Ragout fin und Rundstück warm
In den 1950er Jahren schienen die Folgen des Zweiten Weltkriegs weitgehend überwunden, es wurde gebaut, die Gehälter stiegen und außer dem Lebensnotwendigsten gönnte man sich nun auch gelegentlich etwas Luxus. Ich habe aber als Kind den Trend der Nachkriegsjahre, der heute rückblickend oft als Fresswelle
bezeichnet wird, ganz anders erlebt. Von einer Fresswelle
konnte bei uns zu Haus keine Rede sein. Üppig belegtes Brot mit Schleppe
gab es bei uns nicht. Auch die gute Butter
kam nur selten und dann als Butter zu Pellkartoffeln mit Salz auf den Tisch. Als echter
Bohnenkaffee wieder erschwinglich wurde, löste das bei mir keine Glücksgefühle aus, ich trank weiterhin meine Milch oder garantiert koffeinfreien Muckefuck der Marke Kornfranck, aber keinen Kaffee. Sprachforscher nehmen an, dass der Name Muckefuck
während der Franzosenzeit 1792 bis 1815 aus dem französischen Wort Mocca faux
, für falscher Kaffee
eingedeutscht wurde.
In meiner Wahrnehmung begannen die Veränderungen ganz allmählich. Hin und wieder kamen andere Gerichte auf den Tisch, als ich bis dahin gewohnt war. Ich kann mich noch gut an das erste exotische
Nudelgericht erinnern, das meine Mutter uns servierte, es waren Makkaroni in Tomatensoße. Bis dahin kannte ich nur die selbstgemachten Nudeln meiner OmaLesen Sie von diesem Autor auch:Omas Bratnudeln
selbstgemachte Nudeln zum Nachkochen aus Mehl und Eiern, die nach dem Kochen noch knusprig gebraten wurden. Diese ungefähr zwanzig Zentimeter langen steinharten Makkaroni waren etwas völlig Neues. Sie sahen wie Strohhalme aus und wurden durch das Kochen weich und biegsam. Die Soße wurde aus geschälten Tomaten und Tomatenmark aus der Dose zubereitet. Das war für uns ein ungeheurer Luxus, weil diese Zutaten allesamt vom Lebensmittelhändler stammten. Sonntags kam manchmal etwas Hackfleisch in die Tomatensoße, die langen Makkaroni verstopften dann bei dem Versuch, die Soße wie durch einen Strohhalm zu saugen. Mein Schlürfen brachte mir Tadel ein und ich wurde berufen: Iss anständig
und kleckre doch nicht so rum!
, was bei Makkaroni mit Tomatensoße aber kaum vermeidbar ist.
Die meisten Lebensmittel kamen bis dahin aus dem eigenen Garten und meine Mutter verwendete viel Zeit damit, Gemüse, Kohl und Obst einzukochen oder anders haltbar zu machen. Aus Beerenobst wurde Saft gemacht, Äpfel hielten sich, kühl gelagert, bis zum Frühling, ebenso die Kartoffeln, die in einer luftigen selbstgebauten Kartoffelkiste lagerten. Weißkohl wurde kleingeschnitten und mit Salz in einem Keramiktopf fest gestampft. So entwickelte sich unter unangenehmen Gerüchen in ein paar Wochen ein Sauerkraut, das fertig allerdings sehr gut schmeckte.
Zu Weihnachten blieb aber alles beim Alten. Heiligabend gab es traditionell Wiener Würstchen mit selbstgemachtem Kartoffelsalat. Dazu wurde ein Rotwein-Grog getrunken. Am ersten Feiertag gab es Entenbraten von einer unserer eigenen Enten. Ab den 1960er Jahren wurde die Ente dann durch eine gekaufte Gans ersetzt, die bis zu acht Beine haben konnte, je nach Zahl der eingeladenen Personen. KarpfenLesen Sie auch von diesem Autor:Karpfenfest in Reinfeld, oder:
kam bei uns nie auf den Tisch, vielleicht mit Rücksicht auf mich.
warum ich keine Karpfen essen mag
An einem Weihnachten lag für meine Mutter unter dem Tannenbaum eine Ausgabe von Doennigs Kochbuch
, dem Küchenklassiker mit ostpreußischen Rezepten. Eins der ersten Rezepte, die meine Mutter nachkochte, waren Königsberger Klopse mit Kapern. Ostpreußische Nationalgerichte wie Kutteln, Rinderfleck und Kaldaunen sind mir erspart geblieben, vielleicht weil meine Mutter es auch nicht gerne aß und die Beschaffung der Zutaten in Norddeutschland schwierig war. Dafür probierte sie ganz andere neue Gerichte aus.
Ich erinnere mich an eine Familienfeier, zu der auch entfernte Verwandte und Freunde eingeladen waren. Zur Feier des Tages, dessen Anlass ich nicht mehr weiß, gab es etwas nie Dagewesenes: Ragout fin
und als Vorspeise Ochsenschwanzsuppe. Um das Ragout fin
zu servieren hatte meine Mutter Blätterteigpasteten gekauft, die im Backofen fertig gebacken wurden. Eines unserer Hühner hatte dafür sein Leben lassen müssen. Das Ragout wurde mit Erbsen und Möhren aus dem eigenen Garten und eingelegtem Spargel aus der Dose verfeinert, in die Blätterteigpasteten gefüllt und, mit einem Deckel aus Blätterteig abgedeckt, als zweiter Gang serviert.
Für mich gab es vorsorgliche Ermahnungen: iss anständig
, sitz gerade
und man spricht nicht mit vollem Mund
, denn heute kam Mutters gutes Silberbesteck zum Einsatz, das sonst nur in der Schublade lag. Die Messer hatten eine beeindruckende Länge und waren recht schwer, die Gabeln hatten so lange Zinken, dass man sich daran verletzen konnte, und die Löffel erst! Die LaffeEin Löffel besteht aus zwei Teilen, dem Stiel und der Laffe (Laffe bedeutet eigentlich die Lippe) oder auch Löffelschale, der Höhlung für die Flüssigkeit. war so riesig, dass ich als zehnjähriger sie nicht in den Mund bekam. Die war viel zu groß, fast wie eine Schöpfkelle, und der Stiel war auch viel zu lang. Ich konnte damit nur ein wenig Suppe aus der Tasse schöpfen und den Löffel seitlich an den Mund führen. Dabei war es unvermeidlich, dass etwas von der Suppe auf die Tischdecke kleckerte, weil sich unter der Laffe bei jedem Eintauchen ein Tropfen bildete. Meine Mutter schaute mich tadelnd an, dabei aß ich mit ganz vornehm abgespreiztem kleinem Finger.
Dann wurde als zweiter Gang Ragout fin
serviert, und es musste gesittet
mit Messer und Gabel verspeist werden. Wegen des Gewichts und der enormen Maße des Bestecks, dazu noch unter den wachsamen Augen meiner Eltern, für mich nicht gerade ein genussvolles Essen. Die knusprig harte Schale der Blätterteigpastete mit dem enormen Werkzeug in mundgerechte Stücke zu zerteilen, um an das warme, weiche Innere zu kommen und ohne mich dabei zu verletzen oder die Tischdecke zu bekleckern, war schon eine ziemliche Herausforderung. Das Ragout fin
meiner Mutter hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Hühnerfrikassee, dass sie gelegentlich als Sonntagsessen kochte, heute fehlte aber der sonst übliche Reis. Für die Exotik des Gerichts sorgte die Blätterteigpastete. Mit dem Nachtisch ging das festliche Essen zu Ende und ich war froh, es einigermaßen gut und unverletzt überstanden zu haben.
Ein anderes Mal gab es bei einer solchen Familienfeier Rundstück warm
nach einem Original Hamburger Rezept. In der Backröhre des Gasherdes wurde über Stunden ein Schweinebraten gegart, und die köstlichen Aromen zogen durch das ganze Haus. Der Braten wurde immer wieder mit dem Bratfett übergossen und bekam dadurch eine schöne Kruste. Den Tisch im Wohnzimmer hatte meine Mutter wieder festlich gedeckt. Auf der schneeweißen Damast-Tischdecke mit den schönen Stickereien standen die guten
Teller, Gläser, und das mächtige Silberbesteck fehlte auch nicht.
Wieder gab es als Vorspeise die beliebte Ochsenschwanzsuppe, die aus den Suppentassen mit den riesigen Löffeln gegessen wurde. Während meine Mutter das Suppengeschirr abräumte, tranchierte mein Vater in der Küche den Braten in fingerdicke Scheiben. Die wurden dann in Abwandlung des Originalrezepts statt auf Rundstücke, auf eine Scheibe Weißbrot gelegt, mit viel Soße übergossen und mit etwas Petersilie garniert. Brötchen, in Hamburg Rundstücke
genannt, waren an Wochenenden nicht zu bekommen, weil die Bäckereien geschlossen hatten. Deshalb nahm meine Mutter eine Scheibe aufgebackenes Weißbrot als Unterlage. So kamen die Teller dann aus der Küche und wurden den Gästen serviert.
Die Schwierigkeit beim Essen dieser Köstlichkeit ergab sich aus der unterschiedlichen Konsistenz der Zutaten in Verbindung mit dem mächtigen silbernen Essbesteck; jedenfalls für mich im zarten Alter von zehn Jahren. Die Soße hatte das Weißbrot durchdrungen und erweicht, die Brotkruste war aber hart geblieben. Das Fleisch war zart und gut zu schneiden, hatte aber eine harte Kruste. Das Messer war aber so stumpf, dass ich nicht in der Lage war, Fleisch und Brot in mundgerechte Stücke zu teilen. Meine Versuche, elegant mit Messer und Gabel zu essen, scheiterten kläglich. Meine Mutter half mir, und ich fühlte mich vor der Familie blamiert.
Große Familienfeiern mit aufwändigen Vorbereitungen und Gerichten waren aber sehr selten. Mit unserem Alltagsbesteck aus rostfreiem Stahl konnte ich gut umgehen, es war dank seiner moderaten Abmessungen sehr viel kindgerechter als die silbernen Monster
aus der Wohnzimmerschublade, die auch noch regelmäßig mit einem Spezialtuch geputzt werden mussten, damit sie nicht schwarz anliefen. Legte eines unserer Hühner keine Eier mehr, ging mein Vater mit ihm in den Garten, dahin, wo der Hauklotz stand. Am nächsten Tag gab es zu Mittag eine köstliche Hühnersuppe mit Sternchen- oder Buchstabennudeln darin. Am folgenden Sonntag gab es zu Mittag mein Leibgericht, meine Mutter nannte es Hühnerfrikassee
und es wurde mit Reis serviert; nicht wie das Ragout fin
in der Blätterteigpastete, das gab es nur auf Familienfeiern.
Das Rezept findet sich in Doennings Kochbuch unter Das zahme Geflügel
als:
Hühnerfrikassee, feines (helles Würzfleisch)
Man nehme für 6 - 8 Personen
1 großes Huhn,
1 Kalbszunge,
125 g Kalbsmilch*
2 l Wasser, Salz,
Suppengemüse,
1 kleine Büchse Champignons,
zur Soße:
60-80 g = 4 Eßl. Butter,
80 g = 6 Eßl. Mehl,
1 l Brühe,
Zucker, Zitronensaft,
Krebsfleisch, Spargel,
2-3 Eigelb.
Huhn und Kalbszunge werden vorbereitet und wie zu Suppe gekocht; man verwendet etwa 1 l zur Soße, die übrige Brühe zu Suppe. Das erkaltete Huhn wird in Stücke geschnitten, die Zunge in Scheiben. Die Rückenstücke läßt man zurück. Die Kalbsmilch wird nach Vorschrift abgekocht und in größere Würfel geschnitten. Die Champignons werden gespalten. Von Butter, Mehl und Brühe bereitet man eine weiße Grundsoße; sobald diese gar und dickflüssig genug ist, wird sie mit Salz, nach Belieben mit Muskatblüte, Zucker, Zitronensaft abgeschmeckt. In die fertige Soße legt man dann das Hühnerfleisch, Kalbszunge, Kalbsmilch, Champignons, Spargel, Krebsfleisch. Nach dem Aufkochen wird nochmals abgeschmeckt und durch ein Sieb das mit Wasser verklopfte Eigelb hinzugerührt. Angerichtet und verziert wie das einfache Hühnerfrikassee.
*Kalbsbries, Kalbsmilch, Kalbssog schweizerisch Milke, Midder oder Schweser wird küchensprachlich der Thymus des Kalbs genannt. Bei ausgewachsenen Tieren bildet sich das der Ausbildung der Immunabwehr dienende Organ zurück. Das im vorderen Bereich der Brust sitzende, etwa 250 bis 300 Gramm schwere, fast weiße Gewebe gehört wegen seiner Zartheit und des feinen Geschmacks zu den am meisten geschätzten Innereien. Kalbsbries hat eine an Hirn erinnernde, aber etwas festere Struktur und ist reich an Kalium und Vitamin C sowie Purinen.
Zur Vorbereitung wird das Kalbsbries gewässert, heiß überbrüht und von Häutchen, Knorpeln und blutigen Stellen befreit. Danach lässt man es unter leichtem Druck (beispielsweise durch ein beschwertes Küchenbrett) auskühlen, was späteres Zusammenziehen verhindert. Üblich ist auch, das Bries vor der Weiterverarbeitung in Salzwasser etwa 20 Minuten bei schwacher Hitze ziehen zu lassen. Kalbsbries kann auf viele Arten zubereitet werden: Je nach Rezept wird es gekocht, gedünstet, geschmort, in Scheiben gebraten, gegrillt oder gebacken. Es ist auch Bestandteil klassischer Ragouts wie zum Beispiel Ragout fin. (Quelle: Wikipedia)