Teil 11 - Diepholz, 1900-1906
Kapitel 5
Erste Familien
An der Spitze der Gesellschaft in Diepholz aber stand die Familie des Kaufmanns Schwarze, der ein Getreidegeschäft en gros hatte und ein sehr schönes, geschmackvoll eingerichtetes Haus besaß. Frau Schwarze war, obgleich sie nicht gerade aus erstklassigen Verhältnissen stammte, eine vollendete Weltdame, beteiligte sich aber auch an allerlei humanitären und christlichen Bestrebungen, wobei freilich zweifelhaft blieb, ob sie dabei nicht auch ihr eigenes Prestige im Auge hatte. Mir wurde erzählt, dass mein Vorgänger ihr zeitweilig sehr nahe gestanden und sie in ziemlich überschwänglichen Tönen gepriesen habe, dann aber sehr von ihr zurückgekommen sei. Ich habe mich ihr gegenüber stets etwas in Reserve gehalten, sie aber stets zugänglich gefunden, wenn ich etwas von ihr erreichen wollte. Zwei Söhne des Hauses verheirateten sich zu meiner Zeit und begründeten eigene Häuslichkeit in Diepholz. Die Frauen, die sie mitbrachten, machten beide einen gediegenen Eindruck.
Wir wurden im ersten Winter in verschiedene der ersten Familien eingeladen. Es ging dabei fein, aber nicht übertrieben üppig her. Wir konnten das in den beiden ersten Wintern Familienverhältnisse halber nicht erwidern. Erst im dritten gaben wir, ich glaube das einzige Mal, eine größere Gesellschaft. Doch sahen wir bei einigen Gelegenheiten einen kleineren Kreis um uns, den wir in einfacher Weise bewirteten, und das fand auch bei anderen in der Folge Nachahmung.
Näher als all den Genannten traten wir aber dem Rektor Kaiser und seiner Frau. Kaiser hatte zwar nur eine seminaristische Vorbildung genossen, sich aber selbst weiter fortgebildet, so dass er es gewiss mit manchem Studierten aufnahm. Er hatte auch ein sehr brauchbares Lehrbuch der Weltgeschichte verfasst. Vor allem aber war er ein tief gegründeter Christ, der auf Kollegen wie Schüler in bestem Sinne einzuwirken suchte. Als Lehrer war er wegen seiner Strenge, die sich auch wohl einmal zu Heftigkeit fortreißen ließ, gefürchtet. Aber er verstand es auch, mit der Jugend jung zu sein, so dass bei Ausflügen er der Mittelpunkt war. Im ganzen Ort genoss wohl niemand größeres Ansehen als er. Dabei leitete er die Lehrerkonferenz des ganzen Kreises, und ich wusste als Kreisschulinspektor nichts Besseres zu tun, als an derselben regelmäßig teilzunehmen. Als Mitglied des Kirchenvorstandes stand er mir treu zur Seite, und bei ihm konnte ich mir besten Rat holen. Seine Frau, aus dem Lande Wursten stammend und mit den HanffstengelsPastor Emil von Hanffstengel und Wilhelmine geb. Borchers, die Schwägerin des Autors, die damals in Misselwarden wohnten. [11] bekannt, wurde eine treue Freundin meiner Frau. Beide Eheleute, selbst ohne Kinder, fassten auch eine herzliche Zuneigung zu unseren Kindern, und es war ein Fest für dieselben, wenn sie von Rektors eingeladen wurden und in dem schönen Garten derselben mit ihm spielen durften. In Diepholz hatte bis kurz vor meinem Antritt die Volksschule eine gehobene Abteilung gehabt. Kaiser, Leiter der ganzen Schule, hatte nur in der gehobenen Abteilung unterrichtet. Die Regierung hatte aber die gehobene Abteilung aufgelöst und Errichtung einer Mittelschule verfügt, deren Rektor Kaiser nicht werden konnte, da man bei seinem fortgeschrittenen Alter die Höhe des Pensionssatzes nicht meinte tragen zu können. So wurde für die Mittelschule ein eigener Rektor angestellt, und Kaiser musste sich auf den Unterricht in der Volksschule zurückziehen. Die Regierung fühlte selbst die Kränkung, die ihm damit zugefügt wurde, und fasste den Plan, ihn irgendwie zu entschädigen, etwa durch Übertragung einer Kreisschulinspektion. Schulrat von Berg kam deshalb eines Tages, fand aber doch, dass er für eine neue Stellung schon zu alt sei. Er war damals bereits Sechziger. Alle etwaigen Pläne, die man mit ihm haben mochte, durchkreuzte Gott selbst. Kaiser machte in den Sommerferien 1904 eine Reise ins Sauerland, kehrte aus demselben aber krank zurück. Ein typhöses Fieber entwickelte sich bei ihm, und nachdem die Krankheit lange Wochen hindurch hin und her geschwankt hatte, starb er am 16. Trinitatis. Ich hielt ihm die ParentationTrauerredeKlick hier für Wikipedia [12] im Hause über das Sonntagsevangelium. Am Grabe sprach Menke über die Worte des Propheten Daniel: Die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.
Noch einen anderen trefflichen Schulmann besaß Diepholz damals, den Vorsteher der Präparandenanstalt Grelle. Da ich keine dienstlichen Beziehungen zu ihm hatte, wurde ich weniger mit ihm bekannt. Aber wo ich mit ihm in Berührung kam, zeigte er sich stets als ein Mann, der der Kirche aufrichtig dienen wollte. Er war ein Charakterkopf von der Art, wie sie immer seltener werden. Er begab sich schon zu meiner Zeit in den Ruhestand, und die Abschiedsfeier, die ihm bereitet wurde, zeugte von der Liebe und Verehrung, die er bei seinen zahlreichen Schülern genoss. Auch sein Nachfolger Meyerholz war ein trefflicher Mann, der mit der Kirche Fühlung hielt.
Noch einiger anderer Persönlichkeiten, denen wir näher traten, muss ich gedenken. So der Frau des Apothekers Jäger, zu der meine Frau sich besonders hingezogen fühlte, und mit der sie sich wohl nächst der Frau Rektor Kaiser am besten verstand. Ich besuchte öfters ihre Mutter, eine Frau Pastor Koch, die in jener Zeit zu ihrer Tochter übersiedelte, um ihre letzten Lebensjahre bei ihr zuzubringen, und die gerade in den Tagen, wo wir von Diepholz schieden, starb. Die Tochter hat die Mutter dann nur um wenige Jahre überlebt.
Endlich muss ich dann noch die Familie des Kaufmanns Feuß erwähnen, die uns gegenüber wohnten und die sich uns stets als gute Freunde und getreue Nachbarn bewiesen haben. Besonders Frau Feuß zeigte stets ein warmes Interesse für unsere Kinder. Von überzarter Gesundheit - sie starb dann auch noch zu unserer Zeit - konnte sie das Haus wenig verlassen, beobachtete sie dieselben gern von ihrem Fenster aus, wie sie aus- und eingingen und freute sich, wenn Martin und später auch Annelise zu ihr ins Zimmer kamen und bei ihr spielten. Besonders ihre Tochter Else, als wir nach Diepholz kamen etwa 20 Jahre alt, beschäftigte sich mit großer Liebe mit ihnen. Ich höre Annelise noch von gute, liebe Else Feuß
reden. Martin aber erklärte sie heiraten zu wollen. Derselbe war daneben auch fleißiger Besucher des Feußschen Ladens und schloss Freundschaft mit den darin beschäftigten Kommis. Besonders der älteste derselben, Engel, hatte eine geradezu zärtliche Liebe für ihn. Feuß selber war eine schüchterne Natur. Am Tode seiner Frau trug er schwer. Er trat zu meiner Zeit als Ersatzmann in den Kirchenvorstand ein, und ich sehe noch, mit welcher Schüchternheit er vor den Altar trat, als ich ihn einführte.
So gab es eine ganze Anzahl von Menschen, die wir schätzten, und besonders meine Frau hat viel Freude an dem Umgang mit den Menschen daselbst gehabt. In der Gemeinde selbst aber bin ich die ganze Zeit nicht recht warm geworden. Abgesehen von den Beamten bestand die Gemeinde aus kleinen Geschäftsleuten und AckerbürgernAls Ackerbürger wurden diejenigen Bürger einer Stadt oder Bewohner einer Marktgemeinde bezeichnet, die im Haupterwerb Landwirtschaft betrieben und daraus den wesentlichen Teil ihrer Einkünfte bezogen.Klick hier für Wikipedia [13]. Und dieselben zeigten zwar keine ausgesprochene Kirchenfeindschaft - bei der damals stattfindenden Reichstagswahl, die ein so bedrohliches Anwachsen der Sozialdemokratie zeigte und den Anlass der Bildung des Bülow-Blocks bot, wurden meines Wissens in Diepholz nur acht sozialdemokratische Stimmen abgegeben - wohl aber durchweg bleierne Gleichgültigkeit. Lebendigeres kirchliches Interesse war nur bei verschwindenden Ausnahmen zu finden. Die geistig vielleicht hochstehendsten unter den eingesessenen Bürgern, die Gebrüder Klatte, Brüder des Osnabrücker Pastors, waren zudem unverheiratet, sodass man kaum Anknüpfungspunkte zu ihnen fand. Der Kirchenbesuch machte ja dadurch keinen ganz schlechten Eindruck, dass die Schüler der Präparandenanstalt zum regelmäßigen Besuchen des Gottesdienstes angehalten wurden. Auch die Besucher der landwirtschaftlichen Winterschule, die Ackermännkens
, wie sie genannt wurden, füllten die Kirche noch etwas, störten freilich den Gottesdienst gelegentlich durch Schwatzen - einmal sah ich mich genötigt, die Predigt zu unterbrechen und um Ruhe zu bitten - und auf den Priechen saß immer eine Anzahl von Honoratioren. Aber im Übrigen war der Kirchenbesuch ziemlich kläglich. Die Kirchengemeinde bestand nur aus der einen politischen Gemeinde. Aber eine Anzahl Höfe war hinausgebaut. Ein Komplex derselben unter dem Namen Graftlage war eine Stunde und darüber vom eigentlichen Ort entfernt, und auf halbem Wege dahin lag das Gut Hemtewede. Und die Bewohner dieser Höfe machten einen entschieden angenehmeren Eindruck als die eigentlichen Fleckensbewohner, unter denen übrigens die des Ortsteils Willenberg, der westlich von der Lohne lag, am tiefsten standen.
[12] Trauerrede
[13] Als Ackerbürger wurden diejenigen Bürger einer Stadt oder Bewohner einer Marktgemeinde bezeichnet, die im Haupterwerb Landwirtschaft betrieben und daraus den wesentlichen Teil ihrer Einkünfte bezogen.