So habe ich das Deutsche Jungvolk
erlebt
Kapitel 10 — Lange Schatten der Vergangenheit
Arbeiter, belogen und verraten
Ungefähr 20 bis 30 Jahre nach Kriegsende berichteten die Zeitungen über einen ganz hohen Gewerkschaftsführer in Wort und Bild. Er war gerade frisch in seine Position gewählt worden. Meine Mutter las einen dieser Berichte und sagte: Och, den kenne ich ja. Der ist doch hier aus Werne.
Ungläubig bemerkte ich: Kann nicht sein, dann wäre er ja mein früherer Jungbannführer? Verwechselst du nicht etwas?
Nein, nein!
antwortete sie bestimmt. Ich kenne auch seine Eltern. Gute Leute. Sie waren im EC (
Entschiedenes Christentum
, - damals im Visier der GestapoDie Geheime Staatspolizei, auch kurz Gestapo genannt, war ein kriminalpolizeilicher Behördenapparat und die Politische Polizei während der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945. Sie entstand kurz nach der Machtergreifung der NSDAP 1933 aus der Preußischen Geheimpolizei sowie aus den entsprechenden Bereichen der Polizei der Länder der Weimarer Republik. 1939 wurde die Gestapo in das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) (Amt IV) eingegliedert. Als Instrument der NS-Regierung besaß sie weitreichende Machtbefugnisse bei der Bekämpfung politischer Gegner. In den Nürnberger Prozessen wurde sie zu einer verbrecherischen Organisation erklärt.Siehe Wikipedia.org). Das schien mir unglaublich. Wie kann ein Nationalsozialist Arbeiterführer werden?
hielt ich ihr vor. Doch sie blieb ganz eindeutig bei ihrer Aussage. Mein Stiefvater schaltete sich in das Gespräch ein und bemerkte: Die NSDAPDie Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) war eine in der Weimarer Republik gegründete politische Partei, deren Programm beziehungsweise Ideologie (der Nationalsozialismus) von radikalem Antisemitismus und Nationalismus sowie der Ablehnung von Demokratie und Marxismus bestimmt war. Sie war als straffe Führerpartei organisiert. Ihr Parteivorsitzender war ab 1921 der spätere Reichskanzler Adolf Hitler, unter dem sie Deutschland in der Diktatur des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 als einzige zugelassene Partei beherrschte.Siehe Wikipedia.org war doch auch eine Arbeiterpartei. Ohne die Massen wäre Hitler nicht so hoch gekommen.
Er musste es ja als Zeitzeuge genau wissen, weil er selbst als junger Mann in den zwanziger Jahren als Roter FrontkämpferDer Rote Frontkämpferbund (RFB) war die paramilitärische Schutztruppe der KPD in der Weimarer Republik. Er wurde Mitte Juli 1924 in Halle/Saale gegründet (es werden unterschiedliche Daten kolportiert) und entwickelte eine Agitationskultur, die von einem Frontkämpferdasein ebenso geprägt war wie von ihrem politischen Selbstverständnis. Am 3. Mai 1929 wurde der RFB vom preußischen Innenminister verboten. Seine Mitglieder agierten in Nachfolgeorganisationen oder wechselten die politische Heimat.Siehe Wikipedia.org
an den Straßenschlachten in Bochums Arbeitervierteln gegen die SADie Sturmabteilung (SA) war die paramilitärische Kampforganisation der NSDAP während der Weimarer Republik und spielte als Ordnertruppe eine entscheidende Rolle beim Aufstieg der Nationalsozialisten, indem sie deren Versammlungen vor Gruppen politischer Gegner mit Gewalt abschirmte oder gegnerische Veranstaltungen massiv behinderte.Siehe Wikipedia.org hautnah im wahrsten Sinne des Wortes beteiligt war. Das bezeugten seine Narben auf dem Oberkörper, den er selbst bei größter Hitze immer mit einem Hemd bedeckte, wahrscheinlich aus Scham. Beide, die Roten und die Braunen, versprachen uns, den Millionen Industriearbeitern, die mit ihren Familien in bitterer Armut lebten, Arbeit und Brot. Da war die Ideologie Nebensache. Es war reiner Zufall, in welche Partei du geraten bist.
fügte er hinzu.
Er hatte damals frühzeitig erkannt, dass dem Diktator Stalin das Schicksal der deutschen Arbeiter gleichgültig war und er sie nur für seine internationalen, politischen Ziele missbrauchte und verriet. So trat er lange vor Hitlers Machtergreifung aus der KPD aus. Das schützte ihn 1933Wichtige Daten finden Sie in derZeittafel der Machtergreifung 1933
die wir für Sie zusammengestellt haben. dennoch nicht vor der Verhaftung und dem Umerziehungslager, wie anfangs ein Konzentrationslager genannt wurde. Seitdem er nach einiger Zeit von dort mit viel Glück und der Fürsprache eines führenden SA-Mannes, mit dem er schon als Kind im Sandkasten gespielt hatte, entlassen worden war, wollte er von der Politik absolut nichts mehr wissen.
Ich brachte für seine Haltung wenig Verständnis auf, bis ich mit meiner Familie nach Hamburg verzogen war und meinen inzwischen betagten Eltern auf einer privaten Sightseeing-Tour die Hansestadt zeigte. Ich hielt mein Auto auch am Ernst-Thälmann-Haus an, und der Vater sagte: Den habe ich gut gekannt, ein aufrichtiger Mann, er war oft bei uns.
Und dann brach es aus ihm heraus mit einer Gesprächigkeit, die wir von ihm nicht kannten. Er erzählte das erste und einzige Mal am Stück interne Dinge aus seinem politischen Leben und den damaligen Zuständen, die meiner Mutter und mir völlig neu waren. Wir hörten lange fasziniert zu und gewannen großes Verständnis für seine Einstellung und bisherige Verschlossenheit. Schade, dass kein Tonband mitlief. Es wäre ein historischer Knüller geworden.