Teil 11 - Diepholz, 1900-1906
Kapitel 10
Annelises Finger und Alexanders Tod
Der Herbst brachte noch allerlei Schweres mit sich. Am 1. Oktober geriet Annelises Zeigefinger, glücklicherweise der der linken Hand, infolge der Unachtsamkeit des jungen Mädchens, in die Zeugrolle, und die vordersten zwei Glieder desselben wurden zerquetscht und blieben nach vergeblichen Versuchen, sie zu retten, eines Tages im Verband stecken. Frau Feuß tröstete uns allerdings mit den Worten: Wenn sie einer des Fingerstumpfes willen nicht nehmen willAnnelise blieb wie alle ihre Schwestern außer Thekla und Eva unverheiratet. Der Erste Weltkrieg hatte die Männer dezimiert. [33], der kann wegbleiben.
Der Stumpf hatte ihr, da die Zirkulation des Bluts in ihm mangelhaft war, in den folgenden Jahren noch mancherlei Not gemacht und musste schließlich auch abgenommen werden, was auch den Vorteil hatte, dass die Verstümmelung der Hand infolgedessen weniger auffiel. Schwerer noch war, dass Elisabeth im Herbst an Blinddarmentzündung erkrankte. Sie schwebte einige Tage, wie der Arzt mir erst hinterher bekannte, in Lebensgefahr und musste fünf Wochen lang das Bett hüten. Außerdem machte Gerhards Gesundheit uns einige Zeit ernste Sorge. Er musste beinah ein Vierteljahr die Schule aussetzen, erreichte freilich Ostern 1903 noch die Obersekunda, musste aber doch eine ganze Reihe von Plätzen herunter rücken und die Obersekunda zweimal durchmachen, was ihm außer einem Jahre auch den bisher gewährten Erlass des Schulgeldes kostete.
Neujahr 1903 erfolgte die Aufhebung des Konsistoriums von Stade und die Vergrößerung der Generalsuperintendentur-Bezirke. Wir kamen damit unter die Generalsuperintendentur Stade. Da indes Generalssuperintendent D. Steinmetz schon im Lauf des Jahres 1903 starb, kamen wir in persönliche Berührung mit ihm nicht mehr. Sein Nachfolger wurde Generalsuperintendent RemmersJohannes Remmers (1842-1918) war ein lutherischer Theologe, Konsistorialrat und Generalsuperintendent der Generaldiözese Bremen-Verden.Klick hier für Wikipedia [34], bisher in Harburg.
Für unser häusliches Leben brachte das Jahr 1903 insofern einen Abschnitt, als Thekla mit dem Ostertermin die Schule verließ, nachdem sie sie durchgemacht. Ich gab ihr selbst in dem darauffolgenden Sommer noch einige Unterrichtsstunden in deutscher Literatur. Außerdem musste sie nun anfangen, ihrer Mutter im Hauswesen an die Hand zu gehen. Im Spätsommer reiste Elisabeth, der nach ihrer Krankheitsniederlage im vorangegangenen Winter eine Erholung not war, für einige Wochen nach Swinemünde, um sich in der Seeluft zu kräftigen. Währenddessen musste Thekla das Hauswesen selber leiten, und sie machte ihre Sache gar nicht übel. Mein Schwager Rudolf und seine Frau, die uns in dieser Zeit dreimal auf der Durchreise besuchten, waren ganz angetan von ihrer Umsicht. Aus dieser Zeit stammt das Bild, das mich mit ihr und Eva darstellt. Sie selbst hatte angeregt, dass ich mich mit ihr fotografieren lassen möchte, um Mutter bei ihrer Rückkehr mit dem Bilde zu überraschen. Da Eva noch nicht zwei Jahre alt war, musste Thekla zu ihrer Betreuung mit, und da veranlasste ich sie, sich zugleich mit fotografieren zu lassen.
Bemerkenswert ist aus diesem Sommer noch eine Reise, die ich mit Elisabeth nach Walsrode machte. Superintendent Knoke hatte mich auf der Pfingstkonferenz eingeladen, auf seinem Missionsfest zu predigen. Als Elisabeths Tante Amalie von Stoltzenberg davon hörte, lud sie Elisabeth ein, mich zu begleiten und bei ihr zu logieren. So verlebten wir dort einige nette Tage.
Bedeutsamer noch für unsere Häuslichkeit und für die Entwicklung unserer Kinder wurde das Jahr 1904. Ostern konfirmierte ich Thekla, und da für ihre Schulbildung doch noch etwas mehr getan werden musste, brachten wir sie in das Pensionat des Diakonissenhauses zu Flensburg. Ermöglicht wurde uns das durch eine Beihilfe, die ihre Patentante Hanna Gleis uns für sie gewährte. Gleichzeitig aber wurde auch Magdalene mit der Diepholzer Schule fertig, und auch auf ihre Fortbildung musste Bedacht genommen werden. Und da Käthe, obwohl sie noch ein Jahr länger in Diepholz hätte zur Schule gehen können, doch ungefähr gleich weit war und für sie von jeher die Ausbildung zur Lehrerin ins Auge gefasst worden war, sollte auch sie schon aus dem Hause. Meine Mutter hatte uns angeboten, beide zu sich zu nehmen, damit sie die höhere Mädchenschule in Swinemünde, die ihnen Ausbildung noch für zwei Jahre gewährte, besuchten. So verließen also drei Kinder gleichzeitig unser Haus. Elisabeth brachte Thekla nach FlensburgDie Diakonissenanstalt Flensburg ist ein evangelisches Unternehmen im Bereich der Wohlfahrtspflege. Mit fast 3300 Mitarbeitern ist sie heute der größte Arbeitgeber Flensburgs.Klick hier für Wikipedia [35], ich Magdalene und Käthe nach Swinemünde. In Berlin machte ich Station bei Georg, der zum großen Generalstab kommandiert dort war. Ich sehe noch das Staunen der beiden Mädchen über das Lichtermeer, das ihnen entgegenstrahlte, als wir abends auf dem Lehrter Bahnhof ankamen. In den Tagen lernten sie natürlich noch mehr von den Wundern der Großstadt kennen, und Base Rena[te Dittrich] fühlte sich als ihr CiceroneCicerone ist eine Bezeichnung für einen Fremdenführer, der Touristen und Besucher zu Museen, Sehenswürdigkeiten usw. führt und archäologische, historische und künstlerische Hintergründe erläutert. Vermutlich soll der Begriff an Marcus Tullius Cicero erinnern, der wegen seiner Eloquenz und seiner Lehrmethoden berühmt ist.Klick hier für Wikipedia [36]. In Swinemünde war ich dann über eine Woche, meldete die beiden Mädchen in der Schule an und wohnte ihrer Aufnahmeprüfung bei. Beide wurden in die zweite Klasse aufgenommen, Käthe, die sich etwas dumm angestellt hatte, allerdings nur versuchsweise. Aber ich konnte schon in den ersten Tagen gewahren, dass sie gut mitkommen würden. Sie erhielten dann auch beide in der Folgezeit ziemlich hohe Plätze in ihrer Klasse.
Eine Reise anderer Art machte ich im Spätherbst desselben Jahres, und zwar nach Graudenz zur Beerdigung meines Bruders Alexander. Schon seit einiger Zeit hatte sich bei ihm ein Herzleiden gezeigt. Aber eine Badekur in Nauheim hat wohl vorübergehend Besserung gebracht, aber doch nicht hindern können, dass sich die Brustwassersucht bei ihm herausbildete. Ostern hatte er mir noch mit Stolz melden können, dass Erika das Examen für höhere und mittlere Schulen bestanden und sein ältester, Joachim, nach Prima versetzt sei. Aber ziemlich bald darauf erfuhr ich durch Mutter, die ja schon immer den Verkehr der Geschwister vermittelt und sie gegenseitig auf dem Laufenden erhalten hatte, von seinem hoffnungslosen Zustande. Trotz ihres hohen Alters nahm sie ihn dann im Sommer noch in ihr Haus, um ihn in seinem qualvollen Leiden besser verpflegen zu können, als seine Frau bei ihrem großen Haushalt es vermochte. Ich kann wohl sagen, dass ich, der ich ja Kindheit und Jugend Schritt für Schritt mit ihm verlebt und so viel mit ihm geteilt hatte wie mit keinem meiner Geschwister, mit ihm litt. Neben den Briefen Mutters hielten mich auch die Magdalenes und Käthes, die Zeugen des leidenden Zustandes ihres Onkels waren, auf dem Laufenden. Es war mir rührend zu hören, dass er in den letzten Tagen, als er zeitweilig nicht mehr bei klarer Besinnung war, nach mir verlangt hatte. Im November wurde er, als sein Zustand immer hilfloser und das Ende zu erwarten war, nach Hause gebracht, und schon am 25. November wurde mir sein Tod telegrafisch gemeldet. Am ersten Advent reiste ich, nachdem ich vormittags gepredigt hatte, nach Graudenz ab, kam Montag früh dort an und folgte am Nachmittag desselben Tages seiner Leiche. Von den Geschwistern waren außer mir noch Elly und Georg bei der Beerdigung. Schwägerin Else war sehr gefasst, auch die Kinder waren sehr nett. Elses Mutter, die verwitwete Frau Direktor Stechow, und ihre Schwägerin, deren Mann damals auch schwer leidend war und wenige Monate darauf starb, lernte ich bei dir Gelegenheit kennen. Das war nun die erste Lücke, die in unsern Geschwisterkreis gerissen wurde.
[34] Johannes Remmers (1842-1918) war ein lutherischer Theologe, Konsistorialrat und Generalsuperintendent der Generaldiözese Bremen-Verden.
[35] Die Diakonissenanstalt Flensburg ist ein evangelisches Unternehmen im Bereich der Wohlfahrtspflege. Mit fast 3300 Mitarbeitern ist sie heute der größte Arbeitgeber Flensburgs.
[36] Cicerone ist eine Bezeichnung für einen Fremdenführer, der Touristen und Besucher zu Museen, Sehenswürdigkeiten usw. führt und archäologische, historische und künstlerische Hintergründe erläutert. Vermutlich soll der Begriff an Marcus Tullius Cicero erinnern, der wegen seiner Eloquenz und seiner Lehrmethoden berühmt ist.