Teil 8 - Hannover, 1877-1880
Kapitel 15
Besuche in Berlin und Stettin
Den bedeutsamen Wendepunkt der preußischen Kirchenpolitik hatte ich übrigens aus nächster Nähe mit durchlebt und war nur durch äußere Umstände verhindert worden, unmittelbar Zeuge der betreffenden Ereignisse zu sein. Es war im Jahre 1877 in den ersten Tagen des Juni. Die Eltern waren begierig darauf, mich als neugebackenen Pastor zu sehen. Da es auch Uhlhorn so am besten passte, nahm ich Urlaub, und zwar reiste ich über Potsdam, da Onkel BernhardGarnisonspfarrer und Hofprediger Bernhard Rogge (1831-1919) in Potsdam, wohnhaft in der Priesterstraße 9, der Bruder seiner Mutter.Siehe Wikipedia.org [56] mich schon längst zu einem Besuch eingeladen hatte und gar nicht zufrieden war, dass ich immer wieder an ihm vorbeireiste. So lernte ich denn zum ersten Mal die zweite preußische Residenz mit ihrer durch die Havelseen und die vielen königlichen Schlösser ausgezeichneten Lage und die an sie geknüpften historischen Erinnerungen kennen. Schon unterwegs aber überfiel mich heftiges Zahnweh, das mir in Potsdam eine nahezu schlaflose Nacht bereitete. Ich fühlte mich deshalb am andern Morgen zu angegriffen, um Onkel Bernhard nach Berlin zu begleiten, wo er der Verhandlung der Kreissynode Berlin-Cölln als Gast anwohnen wollte. So kam ich denn um die hochdramatischen Szenen, die sich dort abspielten und von denen Onkel Bernhard bei seiner Rückkehr eine lebendige Schilderung gab. Hauptgegenstand waren die sogenannten Koefhanneschen(?) Anträge auf Freigabe des apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gottesdienst gewesen. Propst v. d. GoltzHermann Freiherr von der Goltz (1835-1906) war ein evangelischer Theologe und Kirchenpolitiker.Siehe Wikipedia.org [57] hatte in einem übrigens sehr maßvollen Referat übergang zur Tagesordnung beantragt, der linke Flügel war leidenschaftlich für sie eingetreten, vorab der Prediger Rohde von der Luisenstädtischen Kirche, der sich dazu verstiegen hatte, das Apostolikum das denkbar schlechteste Bekenntnis der Kirche zu nennen, was dann wieder scharfe Entgegnungen besonders der Hofprediger Kögel, Baur und Stöcker hervorgerufen hatte. Ein anderer Verhandlungsgegenstand, bei dem die Geister aufeinanderplatzten, war der Anstoß gewesen, den der Prediger HossbachBenjamin Hossbach (1834-1894) war ein deutscher evangelischer Pfarrer.Siehe Wikipedia.org [58] durch seine Wahlpredigt in der Jakobikirche gegeben hatte, der dann auch in der Folge dessen Nichtbestätigung nach sich zog. Onkel Bernhard verurteilte die Vorgänge besonders aus dem Gesichtspunkt heraus, dass infolgedessen das gerade schwebende Abschiedsgesuch des konfessionellen Konsistorialpräsidenten Riegel abgelehnt und dadurch die Stellung des Oberkirchenratspräsidenten Herrmann unhaltbar werden würde. So kam es denn auch. Als ich in Cöslin war, brachte die Zeitung die Ablehnung des Hegelschen Entlassungsgesuchs, die der Kaiser ausdrücklich mit den Vorgängen auf der Kreissynode Berlin-Cölln motivierte und die Vaters innigste Befriedigung hervorrief. Herrmann fiel dann auch, und die Generalsynode zeigte dann wie gesagt ein ganz anderes Gesicht als die vorangegangene. Von dieser erhielten wir übrigens auch lebendigen Bericht durch ein Mitglied desselben, den Erbmarschall von der Recke, der auf der Durchreise von Berlin nach seiner westfälischen Heimat einige Tage im Vereinshause zu Hannover weilte und mit seiner Familie am Vereinshaustisch aß. Mich interessierte an seinem Bericht auch die Erwähnung des Grafen Rothkirch-Trachsiehe Teil 2 (Bärsdorf), Kapitel 3 [59] auf Panthenau, des alten Freundes meiner Eltern, der durch seine sympathische Persönlichkeit der Mann des allgemeinen Vertrauens gewesen sei.
Nur mir erschwerten diese immerhin erfreulichen Vorgänge meine Position meinen Eltern gegenüber. Schon bei meinem Besuch in Cöslin hatte es Auseinandersetzungen mit Mutter gegeben, die damals eine Reise nach Vorhaus zu ihrer alten Freundin Frau Zimmer vorhatte und die Absicht aussprach, mich bei derselben für die in voraussichtlich nicht ferner Zeit zu erweisende Erledigung der Pfarre Samitz, deren Patron Herr Zimmer war, in Erinnerung zu bringen. Auch von Vorhaus schrieb sie mir noch in gleichem Sinne und suchte mir eine eventuelle Annahme dieser Stelle zur Pflicht zu machen. Als dann in der Pfingstwoche 1879 Vater, damals im Umzug nach Stettin begriffen, mich in Hannover besuchte, wobei er natürlich auch Uhlhorn und Lichtenberg kennen lernte, erzählte er mir beiläufig, dass Pastor Jäger in Bärsdorf voraussichtlich nicht mehr lange leben werde. Vielleicht 14 Tage später teilte er mir auf einer Karte dessen tatsächlich erfolgtes Ableben mit und fügte die Frage hinzu: Quid faciamus nos?
Ich antwortete prompt:
Vater hielt trotzdem bei seinem alten Schüler, dem Grafen Rothkirch, für mich um die Stelle an, kam aber glücklicherweise zu spät, da Graf Rothkirch seine Wahl bereits getroffen. Glücklicherweise, sage ich. Denn wie ich hinterher hörte, hatte er geäußert, wenn ich ablehnte, würde er das Tischtuch zwischen sich und mir zerschneiden. So wurde mir die Ablehnung erspart.Contenti estote
Was sollen wir machen?
- Seid zufrieden.
[60], begnügt euch mit eurem Kommissbrote.
Ich war von Hannover aus zweimal in Stettin, einmal wie erwähnt im Spätsommer 1879. Da kam ich gerade in das KaisermanöverDas bedeutendste Manöver im Deutschen Kaiserreich war das alljährliche in Gegenwart des Kaisers stattfindende Kaisermanöver.Siehe Wikipedia.org [61] und konnte von der Wohnung meiner Eltern an der Ritterstraße, die geradeswegs nach dem Schloss zuführte, täglich die allerhöchsten und höchsten Herrschaften vorüber reiten und fahren sehen. Einmal beobachtete ich auch auf dem Schlosshof die Einfahrt des Kaisers, dem ein kleines Mädchen einen Kornblumenstrauß überreichte, den er huldvoll annahm. Auf der Rückreise besuchte ich Alexander, der von Wahlstatt an die Hauptkadettenanstalt Lichterfelde übergegangen war und zuvor sich mit Elsbeth Stechow, Tochter des Direktors der Ritterakademie in Liegnitz, verlobt hatte. Eines Nachmittags, als er anderweit beschäftigt war, kommandierte er mir meine Schüler Enzio Reuß und die beiden jüngsten Loëns, die auch auf der Hauptkadettenakademie waren, ins Zimmer.
Als ich ein Jahr später wieder nach Stettin zum Besuch kam, konnte ich wenigstens berichten, dass ich eine Pfarrstelle in Aussicht hätte. Kurz vorher war im Sonntagsblatt die Pfarrstelle Mehrum bei Peine ausgeschrieben worden. Ich war daraufhin zu Kahle, dem Dezernenten in Stellenbesetzungssachen, gegangen und hatte ihn um Rat gefragt. Er riet mir, eine Bereitmeldung einzureichen, da das Konsistorium augenblicklich keine Stelle hätte, die für mich geeignet wäre. Nachdem ich bei Superintendent Propst in Groß Solschen, dem Ephorus von Mehrum, den ich ja noch von Bartels' Hochzeit her kannte, Erkundigungen eingezogen hatte, die günstig lauteten, reichte ich meine Bereitmeldung beim Konsistorium ein und konnte mit dieser Tatsache den Eltern unter die Augen treten. Mutter ging denn auch mit mir in ein Möbelgeschäft, da ja unter allen Umständen mit meiner baldigen Versetzung auf eine eigene Pfarre zu rechnen war, auch wenn es mit Mehrum nichts würde.
Es wurde mit Mehrum nichts. Einige Wochen später - ich war gerade von der Taufe meines Patkindes Friedrich Ehrenfeuchter zurückgekommen und hatte noch den Schluss der Bezirkssynode mitgemacht und an der Feier der Grundsteinlegung der Dreifaltigkeitskirche teilgenommen - traf ich mit Kahle zusammen, der mich fragte, ob ich wüsste, wie es mit Mehrum geworden, und auf meine verneinende Antwort mir sagte, ich sei gar nicht auf den Wahlaufsatz gekommen. Kurz darauf traf ich im Vereinshause Pastor Hagermann, Superintendent Propsts Kollaborator, der mir mit Grüßen von demselben mitteilte, er hätte die Kirchenvorsteher auf mich aufmerksam gemacht, ihnen meine Zeugnisse gezeigt und besonders auch betont, dass ich ja an der Schlosskirche in Hannover sei, sie also mit mir gewiss nichts schlechtes bekommen würden. Darauf hätten sie ihm geantwortet, wenn das der Fall wäre, würden sie mich doch nicht lange behalten, denn dann wurde ich doch gewiss bald Superintendent werden. Das war ein Trost für mich, wenn auch ein magerer. übrigens wurde dann der von ihnen Gewählte eher Superintendent als ich.
Um die Zeit erhielt ich auch eine Anfrage von Tante Anna Roon aus Crobnitz, ob ich mich nicht um die vakant werdende Pfarre Meuselwitz, wohin Crobnitz eingepfarrt war, bewerben wollte. Ich konnte darauf, abgesehen von allem andern, nicht eingehen, weil die Sache zu unsicher war. Die Stelle war nicht Patronat, sondern Wahlstelle, und ich war also gar nicht sicher, dass ich gewählt werden würde. Unter allen Umständen aber hätte das Wahlverfahren eine längere Zeit beansprucht, als mir, da die Ernennung des neuen Schlosspredigers jeden Tag erfolgen konnte, noch zu Gebot stand. Als ich das in einem Brief an Mutter geltend machte, sprach sie mir ihre Zweifel aus, ob ich von Hannover eher eine Stelle erhalten würde.
[57] Hermann Freiherr von der Goltz (1835-1906) war ein evangelischer Theologe und Kirchenpolitiker.
[58] Benjamin Hossbach (1834-1894) war ein deutscher evangelischer Pfarrer.
[59] siehe Teil 2 (Bärsdorf), Kapitel 3
[60]
Was sollen wir machen?-
Seid zufrieden.
[61] Das bedeutendste Manöver im Deutschen Kaiserreich war das alljährliche in Gegenwart des Kaisers stattfindende Kaisermanöver.