschlesien ausgereist, um uns einige Wochen zu besuchen. Wir hatten wie immer viel Spaß miteinander. Ich erinnere mich an eine Begebenheit wenige Tage vor den Bombenangriffen. Rosi und ich wollten unserer Tante Lotti einen Bach am Ende des Schrebergartens zeigen, der sogar einen kleinen Steg besaß. Wir beiden Mädchen trugen lange weiße Latzhosen aus Leinen, die Tante Irmgard für uns genäht hatte. Als wir nun an den Bach kamen, betrat Rosi wohl etwas zu forsch den bewussten Steg, und da er glitschig vom Moos war, glitt sie aus und rutschte der Länge nach über die Stegbretter. Die Folge war, dass die schöne weiße Hose jetzt eine nasse, grüne Rückseite hatte. Auf dem Heimweg meinte Tante Lotti, wir sollten Rosi vielleicht zum Trocknen über den Zaun hängen und machte Anstalten, diesen Vorschlag in die Tat umzusetzen. Das brachte uns Mädchen zum Lachen und es gefiel uns sehr, dass Tante Lotti so lustig war.
In der Nacht zum 25. Juli 1943 begannen die entsetzlichsten Bombenangriffe, wie wir sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfahren hatten. Als in der ersten Nacht die Sirenen heulten, suchten Omi, Mutti, Tante Lotti und ich einen der beiden Splitterschutzbunker auf dem nahegelegenen Sportplatz auf. Es bestand aus rechteckigen Betonkästen, die mit Sand gefüllt und oberhalb der Erde aufeinander gesetzt waren. Dieser Bunker schützte vor den Bombensplittern, hätte aber einem Bombentreffer nie standhalten können. In diesem Bunker befanden wir uns zusammen mit einigen Nachbarn aus den Schrebergärten, und es war unser Glück, dass wir uns nicht in unserer Wohnung in der Wohldorfer Straße aufhielten, als das Inferno über Hamburg hereinbrach. Nie werde ich diese Nächte vergessen, das ständige Dröhnen der Flugzeuge, das Pfeifen der Bomben, die Einschläge und Detonationen und diese entsetzliche Angst, die unsere Köpfe immer tiefer sinken ließ.
Wir blieben verschont. Eine Sprengbombe verfehlte unseren Bunker um knappe zwanzig Meter, bildete eine kleine Vertiefung im Erdreich, explodierte dann am nächsten Tag und riss einen großen und tiefen Trichter, wenige Minuten nachdem Mutti noch mit dem Fahrrad an dieser Stelle gestanden hatte. Es erschien uns wie ein Wunder, dass wir bewahrt blieben.
Tante Lotti, die bisher noch keinen Bombenangriff erlebt hatte, entschloss sich, so schnell wie möglich nach Oberschlesien zurückzukehren und unsere eventuelle Einquartierung vorzubereiten. Wie es ihr gelang, unter diesen Umständen einen Zug zu erreichen, erinnere ich mich nicht.
Am 30. Juli 1943, nach der schrecklichsten Nacht des Feuersturms im Bereich Barmbek/Uhlenhorst, versammelte sich die ganze übrige Familie in unserem Schrebergarten. Onkel Arthur, Tante Irmgard, Rosi, Gisela, Werner und der Vater von Onkel Arthur (Adolf Heß) erreichten uns mit einem vierrädrigen Deichselwagen, auf dem sich einige Habseligkeiten befanden, die sie aus der brennenden Wohnung gerettet hatten. Onkel Arthurs Mutter (Tante Anna) war in einem Luftschutzkeller durch Splitter verletzt worden und befand sich im Lazarett. Grotesk der Anblick, der sich uns bot: Onkel Adolf zog den Deichselwagen und trug auf dem Kopf einen Hut seiner Frau. Es zählte nur eins: Davongekommen und am Leben zu sein!
Auch unsere Wohnung war in dieser Nacht ausgebombt. Wir entschlossen uns, Hamburg zu verlassen und zu versuchen, nach Oberschlesien zu Tante Lotti und Onkel Richard zu gelangen. Wir machten uns also auf den Weg und zogen mit dem Deichselwagen zum Bahnhof Bergedorf, vorbei an brennenden Häusern.Die Luft war erfüllt von schwarzen Aschenflocken, die Sonne konnte den Dunst nicht durchdringen. In Bergedorf erreichten wir einen Güterzug, und in dem mit Stroh ausgelegten Waggons verließen wir schließlich Hamburg, oder besser gesagt, was von Hamburg übriggeblieben war.
Unterwegs wurden wir des Nachts in Schulen untergebracht und versorgt. Als wir schließlich Kattowitz erreicht hatten, suchten Mutti und ich die Rote-Kreuz-Station auf dem Bahnsteig auf (aus welchem Grunde weiß ich nicht mehr) und standen auf einmal unserer Tante Lotti gegenüber! Das war eine Freude! Die Ungewissheit um das gegenseitige Schicksal war beendet und wir konnten gemeinsam nach Bielitz, wo Tante Lotti und Onkel Richard lebten. Sie bewohnten dort ein großes Haus, in dem die Räume im Obergeschoss leer standen. So konnte die ganze große Familie untergebracht werden.
Onkel Arthur und Tante Irmgard kehrten mit den Kindern einige Wochen später nach Hamburg in das Jenfelder Holzhäuschen zurück. Onkel Arthur gelang es, Trümmersteine zu besorgen. Das waren Mauersteine, die aus dem Schutt der Ruinen geborgen und grob vom alten Mörtel befreit wurden. Aus diesen Steinen baute er zwei Räume an die Holzlaube an. Mutti fuhr im Oktober nach Hamburg zurück, weil die Firma Tretorn nach der Zerstörung ihre Arbeit teilweise wieder aufgenommen hatte. Omi und ich blieben bis Januar 1944 bei Tante Lotti in Schlesien und ich besuchte für einige Monate die dortige Schule. Onkel Richard war inzwischen zur Partisanenbekämpfung eingezogen worden. Als Omi und ich im Januar 1944 nach Hamburg zurückkehrten, blieb Lotti in dem großen Haus allein zurück.
Im Schrebergarten in Jenfeld bewohnten Omi, Mutti und ich nun zwei Räume des Häuschens; die anderen beiden Räume Tante Irmgard und ihre Familie. Es häuften sich die Luftangriffe während des Tages, der Schulunterricht ruhte für lange Zeit. Die Einschränkungen des täglichen Lebens waren groß elektrisches Licht wurde durch Petroleum- oder Karbidlampen ersetzt. Die Lebensmittel wurden immer knapper, die Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten immer geringer. Dabei erinnere ich mich an einen Broteinkauf für Tante Irmgard. Ich hatte der Ladeninhaberin die Brotmarken gereicht und sie legte mir daraufhin das Brot auf den Ladentisch, das ich sofort in meiner Tasche verstaute. Durch irgendetwas wurde ich abgelenkt und vergaß, dass sie mir das Brot bereits gegeben hatte. Sie holte mir also nochmals ein Brot und ich nahm es auch. Die Freude darüber, ein zusätzliches Brot für Tante Irmgard nach Hause tragen zu können, war größer als mein schlechtes Gewissen.
Im Laufe des Jahres 1944 fand Onkel Arthur in Tonndorf ein Grundstück und er begann dort, für seine Familie ein Haus zu bauen, wobei Tante Irmgard ihm nach Kräften half.
Omi und Mutti bauten uns einen eigenen Luftschutzbunker neben unserem Häuschen. Er lag ungefähr zwei Meter tief in der Erde, die Wände und die Decke bestanden aus Betonplatten, eine kleine Treppe führte hinunter. Über dem Bunker wölbte sich ein großer Erdhaufen, um den Schutz zu verstärken. Der Bunker bot gerade für vier Personen Platz, wenn man sich gegenübersaß. Eine Nachbarin kam zu uns rüber, wenn es Alarm gab.
Bei einem der Tagesluftangriffe in diesem Jahr, der die Stadtteile Barmbek und Uhlenhorst traf, starben Freunde von uns. Sie hatten sich in einem gut gesicherten Bunker aufgehalten, der den Bomben doch nicht standhielt. Tante Irmgard war untröstlich, denn sie hatte die Frau und die Kinder besonders gut gekannt.
Anfang Januar 1945 reiste Mutti noch einmal für wenige Tage zu Tante Lotti nach Bielitz, um einige Sachen nach Hamburg zu holen, Tante Lotti hatte inzwischen einen kleinen Jungen (Waldemar, zwei Jahre) adoptiert, dessen Mutter in Auschwitz umgekommen sein sollte. Die Deutschen rechneten schon damit, Bielitz verlassen zu müssen, weil die Russen immer näher rückten. Wir hörten dann lange nichts mehr von Tante Lotti.
Die Kriegslage spitzte sich zu. Im Westen standen die Alliierten. Noch Ende April 1945 ging man davon aus, dass Hamburg verteidigt werden würde. Dann endlich kam für uns die Erlösung. Am 3. Mai 1945 wurde für alle Hamburger ein Ausgehverbot erlassen, weil der Einmarsch der Besatzungsmächte begann: Hamburg hatte kapituliert! Von der nahen Autobahn hörten wir das Rollen der Panzer und den Lärm der schweren Militärfahrzeuge. Wir konnten es kaum begreifen, dass der Krieg zu Ende war. Rosi, Gisela, Werner und ich waren elf und zehn Jahre alt und hatten zu diesem Zeitpunkt Friedenszeiten bewusst nicht erlebt.
Irgendwann im Sommer 1945 erhielten wir von Tante Lotti eine Nachricht aus dem Sudetenland. Sie und Waldemar waren Ende Januar 1945 mit einem Treck vor den Russen geflohen. Nun saßen sie im Sudetenland fest, weil Waldemar erst die Masern und dann Lungenentzündung hatte. Von Onkel Richard gab es kein Lebenszeichen. Dann geschah etwas, das uns unsagbaren Kummer bereiten und unser Leben fortan prägen sollte: Tante Irmgard erkrankte an Krebs, wurde zweimal operiert, aber ihr Zustand blieb hoffnungslos. Omi führte ihr den Haushalt, und als Omi nach einer Darmoperation im Dezember 1945 auch ausfiel, ließ Mutti sich von Tretorn beurlauben und übernahm den Haushalt und die Betreuung von Tante Irmgard.