Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 1
Ein neuer Beginn
In Bremen hatten wir wieder wie vor sechs Jahren, als wir es in umgekehrter Richtung passierten, einen Aufenthalt, den ich dazu benutzte, während Elisabeth mit dem aus Diepholz mitgenommenen Kindermädchen auf dem Bahnhof blieb, Eva etwas von der Stadt zu zeigen. Natürlich kamen wir nicht so weit wie damals mit Gerhard, schon weil der Aufenthalt nicht so lange dauerte. Eva machten besonders die Wagen der elektrischen Straßenbahn Eindruck, und noch später erzählte sie, dass in Bremen die Wagen ohne Pferde liefen.
In LesumLesum ist heute ein Ortsteil von Burglesum, Burglesum ein Stadtteil von Bremen. [1] erwartete uns eine Droschke am Bahnhof, die uns nach unserm Hause fuhr. Beim Vorbeifahren am zweiten Pfarrhause überreichte uns Freyers Töchterlein Margrit einen Blumenstrauß. Auf dem Hausflur der bekränzten und beflaggten Superintendentur begrüßte uns der vollzählig versammelte Kirchenvorstand. Wir gingen von da zunächst in das zweite Pfarrhaus, wo wir mit einem opulenten Mittagsmahl bewirtet wurden. Die Einrichtung der Wohnung ging rasch vonstatten, da die Möbelwagen schon einige Tage vorher angekommen waren. So konnten wir schon in der ersten Nacht in unseren Betten wieder schlafen, und ich hatte Muße, mich auf meine Antrittspredigt vorzubereiten, die ja nach dem im Bremen-Verdenschen geltenden Herkommen bei der Einführung selbst schon gehalten werden musste.
Die Einführung fand dann am folgenden Sonntag, 10. post Trinitatis, 19. August, statt. Die Kirche war diesmal bis auf den letzten Platz gefüllt. Generalsuperintendent RemmersJohannes Remmers (1842-1918) war ein lutherischer Theologe, Konsistorialrat und Generalsuperintendent der Generaldiözese Bremen-Verden.Klick hier für Wikipedia [2] legte seiner Einführungsansprache die Stelle Sprüche Salomonis 16,9Des Menschen Herz plant seinen Weg, doch der HERR lenkt seinen Schritt.
[3] zugrunde. Außer Freyer assistierte der bisherige Superintendentur-Verweser Pastor Degener aus Ritterhude. Nach dem Einführungsakt bestieg ich die Kanzel und predigte über das Sonntagsevangelium, das ja gerade bei dieser Gelegenheit trefflich passte. Ein weltlicher Kirchenkommissar wohnte der Einführung nicht bei. Der zuständige Kirchenkommissar, Landrat Berthold aus Blumenthal, hatte mich bald nach meiner Ernennung schriftlich in freundlicher Weise begrüßt, aber mir gleich mitgeteilt, dass er bei meiner Einführung beurlaubt sein und derselben daher nicht werde beiwohnen können. Nach dem Gottesdienst wurde vom Kirchenvorstand ein Einführungsessen in dem dicht neben der Kirche gelegenen Hotel Stadt Hannover
gegeben, an dem auch meine Frau und meine beiden ältesten Töchter, außerdem ein weltliches Mitglied des Synodalausschusses, Kaufmann Monsees aus Scharmbeck, und der Kirchenrechnungsführer, Gemeindevorsteher Seegelken, teilnahmen. Gleich nach dem Essen wurde ich zu einer Haustaufe nach Stendorf zu Hofbesitzer Johann Horstmann geholt und lernte dabei gleich einen Teil der zur Kirchengemeinde gehörenden Außendörfer kennen. Eine Kirchentaufe hatte ich schon gleich nach Beendigung des Gottesdienstes verrichtet.
Lesum sollte die längste Strecke meiner Erdenwallfahrt werden. Es war auch wohl die inhalts- und ereignisreichste. Zunächst für mein Haus. Sind doch in der Lesumer Zeit alle meine Kinder herangewachsen und zum guten Teil auf eigene Füße zu stehen gekommen. Mit Rücksicht auf die Ausbildung meiner Kinder hauptsächlich hatte ich ja diese Veränderung erstrebt. Zunächst galt es, die unterbrochene Ausbildung Käthes und Irmgards des wieder aufzunehmen. Für sie war seit langem der Lehrerinnenberuf ins Auge gefasst, für den sie sich am besten zu eignen schienen. Als sie wenige Tage nach meiner Einführung wieder zu uns stießen, fuhr ich ihnen bis Bremen entgegen und stellte sie sofort der Vorsteherin der Jansonschen höheren Mädchenschule, die uns am meisten empfohlen worden war, Fräulein Ida JansonIda Janson (1847-1923) war eine Pädagogin und Schulleiterin in Bremen.Klick hier für Wikipedia [4], vor und meldete sie für dieselbe an. Käthe, die ein Abschlusszeugnis einer neunklassigen Mädchenschule aufweisen konnte, wurde ohne weiteres in die SelektaSelekta, lat. auserlesene Klasse
, an Gelehrtenschulen eine Schulklasse, in welcher die ausgezeichnetsten Schüler der obersten Stufe saßen und auf das Studium an der Universität vorbereitet wurden.Klick hier für Wikipedia [5]
aufgenommen, Irmgard nach einer Prüfung in die erste Klasse. Gretchen, Martin und Annelise konnten vor der Hand noch die Lesumer Mittelschule besuchen. Theklas Schulbildung wurde als abgeschlossen angesehen, da sie der Mutter im Hauswesen an die Hand gehen sollte. Für Magdalene waren wir uns noch nicht völlig im Klaren. Sie blieb vorläufig auch im Hause. Für Gerhard, der seit Ostern in Oberprima war, konnte eine Umschulung nicht mehr in Betracht kommen. Er blieb also in Osnabrück. Ich hatte übrigens nicht verfehlt, vor meiner Übersiedlung dem Osnabrücker Oberbürgermeister RißmüllerJulius Rißmüller (1863-1933) war Oberbürgermeister von Osnabrück.Klick hier für Wikipedia [6], dessen Sohne Gerhard Privatunterricht erteilt hatte, meine Aufwartung zu machen und ihn um Gewährung eines Stipendiums für Gerhards Universitätsstudium zu bieten, was er auch bereitwillig zusagte.
Gerhard meldete sich denn auch zur festgelegten Frist für den Ostertermin 1907 zum Abiturientenexamen. Als er mir Weihnachten sein Schulzeugnis brachte, konnte ich nach demselben schon die Hoffnung schöpfen, dass er von der mündlichen Prüfung dispensiert werden würde. So geschah es denn. An dem für die mündliche Prüfung festgesetzten Tage im Februar, den er uns vorher mitgeteilt, wurden wir nicht lange in Spannung gehalten. Schon im Laufe des Vormittags meldete ein Telegramm von ihm: Vom Mündlichen dispensiert.
Ich antwortete ähnlich wie Katharina II. auf die Mitteilung Suworows von der Erstürmung WarschausIm polnischen Feldzug gegen die Konföderation von Bar übernahm Suworow im Mai 1769 erstmals eine Brigade. In nur zwölf Tagen legte er im Sommer 1769 mit dem Susdaler Regiment und zwei Eskadronen Husaren die 500 Kilometer bis Warschau zurück und nahm die Stadt ein. Am 23. September 1771 besiegte Suworow mit 822 russischen Soldaten 3.000 bis 4.000 polnische Konföderierte.Klick hier für Wikipedia [7] lakonisch mit einem zurücktelegrafierten Bravo!
Der gute Onkel Hellmuth Wiesener in Swinemünde war so erfreut über diesen ruhmvollen Ausgang, dass er ihm 30 Mark schenkte.
Nun galt es, die Universität für sein Studium zu wählen. Für die Theologie hatte er sich nach einigem Schwanken schon vor längerer Zeit entschieden. Göttingen sollte für die letzten Semester aufgespart bleiben. Leipzig, das mir ja von meiner eigenen Universitätszeit her in der besten Erinnerung war, eignete sich gerade für die ersten Semester nicht. Erlangen galt als damals wenig anregend. So wurde Rostock gewählt. Hier war HashagenFriedrich Hashagen (1841-1925) war ein lutherischer Theologe und Hochschullehrer.Klick hier für Wikipedia [8], dem ich einige Male flüchtig begegnet war und bei dem ich, weil er aus der Lesumer Gemeinde stammte und aus der Lesumer Superintendentur einst seine Frau geholt hatte, persönliches Interesse voraussetzen konnte. Wilhelm WaltherWilhelm Walther (1846-1924) war ein lutherischer Theologe und Rektor der Universität Rostock.Klick hier für Wikipedia [9], der Lutherforscher, und besonders der Alttestamentler [Justus] Köberle galten als anregende Dozenten. An Hashagen, der damals Präses des theologischen Vereins war, schrieb ich, und er hat sich von vornherein Gerhards treulich angenommen, der denn auch, ohne dass ich ihn dazu besonders ermuntert hätte, in den theologischen Verein eintrat. Von Hashagen als Dozenten hat Gerhard allerdings nicht viel gehabt. Auch Walther schätzte er nicht besonders. Denn dessen ironische Art, die Gegner abzufertigen, stieß ihn ab und flößte ihm eher Sympathie für dieselben ein. Viel dagegen hat er von Köberle gehabt und betrauerte ihn tief, als derselbe schon während Gerhardts Rostocker Zeit in der Blüte seiner Jahre starb.
Viel hat Gerhard auch vom theologischen Verein gehabt. Verschiedene alte Herren desselben, die sich in reger Verbindung mit ihm hielten, lernte er kennen, unter anderem auch meinen alten Freund Rühe. Auch Genzken in Wismar lernte er kennen, der allerdings durch den erschütternden Tod seiner beiden Söhne tief gebeugt und deshalb wenig zugänglich war. Von seinen Studiengenossen brachte Gerhard verschiedene zu den Ferien mit. So wurde unser Haus damals von viel Jugend belebt. Auch unsere Töchter brachten Freundinnen mit. Als Gerhard nämlich zur Universität reiste, begleitete ihn Thekla, um zunächst einer Einladung der Swinemünder Großmutter zu folgen, von da aber Tante Grete in Leipzig und endlich Freund [Heinrich] Jentschsiehe Teil 4 (Leipzig), Kapitel 17 [10] in Kohren zu besuchen. Von da brachte sie im August dessen jüngste Tochter, mein Patkind Christine, mit, die mehrere Wochen bei uns blieb und uns in der Zeit sehr lieb wurde. Besonders freute ich mich, dass auf diese Weise die alte Freundschaft in die zweite Generation verpflanzt wurde. Ähnlich war es schon einige Wochen vorher mit zwei Töchtern Hoppes ergangen, die in Magdalenes und Käthes Alter standen. Ich war um Pfingsten seiner Einladung nach Hildesheim gefolgt, um an der von Tina Gleiß damals ins Leben gerufenen Konferenz für Religionslehrerinnen, ihre erste Tagung in Hildesheim abhielt, teilzunehmen. Dort hatte ich dessen Töchter zu einem Besuch bei uns eingeladen, und sie waren der Einladung im Juli gefolgt und hatten sich mit unseren Töchtern angefreundet. Auch der Sohn eines anderen Freundes, Hans Wegener, der Sohn von Rudolf Wegener in Niederlößnitz, wurde durch die Freundschaft mit Gerhard, dem er im theologischen Verein nahe getreten war, in unser Haus geführt.
Neben diesen Gästen, die längere Zeit bei uns weilten, sahen wir häufig Jugend auf Stunden bei uns, mit denen unsere Kinder Freundschaft geschlossen, die dann für einen Nachmittag oder Abend zu uns kamen, mit denen fröhliche Spiele in unserem schönen Garten veranstaltet wurden. Nicht der geringste Vorzug, den Lesum uns bot, war ja der schöne Garten, der zur Superintendentur gehörte. Wie oft wurden die Wege desselben zum Begegnen-Spiel benutzt. Und wie oft klangen aus der Linde in der Südostecke des Gartens Lieder wie Lenore fuhr ums Morgenrot
nach der Melodie O alte Burschenherrlichkeit
. Ein besonders reger Verkehr entwickelte sich bald mit der Familie Müller in Oslebshausen, Müller, ein prächtiger, warmherziger Mann, war verheiratet mit einer Quasi-Kusine Elisabeths, einer Tochter des Forstmeisters Kahle. Wir machten ihnen bald Besuch, und der auf diese Weise angeknüpfte Verkehr wurde sowohl von ihm und seiner Frau als auch von den fünf Kindern, drei Söhnen und zwei Töchtern, die im Alter zu unsern passten, mit sichtlicher Freude aufgenommen und mit Eifer gepflegt. Bei Familienfesten in Oslebshausen durften wir nicht fehlen, wie sie auch an unsern Festlichkeiten teilnahmen. Und besonders während der Schulferien war die Jugend häufig beisammen und spielte miteinander. Von den Pfarrhäusern der Inspektion traten wir besonders denen zu Aumund und dem zu Grohn nahe. Sowohl mit Cuntz in Aumund als mit Fehly in Grohn verstand ich mich theologisch und kirchlich besonders gut. Und ebenso verband gleiche Gesinnung meine Frau mit der feinen Frau Cuntz, einer Tochter des Hamburgers [Carl] NinckCarl Ninck (1834-1887) war ein evangelisch-lutherischer Theologe und Schriftsteller.Klick hier für Wikipedia [11], und der schlichten, aber klugen und gradherzigen Frau Fehly. Von Fehlys Kindern stand freilich nur die älteste mit unserer jüngsten im gleichen Alter. Aber auch die jüngeren rasch aufeinander folgenden Kinder fühlten sich bei uns zu Hause. Cuntz' waren kinderlos. Aber sie hatten häufig junge Mädchen für kürzere oder längere Zeit im Hause, die sich mit unsern Kindern befreundeten. So besonders die beiden Nichten aus Dresden, Grete und Mia Rudert.
Eine besondere Freude war es für uns, dass bald nach uns meine Schwiegermutter [Thekla von Stoltzenberg] nach Lesum übersiedelte. Schwager Friedrich [Borchers] folgte um diese Zeit einem Ruf als Seemannspastor in Barry-Dock am Bristol-Kanal. Dahin konnte ihm Mama nicht folgen. Und da gerade eine Wohnung in Lesum frei war und uns für sie angeboten wurde, griffen wir zu, und als Friedrich im Laufe des Winters nach England übersiedelte, kam sie zu uns. Die von ihr zuerst bezogene Wohnung erwies sich zwar bald als wenig geeignet, da sie, am Fuße des Emmaberges gelegen, feucht war. Aber es fand sich bald eine andere, nur wenig entferntere, in Burgdamm. Dort hat sie dann eine lange Reihe von Jahren gewohnt, und wir sahen uns fast täglich mit ihr. Besonders war es mir stets eine Freude, wenn ich einen Gang in die Gemeinde - Burgdamm war das größte der zu meinem Bezirk gehörenden Dörfer, und ich hatte hier wohl am meisten zu tun, Elisabeth nannte scherzend Burgdamm mein Kind, Lesum mein Stiefkind - bei ihr beendigen konnte und, von ihr stets gastlich aufgenommen, meine Erlebnisse und Erfahrungen mit ihr austauschte. Und wie oft haben wir, etwa an schönen Sommerabenden, bei ihr auf dem Balkon gesessen. Nach einiger Zeit zog auch Schwager Theodor [Borchers], als sein zunehmendes Rückenmarksleiden ihn zwang, seine Stellung aufzugeben, zu ihr, und zwischen ihm und unseren Kindern entwickelte sich eine Freundschaft, bei der der Altersunterschied durch seine kindliche und anspruchslose Art überbrückt wurde. Nach einigen Jahren nötigte ihn seine zunehmende Hilflosigkeit, infolge deren seine Pflege die Kräfte sowohl Mamas als auch DortchensDortchen (Nachname unbekannt) kam als 14-jähriges Mädchen zur Familie Rudolph und Thekla Borchers. Sie lebte nach Thekla von Stoltzenbergs Tod im Pfarrhaus bei Friedrich Borchers und seiner Frau. Dortchen ist über 90 geworden und war Ehrenbürgerin der Stadt Melle
. [12] überstieg, zu seiner Aufnahme ins Stephansstift.
[2] Johannes Remmers (1842-1918) war ein lutherischer Theologe, Konsistorialrat und Generalsuperintendent der Generaldiözese Bremen-Verden.
[3]
Des Menschen Herz plant seinen Weg, doch der HERR lenkt seinen Schritt.
[4] Ida Janson (1847-1923) war eine Pädagogin und Schulleiterin in Bremen.
[5] Selekta, lat.
auserlesene Klasse, an Gelehrtenschulen eine Schulklasse, in welcher die ausgezeichnetsten Schüler der obersten Stufe saßen und auf das Studium an der Universität vorbereitet wurden.
[6] Julius Rißmüller (1863-1933) war Oberbürgermeister von Osnabrück.
[7] Im polnischen Feldzug gegen die Konföderation von Bar übernahm Suworow im Mai 1769 erstmals eine Brigade. In nur zwölf Tagen legte er im Sommer 1769 mit dem Susdaler Regiment und zwei Eskadronen Husaren die 500 Kilometer bis Warschau zurück und nahm die Stadt ein. Am 23. September 1771 besiegte Suworow mit 822 russischen Soldaten 3.000 bis 4.000 polnische Konföderierte.
[8] Friedrich Hashagen (1841-1925) war ein lutherischer Theologe und Hochschullehrer.
[9] Wilhelm Walther (1846-1924) war ein lutherischer Theologe und Rektor der Universität Rostock.
[10] siehe Teil 4 (Leipzig), Kapitel 17
[11] Carl Ninck (1834-1887) war ein evangelisch-lutherischer Theologe und Schriftsteller.
[12] Dortchen (Nachname unbekannt) kam als 14-jähriges Mädchen zur Familie Rudolph und Thekla Borchers. Sie lebte nach Thekla von Stoltzenbergs Tod im Pfarrhaus bei Friedrich Borchers und seiner Frau. Dortchen ist über 90 geworden und war
Ehrenbürgerin der Stadt Melle.