Mein erstes Fahrrad
Zu meinem Geburtstag 1959 bekam ich von meinen Eltern mein erstes Fahrrad geschenkt. Bis dahin wurde ich entweder auf dem Rad meines VatersLesen Sie auch: Das Fleisch des Waldes
, sehr unbequem auf der Stange sitzend, oder auf dem Gepäckträger von Mutters Rad, was dank eines untergelegten Kissens angenehmer war, auf kurzen Strecken transportiert. Nun war ich mit meinen zehn Jahren aber zu groß und schwer geworden und sollte nun selbst fahren. Das neue Fahrrad war gebraucht gekauft worden, aber in gutem Zustand und es blitzte und blinkte vor Chrom, was mich sehr stolz machte. Ich hatte bereits mit dem Rad meines Vaters Fahrrad fahren geübt. Da sein Rad aber zu groß für mich war, streckte ich ein Bein durch den Rahmen, um an die Pedale zu kommen. So fuhr ich kurze Strecken im Stehen, was sicherlich sehr komisch ausgesehen haben muss, da ich schräg im Rahmen stehend die Arme hoch strecken musste, um die Lenkstange halten zu können. Aufgeschlagene Knie und andere Blessuren waren die Folgen meiner Übungsfahrten.
Nun aber hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben ein eigenes Rad. Lenkstange und Sattel hatte mein Vater für mich passend so tief eingestellt, dass ich aufrecht auf dem Sattel sitzend fahren konnte, und ich war stolz wie Oskar. Am Stützrohr des Rahmens war an Klemmen eine verchromte Luftpumpe und ein Schild mit den olympischen Ringen aufgeklebt. Zum Bremsen gab es die obligatorische Rücktrittbremse und eine Stockbremse vorn. Hatte das Rad meiner Schwester noch eine altmodische Stockbremse mit Hebel und Bremsstange, besaß mein Fahrrad bereits eine moderne
Bremse mit Bowdenzug und Rückholfeder. Allerdings war das Prinzip der Bremse, zum Bremsen ein Hartgummistück auf die Lauffläche des Vorderreifens zu pressen, immer noch das Gleiche. Schob man das Rad mit gezogener Handbremse rückwärts, wurde der Gummi einfach aus seiner Halterung geschoben, die nach hinten offen war. Bei nächster Vollbremsung, nun ohne Bremsgummi, wurde der Fahrradmantel aufgeschlitzt.
Meine Übungsfahrten auf den Straßen in der Nähe des elterlichen Hauses machten mich immer sicherer und ich sauste die Straße rauf und runter. Ende der 1950er Jahre besaß kaum jemand aus der Nachbarschaft ein Auto, die Straßen waren frei und nicht zugeparkt wie heute. Selbst auf der Tangstedter Landstraße, der Hauptstraße, fuhr nur gelegentlich mal ein Auto vorbei. Quer zu den kleinen Straßen unserer Siedlung gab es sogenannte Wirtschaftswege, breit genug für Fußgänger oder Radfahrer, sie waren die kürzeste Verbindung zur Hauptstraße. Einer dieser Wege kreuzte drei Straßen unserer Siedlung und mündete genau in der Kurve kurz vor dem Krankenhaus Heidberg auf die zweispurige Tangstedter Landstraße. Zu dieser Zeit gab es dort noch keinen Asphaltbelag, sondern Kleinpflaster aus Blaubasalt. Hier mündete auch der Wakendofer WegDer Straßen-Neubau 1950 Tangstedter Landstraße Nebenweg 1
wurde am 14.7.1952 in Wakendorfer Weg
umbenannt. auf die Hauptstraße, und genau hier stand die süße Bude
, des Öfteren Ziel meiner Fahrten mit dem neuen Rad. Etwas weiter in Richtung Stadt standen auf der linken Straßenseite Wohngebäude und die Scheune einer der letzten Bauernhöfe im Norden Hamburgs, dem Hof von Bauer WinkelmannHausbesetzerszene ab 1970 in Hamburg:
Der Winkelmann'sche Hof wurde im November 1989 besetzt und von den Hausbesetzern als Wohnprojekt saniert. Instandbesetzt
nannte man das damals.Bild: Wohngebäude des Winkelmann'chen Hofes. Quelle: Langenhorn-Archiv, Erwin Möller. Am Gehwegrand der rechten Straßenseite stand eine Holzbude, ein Kiosk, bei uns allgemein als süße Bude
bekannt. Dort gab es Zeitungen, Zigarren und Zigaretten und für uns Kinder Sahnebonbons, Lakritze und die heißgeliebten Salmi Lollys mit Schokoladenüberzug, wenn das Taschengeld dafür reichte. Um die Bude herum liefen immer ein paar braune Hühner, suchten sich ihr Futter pickend und scharrend im Gebüsch und auf dem Weg. Die Hühner gehörten zu einem kleinen Haus neben der Bude und liefen manchmal auch über die Straße bis auf den Hof von Bauer Winkelmann.
Mitte der 1950er Jahre wurde das Wohngebiet am Wakendorfer Weg um mehrere einfach gebaute Einfamilien- und Doppelhäuser erweitert. In einem dieser Häuser eröffnete ein Allgemeinmediziner seine Hausarztpraxis. Meine Mutter hatte zu der insgesamt dürftigen Infrastruktur hier im Norden Hamburgs nur den Kommentar: Wir brauchen nur zu warten, die Stadt kommt irgendwann zu uns heraus
. Dieser Arzt war bereits motorisiert und machte nach der Sprechstunde mit seinem Auto bei den Patienten Hausbesuche, die bettlägerig krank waren und deshalb nicht in seine Praxis kommen konnten.
Im Mai fuhr ich mit meinem neuen Fahrrad auf geradem Weg zur süßen Bude
, um mir von meinem Taschengeld einen Salmi Lolly zu kaufen. Es nieselte und ich fuhr deshalb etwas schneller auf dem Wirtschaftsweg um auch schnell wieder zu Hause zu sein. An der ersten Kreuzung der Siedlungsstraße traf ich den Doktor, besser gesagt, ich traf sein Auto – mit dem Rad. Er muss sich furchtbar erschrocken haben, als ich, unvorsichtig und nicht auf Querverkehr achtend, direkt gegen sein Auto fuhr und auf der Motorhaube landete. Ich kann mich kaum an den Unfall und das Danach erinnern, er hat mich wohl in seinem Auto nach Hause gebracht und ich musste eine ganze Woche mit Gehirnerschütterung das Bett hüten. Wie sich meine Eltern mit dem Doktor über den entstandenen Sachschaden an Auto und Fahrrad geeinigt haben, weiß ich heute nicht mehr. Ich meine aber, mich erinnern zu können, dass mein Vater später einmal augenzwinkernd davon sprach, der Doktor hätte damals auch ein schlechtes Gewissen gehabt, was eine gütliche Einigung stark vereinfachte.
In den 1960er Jahren wurde die Tangstedter Landstraße asphaltiert und die rechts und links der Straße brachliegenden Heidelandschaften auf Glashütter und Hamburger Gebiet urbanisiert. In den Jahren darauf nahm der motorisierte Verkehr immer mehr zu. Meine Mutter hatte mit ihrer Prognose: die Stadt kommt zu uns
Recht behalten. Heute kommt man zur rush hour nur noch an der Fußgängerampel über die Tangstedter Landstraße und unsere kleine Siedlung ist mit Autos so zugestellt, dass ein Durchkommen nur noch mit dem Fahrrad einfach ist – wenn man ganz vorsichtig fährt.
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