So habe ich das Deutsche Jungvolk
erlebt
Kapitel 2 — Einberufung
Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren…, Vision in schneidiger Uniform
Ich kann mich noch genau daran erinnern, auf welche Weise ich die Aufforderung erhielt, beim Deutschen Jungvolk (DJ), auch Pimpfe genannt, der Jugendorganisation der Hitler-Jugend (HJ), zu erscheinen, und zwar wegen einer Behördenschlamperei, die mich ärgerte. Es war ein stiller Sonntag im Frühjahr 1943. Kein Fliegeralarm störte die Ruhe. Mein Vater brauchte an diesem Sonntag nicht zur Arbeit zu gehen. In dem Industriebetrieb, in dem er beschäftigt war, hatte der einzelne Mann an jedem zweiten Sonntag frei, dafür musste er am anderen Sonntag eine Doppelschicht à 24 Stunden fahren. So saß ich mit meinen Eltern und meiner kleinen, zweijährigen Schwester in unserer Wohnung. Es schellte, ich öffnete die Wohnungstür. Da standen zwei etwa 13 Jahre alte, uniformierte Jungvolkjungen, grüßten kurz und zackig mit dem deutschen Gruß
, der sich schnell gesprochen wie Heitler
anhörte. Diese nachlässige Verkürzung hatte ich schon oft gehört, aber niemand nahm Anstoß daran. Sie drückten mir einen bedruckten Zettel in die Hand und verschwanden schnell. Der Zettel war handschriftlich adressiert an den Junggenossen Günter Marbilla.
Über diese schlampige Verhunzung meines Hausnamens - ausgerechnet durch eine amtliche Stelle - war ich sehr erbost. Damals wurde von jedem Volksgenossen (so die gängige Bezeichnung) Korrektheit und Ordnung verlangt. In der Schule achteten die Lehrerinnen und Lehrer pedantisch auf richtige und saubere Schreibweise und rügten kleinste Fehler. Es gab sogar das Fach Schönschrift
mit einer Note im Zeugnis.
Auf dem Papier stand ferner, dass ich mich dann und dann auf dem Schulhof der Kreyenfeldschule, einer Volksschule in Bochum-Werne, einzufinden hätte. Da ich im Januar zehn Jahre alt geworden war, sah ich freudig dieser Einberufung entgegen, denn von älteren Jungen hatte ich gehört, welche für einen Jungen begehrenswerten Aktivitäten sich dort abspielten. Zunächst bekommt man auf Antrag einen Bezugsschein für die schneidige Uniform, bestehend aus Braunhemd, kurzer, schwarzer Manchesterhose (Kordstoff), Lederkoppel, Schulterriemen und schwarzem Halstuch mit Lederknoten. Die Fahne voran marschiert man in Marschkolonnen singend durch die Straßen mit Trommeln und Fanfaren. Es gibt Geländespiele, Zeltlager mit Lagerfeuer, Boxunterricht, Modellflugzeuge und -schiffe bauen und vieles mehr. Für besonders mutige Taten wird einem ein schmuckes Fahrtenmesser oder ein Ehrendolch verliehen, das oder den man stolz links am Koppel tragen darf.
Meine Eltern nahmen den Bescheid wortlos zur Kenntnis. Aus ihren Mienen sprach eine gewisse Abneigung, aber sie sagten mir nicht den Grund. Sie verboten mir auch nicht, dort hinzugehen. Erst viel später begriff ich warum. Es hätte nichts genützt, weil die Mitgliedschaft gesetzlich vorgeschrieben war.