Kinderarbeit
Es war wieder einmal so weit, der Sommer war da und die herbeigesehnten großen Ferien begannen in Hamburg. Das Freibad hatte geöffnet und das Wasser war bereits Anfang des Sommers erträglich warm. Leider war der Weg dorthin recht weit und ich besaß weder ein Fahrrad, noch ein anderes Fortbewegungsmittel.
Die glorreiche Idee meines Vaters, eine Arbeit anzunehmen, um etwas Geld zu verdienen, gefiel mir anfangs gar nicht. Zumal seine Begründungen mir nicht gefielen: Da kommst du nicht auf dumme Gedanken
, oder auch: Dann gammelst du nicht sechs Wochen zu Hause herum
.
Da war sie schon wieder, die Diskrepanz zwischen meinen Vorstellungen von sinnvoller Freizeitgestaltung und denen meiner Eltern. In den nächsten Tagen bekam ich einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem eine Adresse in Hamburg-Langenhorn, Industriegebiet Essener Straße stand. Dort sollte ich mich nach dem Willen der Eltern melden, um mich um einen Ferienjob zu bemühen.
Anfangs war ich von der Idee nicht gerade begeistert, die Aussicht auf selbst verdientes Geld für ein Fahrrad ließ die Sache aber in einem anderen Licht erscheinen. So bewarb ich mich bei einem Verantwortlichen in einer Fabrik in der Essener Straße um einen Ferienjob.
So wurde ich für die kommenden zwei Wochen, für sechs Arbeitstage pro Woche und sechs Stunden täglich eingestellt. Der Wochenlohn sollte dafür 120 DM betragen, was für ein Fahrrad mit allen Schikanen reichte!
Am Montag der folgenden Woche begann also früh um 8:00 Uhr mein Dienst
. Eine ältere Frau in grauer Kittelschürze nahm mich unter ihre Fittiche
und zeigte mir den Umkleideraum und meinen Spind, in dem ich meine Kleidung lassen konnte. Hier zog ich mir ein paar alte Sachen an, die ich als Arbeitskleidung mitgebracht hatte und ließ mich von ihr in die Fabrik führen.
Verwirrend war der große Raum mit den Maschinen und Fließbändern, dem Glühofen und der Stanzmaschine, die aus einer riesigen Blechtafel etwa 5-DM-Stück große Plättchen stanzte. Diese Plättchen waren etwa drei Millimeter dick und wurden nach dem Ausstanzen in einen Drahtkorb gestapelt. Das sollte meine Aufgabe für die nächsten Tage werden. Also verließ mich meine Begleiterin hier, ging wieder an ihre Arbeit und ließ mich mit dieser Aufgabe allein.
Die Plättchen waren aus blankem, silbrig glänzendem Aluminium, doch nach kurzer Zeit hatte ich schwarze Finger. Ich musste mich beeilen und meine Arbeitsgeschwindigkeit dem Takt der Maschine anpassen, die unerbittlich Plättchen produzierte. War eine Tafel ausgestanzt, hatte ich noch einen großen Vorrat an Plättchen in den Korb zu sortieren. Der Mann an der Stanze hatte unterdessen eine neue Tafel eingelegt und produzierte erneut Plättchen, was mich allmählich mit Panik erfüllte, da ich mit dem Sortieren nicht nachkam!
Eine Hupe übertönte plötzlich den Lärm in der Halle, das Signal zur Mittagspause. Händewaschen, den schmerzenden Rücken gerade machen und für eine halbe Stunde nach draußen vor die Türe, um dort das Pausenbrot zu verspeisen. Ich machte mich mit meinen neuen Kolleginnen und Kollegen bekannt, die mir etwas über die Arbeit hier erzählten. Am Nachmittag durfte ich auf eine andere Station und dort die gefüllten Drahtkörbe auf einen Wagen stapeln, mit dem sie dann in den Glühofen gefahren wurden. Dort war die Luft heiß und stickig, es roch nach Metall und öligem Zeug. Nach dem Glühen waren die Plättchen weich und wurden in einer andern Maschine weiterbearbeitet.
Am frühen Nachmittag war für mich Feierabend, ich hatte nun frei, durfte mich waschen, umziehen und auf den Weg nach Hause machen. Ich freute mich auf das Freibad, dort wollte ich den Nachmittag verbringen. Doch als ich die Stunde Fußweg von der Fabrik bis nach Hause gegangen war, stellte sich eine Müdigkeit ein, der ich nachgab. Als ich wieder wach wurde, war es bereits zu spät, um noch baden zu gehen.
Den nächsten Tag verbrachte ich wieder am Glühofen und machte den ganzen Tag aus harten Plättchen weiche Plättchen. Mittagspause – Feierabend – etwas schlafen, so ging es die nächsten Tage. Am Ende der Woche hatte ich mich an den neuen Trott leidlich gewöhnt und hatte nach der Arbeit sogar Zeit für das Schwimmbad.
Meine Arbeitsstation hatte mal wieder gewechselt, die weichen
Plättchen kamen jetzt in eine Maschine, die in ihrem Innern das Rohmaterial in eine Tube verwandelte, mit Schraubverschluss vorn, aber hinten rund und weit offen. Diese Fabrik stellte also Tuben als Zwischenprodukt her, die dann als Verpackung für Pasten und Cremes dienten. Aber noch waren sie silbrig und als Verpackung wenig attraktiv. Im nächsten Arbeitsgang wurden die Tuben mehrfarbig lackiert und mit den Logos und Markennamen der jeweiligen Firma versehen. Die Produktreihe, die gerade hergestellt wurde, sollte als Zahnpastatube weiterverwendet werden.
Am letzten Tag der Arbeitswoche, am Samstag, war Zahltag. Jeder bekam in der Mittagspause seine Lohntüte aus halb durchsichtigem Papier, in der ein Streifen sowie das Papier- und Hartgeld steckte. Auf dem Streifen waren Name, Geburtsdatum, Wochenarbeitsstunden, Abzüge und der ausgezahlte Betrag vermerkt. Die Tüte wurde sorgfältig in der Jacke im Spind verstaut, ein paar Stunden waren noch zu arbeiten.
Am Sonntag konnte ich mich von den Strapazen erholen. Leider war das Wetter so schlecht, dass baden im Freibad buchstäblich ins Wasser fiel. Die nächste Woche begann mit eintöniger, schon bekannter Arbeit am Glühofen. Es folgten die ebenfalls bekannten Stationen Sortieren und an der Tubenziehmaschine und an der Lackiermaschine.
Gegen Ende der Woche durfte ich zu den Frauen an das Fließband. Hier haben Kinder nichts zu suchen
, hatte man mir gesagt, weil Kinder nicht am Fließband arbeiten dürfen. Das war mit der Gewerkschaft so ausgehandelt worden
, hieß es.
Ich war entrüstet, das man mich als Kind bezeichnete, war ich doch bereits 14 Jahre alt und hatte meinen Mann
an den großen, lauten Maschinen gestanden!
So durfte ich den letzten Tag meines ersten Arbeitslebens
am Fließband sitzen und auf die fertigen Tuben die Verschlüsse aufschrauben. Ich war in den zwei Wochen nie so froh über den Feierabend gewesen, wie an diesem Tag. Jetzt wusste ich, was Fließbandarbeit bedeutet. Kein Verschnaufen, das Band fließt unerbittlich und schafft Arbeit heran. Selbst dringende Bedürfnisse müssen unterbleiben oder schnellstens erledigt werden, weil die Kollegen die fehlende Arbeitskraft ersetzen müssen, was für sie mehr und schnellere Arbeit bedeutet. Also nicht zu lange wegbleiben, sonst gibt's Mecker!
Ich nahm meine Lohntüte in Empfang und wurde von der Angestellten im Büro mit den Worten verabschiedet: Na dann bis zum nächsten Jahr, wir waren mit dir zufrieden. In der Lohntüte ist noch eine kleine Prämie
. Nee, ich hatte in diesen zwei Wochen etwas Wesentliches über das Berufsleben gelernt: Nie wieder an ein Fließband oder in eine Fabrik! Das habe ich mir geschworen!
So wie jedes Ding zwei Seiten hat, am Ende meines Ferienjobs hatte ich ein neues Fahrrad, mit Dreigangschaltung und Sportlenker. Die letzten vier Wochen meiner großen Ferien konnte ich nun in bisher unerreichte Fernen aufbrechen. Ich machte Ausflüge in das Alstertal, das Rodenbeker Quellental, zur Alsterquelle und sogar bis nach Bad Segeberg, alles mit dem neuen Fahrrad.