Erinnerungen
Kapitel 11
Rückkehr in ein geteiltes Deutschland 1948
Endlich war der große Augenblick da! Wir wurden von Posten am Lagerzaun entlang zum Bahnhof gebracht und konnten noch einmal unseren Zurückgebliebenen
winken. Nach Alphabet wurden wir in die Waggons verteilt, die über Nacht noch auf den Gleisen standen. Die Innenausstattung der Waggons war diesmal dreietagig, oben waren kleine Fenster, und die Türen wurden diesmal nicht von außen verriegelt. Wir konnten mit offenen Türen durch den Ural fahren, uns das Land ansehen, und wenn der Zug mal anhielt, um den Gegenverkehr passieren zu lassen, sprangen wir heraus und konnten uns erleichtern. Wie das mit der Verpflegung geregelt war, habe ich vergessen. Während der Fahrt durch Polen wurden die Türen aber verriegelt, warum auch immer.
Am 25. Juli 1948 fuhr unser Zug in den Bahnhof Frankfurt (Oder) ein.
Nie werde ich vergessen, dass die Glocken läuteten und wir alle geweint haben. Es war ja Sonntag und Kirchgangzeit, aber diese Glocken haben nur für uns geläutet ‒ es musste einfach so sein.
Nach dem Aussteigen führte man uns zu Fuß zwei Kilometer weit nach Gronenfelde, dem Auffanglager aller aus sowjetischer Gefangenschaft Entlassenen. Dort wurden wir registriert und sortiert. Die neue Aufteilung ließ unseren Haufen immer kleiner werden. Auf jedes Bundesland wurde ein Haufen verteilt. Ich war in dem, der für Sachsen-Anhalt bestimmt war. Zwanzig Lagermark bekam jeder und musste sie dort auch ausgeben. Es war nichts Gescheites da und so habe ich mir, oh, welch ein Hohn, eine Kleider- und eine Schuhputzbürste gekauft.
Den Entlassungsschein mit einem großen imponierenden Stempel in der Hand, etwas Verpflegung für den nächsten Tag, so wurden wir per Bahn nach Torgau in das Auffanglager gebracht. Mit weißen Tischdecken gedeckte lange Tische, mit Graupensuppe gefüllte Schüsseln und ein Stück Brot, das endlich wieder den richtigen
Brotgeschmack hatte, wurden wir dort empfangen. Wir waren sehr überrascht, denn wir hatten ja für den Tag unsere Marschverpflegung schon in Gronenfelde bekommen. Trotz des schlechten Gewissens hat uns diese unerwartete Mahlzeit großartig gemundet.
Die letzte Etappe meiner Reise von Torgau nach Zerbst werde ich auch nie vergessen. Ich traute mich nicht, mich auf einen freien Platz im Zug zu setzen, und der Sachsen-Anhalt-Haufen wurde von Halt zu Halt immer kleiner. In Zerbst stieg ich alleine aus. Mein Herz klopfte wahnsinnig! Ich war ganz allein! Der Ausgang vom Bahnsteig führte durch das Bahnhofsgebäude, das ich mich nicht zu betreten getraute. Ich ging den Bahnsteig entlang und stand vor einem Maschendrahtzaun. Dort stand eine Frau mit einem Korb voll Falläpfeln, die sie wohl verkaufen wollte. Sie hat mich nicht überreden können, den Ausgang zu benutzen. Also half sie mir über den Zaun. Auf der anderen Seite kam ein junger Mann, den sie wohl kannte, und sie bat ihn, mir den Weg nach Leps zu zeigen, wo ich meine Mutter finden wollte. Zum Glück fragte er mich nichts, vor lauter Angst hätte ich sowieso nichts gesagt.
Nach Leps waren es noch sechs Kilometer. Ich ging nun mit Herzklopfen und voller Angst in eine mir unbekannte Richtung, meiner Mutter und meinem kleinen Bruder entgegen.
In der Hand trug ich einen alten Pappkoffer, der meiner im Lager verstorbenen Tante mal gehörte. Der war fast leer, aber unendlich schwer. Zu beiden Seiten der Pflasterstraße standen Obstbäume, die schon Fallobst abwarfen. Um nicht in die Versuchung zu kommen einen Apfel aufzuheben, ging ich mitten auf der Straße. Auf einmal sprach mich ein altes Mütterchen von hinten an. Sie trug eine Kiepe auf dem Rücken und kam aus der Stadt. Weil ich wohl sehr langsam ging, fragte sie mich, ob ich krank sei und wohin ich unterwegs war. Sie nahm mich an die Hand und trug auch noch meinen schweren
Koffer. In Leps zeigte sie mir den Hof, wo ich meine Mutter finden konnte. Ich ging auf den Hof, die Hunde bellten, und da kam auch schon so ein vollgefressener dicker Mann raus, die Daumen unter die Hosenträger gesteckt und fragte mich, was ich wohl wolle. Deine Mutter wohnt nicht mehr hier. Sie ist mit ihrem Mann ins Nachbardorf gezogen.
Gott sei Dank ‒ mein Vater war wieder aus seiner Gefangenschaft zurückgekommen! Ob ich Hunger habe, fragte er mich, denn es war Mittagszeit. Ich weigerte mich aber mit ins Haus zu gehen. Also brachte mir eine Frau einen Teller mit Kohlsuppe
raus und ich setzte mich auf eine Bank vor dem Haus.
Und noch immer war ich nicht am Ziel. Wie groß ist eigentlich die Welt? Über einen Feldweg nach drei Kilometern gelangte ich nach Steutz. Nun musste ich aber noch weiter, um zu Peter Sandmanns Elbhaus
zu gelangen. Wieder ging ich mitten auf der Straße und mir lief erneut das Wasser im Munde zusammen, denn nun waren zu beiden Seiten der Straße Obstplantagen! Fallobst in Hülle und Fülle.
Es sollten vom Dorf aus nur noch zwei Kilometer sein, aber die wurden mir mit der Zeit immer länger und länger. Ich ging und ging und ich sah immer noch kein Haus. Wer weiß, wo die mich hingeschickt haben? Dann ging ich durch einen Wald. Es kam eine Kurve nach der anderen und auf einmal stand da ein Haus. Wäre ich doch bloß im Lager geblieben, dann brauchte ich da nicht hinein. Ich hatte Angst vor dem Wiedersehen. Ich fühlte mich so allein!
Dennoch klopfte ich an die große Tür ‒ nichts rührte sich. Ich traute mich dann doch, den Drücker anzufassen und ins Haus zu gehen. Ein großer Flur und kein Mensch zu sehen. Am anderen Ende kam dann eine ältere Frau aus einer Tür und fragte mich, zu wem ich wolle. Zu Frau Böttcher
sagte ich. Da sie oben wohnte, ging ich die Treppe hoch. Es fehlten wohl noch zwei oder drei Stufen bis oben, da stürzte mein inzwischen neunjähriger Bruder Frank auf mich zu und beinahe wären wir zusammen die Treppe runtergefallen . Da kam Frau Edner dazu und holte mich in ihre Küche, denn meine Mutter war nicht da und hatte die Tür verschlossen. Frau Edner gab mir ein dunkles Bier und eine eingelegte Gurke ‒ welch ein Genuss! Ich war so froh, dass sie mich nichts fragte, denn ich hätte vor lauter Aufregung nichts sagen können
Um siebzehn Uhr kamen dann meine Eltern ins Haus. Meine Mutter umarmte mich zuerst, aber ich riss mich los und flog meinem Vater in die Arme. Seine Worte werde ich nie vergessen: Na du Ausreißer, bist du endlich wieder da?
Meine große Reise war nun zu Ende.
Aber, wer war ich? Was wird aus mir? Ich kann nichts, ‒ ich bin nichts, und ich habe nichts!