So habe ich das Deutsche Jungvolk
erlebt
Kapitel 9 — Hordenkeile
Höchststrafe, nun schnallten alle ihre Schulterriemen ab
Im Innendienst saßen wir Bochumer in einem Klassenzimmer, sangen viele Lieder und übten die Texte ein. Unser Jungzugführer stand vor uns und dirigierte während des Singens. Eines Tages ließ er dirigieren. Er rief einige von uns nacheinander dazu auf. Da es ja Marschlieder waren, fiel das Dirigieren überhaupt nicht schwer. Man brauchte sich nur vorne hinzustellen und den Arm hin und her oder rauf und runter zu bewegen. Das ging auch ganz gut, bis er Alfred Hammel nach vorne befahl. Wenn sich das Sprichwort nomen est omen
bei jemand bewahrheitete, dann bei ihm. Er war zwar groß, kräftig und blond, hatte eigentlich die ideale Figur für einen Jungvolkführer. Aber er war auch vierschrötig, linkisch und ungesellig und kriegte die Zähne nicht auseinander, richtig stoffelig. Freunde hatte er keine. Seine schulischen Leistungen jedoch rechtfertigten immer eine Versetzung in die nächst höhere Klasse. Wenn ich sagen würde, er besaß das Temperament eines Faultiers, dann würde ich den harmlosen Pflanzenfresser beleidigen.
Hammel machte überhaupt keine Anstalten, nach vorne zu kommen. Erst als der Jungzugführer ihn anbrüllte, bewegte er sich im Schneckentempo aufs Podium und stand dort ohne Regung wie ein Sack Sülze
. Den Befehl: Dirigieren!
befolgte er mehrmals nicht. Wir waren alle baff, denn Befehlsverweigerung galt damals als eine der schlimmsten Straftaten. Daraufhin platzte
unserem relativ gutmütigen Jungzugführer der Kragen
, und er befahl: Hordenkeile!
Jeder von uns kannte theoretisch vom nationalpolitischen Unterricht her diese höchste aller Strafen, die auch gleichzeitig den unehrenhaften Rausschmiss aus dem Jungvolk bedeutete. Aber vollzogen worden war sie bei uns noch nie. Nun schnallten alle, die eine Uniform trugen, ihre Schulterriemen ab und versetzen dem Befehlsverweigerer, der kein einziges Wort von sich gab, damit einen Schlag über den Rücken. Anschließend wurde er mit einem Tritt in den Hintern sehr unsanft zur Tür hinaus befördert — und ward niemals mehr im Dienst gesehen. Diese Sache war somit geregelt.
Das war die letzte Begebenheit im Jungvolk, an die ich mich erinnern kann. Denn zu Beginn der großen Ferien im Jahr 1944 holte mich meine Mutter zurück in den Westen, ganz genau am 21. Juli.
Dieses Datum ist amtlich belegt durch eine etwas vergilbte Bescheinigung des Bürgermeisters als Ortspolizeibehörde zur Benutzung der Reichsbahn
, die ich neulich in einer Pappschachtel mit uralten Photos, teils noch aus dem ersten Weltkrieg, wiederfand. Nach Ende der Ferien Anfang September konnte ich infolge eines Ohrenleidens nicht nach Pommern zurückfahren. Als ich wieder einigermaßen gesund war, schrieb mein Vater meiner Mutter in seinem letzten Brief, ehe er am 4. Oktober an der Ostfront fiel: Schick den Jungen nicht zurück, denn wir sind auf dem Rückzug, der Russe ist bald da.
Glücklicherweise hatte die Briefzensur diesen Brief nicht geöffnet, und meine Mutter befolgte diesen guten Rat.
Ich bewunderte meinen Vater, weil er es gewagt hatte, dieses zu schreiben, denn er hätte wegen Wehrkraftzersetzung
vor ein Kriegsgericht gestellt werden können. Außerdem erstaunte mich, dass der Feind schon so nahe an der Reichsgrenze stehen sollte, denn das OKW (Oberkommando der Wehrmacht) gab nach meiner Erinnerung nur deutsche Siege und gelegentlich planmäßige Frontbegradigungen
bekannt. Aber meinem Vater glaubte ich natürlich mehr.
Meine Mutter erzählte einige Male, dass sie große Schwierigkeiten gehabt hätte, für mich Lebensmittelmarken zu erhalten, weil ich offiziell in Pommern gemeldet war und dort meiner Schulpflicht nachkommen musste. Aber sie bewies wie immer Geschick, wenn es galt, bei Behörden etwas durchzufechten
. Den wahren Grund durfte sie nicht nennen. Also behauptete sie, ich sei noch schwach und nicht fähig, die weite Reise alleine zu unternehmen, was ja nicht falsch war.
Auf diese Weise entging ich seit Juli 1944 dem Jungvolkdienst und später der Flucht vor der Roten Armee. Stattdessen war ich den Schrecken des Bombenkrieges ausgeliefert und hatte mehr als ein Jahr, bis Herbst 1945, keinen Schulunterricht.
C'est la vie — das ist das Leben.