Teil 2 - Bärsdorf, 1857 bis 1864
Kapitel 3:
Die Rothkirchs, andere Adelsfamilien und Freunde
Selbstverständlich hatten wir auch Umgang mit den drei Gutsfamilien der Gemeinde. In erster Linie ist hier zu nennen der Baron RothkirchErnst Theodor Freiherr von Rothkirch-Trach (1820-1892) war ein deutscher Verwaltungsbeamter und Parlamentarier.Siehe Wikipedia.org [15], Vaters Kirchenpatron, der ihn wohl schon seit der Zeit, als er Hauslehrer bei ihm gewesen, als Nachfolger des damals schon alternden Pastors in Aussicht genommen hatte. Er war mein Pate und hatte mir als Patengeschenk den silbernen Becher geschenkt, der jetzt auf mein Patenkind Annemarie übergegangen ist. Er sowohl als seine Gemahlin, Tochter eines bei Jena gefallenen Offiziers, hat uns Kindern stets Freundlichkeit erwiesen. Wir wurden öfter auf das Schloss
- allerdings damals ein ziemlich unscheinbares Gebäude - zu den beiden alten Leuten geladen. Zum ersten Weihnachtsfest, das wir in Bärsdorf erlebten, kam der alte Herr vorher, uns Kindern allerlei Süßigkeiten mitzubringen. Und wenn die Frau Baronin, wie sie es gern tat, mit uns den Weihnachtsabend feierte, fand jedes der Kinder auf seinem Weihnachtstisch ein Zweitalerstück von ihrer Hand. Sie war entschieden der bedeutendere Teil von beiden, hatte auch sehr fühlbar das Regiment. In der Gemeinde war er beliebter als sie. Vater schätzte wohl sie mehr als ihn. Von den beiden, damals erwachsenen Söhnen, seinen ehemaligen Schülern, schätzte Vater besonders den älteren, der ihm auch lebenslänglich Anhänglichkeit bewahrte. Bei Gelegenheit des Krönungsfestes 1861 wurde die Familie in den Grafenstand erhoben, was natürlich in der Gemeinde gehörig gefeiert wurde. Unter anderem zogen die Schulkinder mit Windlichtern vor das Schloss und begrüßten mit einem vom Kantor eingeübten Lied das hohe gräfliche Paar
. Wir Pastorskinder wurden dann wohl aufs Schloss eingeladen und mussten den Abend bei den Herrschaften zubringen.
Kirchlich waren die beiden alten Herrschaften leider sehr wenig. Besonders den Grafen sah man sehr selten in der Kirche. Die Gräfin kam auch nur gelegentlich, um dem Pastor eine Aufmerksamkeit zu erweisen
. Ob sie bei der Predigt sehr aufmerksam zuhörte, weiß ich nicht. Sie musterte wohl mehr die Leute, und ihr Auge ruhte besonders wohlgefällig auf Alexander und mir, die wir unsere Plätze auf dem Orgelchor hatten. Einen Zusammenstoß, der eine dauernde Verstimmung nach sich zog, hatte Vater mit dem Grafen, als derselbe, dessen pekuniäre Verhältnisse nicht sehr geordnet waren, eine Anleihe bei der Kirchenkasse machen wollte und Vater unter deutlichem Hinweis auf das Ungesetzliche dieses Begehrens es ihm weigerte. Auch in Sachen des Turmbaus, den Vater betrieb, weil es seit Jahrzehnten als eine Notwendigkeit erkannt war, zu dem der Graf aber wegen Geldmangels sich nicht verstehen wollte, kam es wiederholt zu Differenzen. Noch im letzten Bärsdorfer Sommer wurde auf Vaters Bericht von der Regierung ein Bauverständiger hergeschickt und nach dessen Untersuchung der Abbruch des Glockenhauses wegen Lebensgefährlichkeit binnen kurzer Frist verfügt. Vater ließ daraufhin Arbeitsleute kommen. Als der Graf das hörte, schickte er seinen Wirtschaftsinspektor herauf mit dem Befehl, die Arbeit einzustellen. Vater wies die Leute an, auf seine Verantwortung die Arbeit fortzusetzen. Darauf kam der Graf selber, und es gab eine ziemlich erregte Unterredung, die Vater aber damit endigte, dass er die Verfügung der Regierung vorzeigte.
Besitzer von Buchwald war ein Rittmeister [Hugo] von EickstedtHugo Freiherr von Eickstedt (1832-1897) war ein schlesischer Rittergutsbesitzer und pommerscher Hofbeamter.Siehe Wikipedia.org [9], ein nicht sehr geistvoller aber gutmütiger Herr mit einer kleinen lebhaften Frau, die in den ersten Jahren längere Zeit kränkelte, und vier Kindern, drei Töchtern Anna, Ida und Wanda und einem Sohn, Hans. Die beiden jüngsten Kinder Hans und Wanda kamen eine Zeitlang nach Bärsdorf herüber, um von Vater unterrichtet zu werden, bis sie, Hans auf die Ritterakademie, Wanda in ein Töchterpensionat kamen. Anna und Ida, die diese Pensionen in früheren Jahren durchmachten, kamen nach dieser Zeit ziemlich viel zu uns, besuchten auch fleißig den Gottesdienst. Etwa ein halbes Jahr vor der Geburt unserer Zwillinge wurden bei Eickstedts auch Zwillingssöhne geboren, die Vater, obgleich die Entbindung in Liegnitz stattgefunden hatte, dort taufen musste, die aber beide wieder, gerade um die Zeit, wo unsere Zwillinge geboren wurden, starben. Die beiden Eickstedtschen Töchter wurden nun von unsern Eltern zu Paten gebeten und mussten die Zwillinge über die Taufe halten. In Schlesien ist das die Obliegenheit der Jungfer-Pate
, die bei keiner Taufe fehlen darf. Ich sehe noch, wie die beiden anmutigen jungen Mädchen, die für den Tag die Trauer abgelegt, in ihren weißen Kleidern sich über die Täuflinge beugten und dabei der Tränen sich nicht enthalten konnten. Leider verkauften Eickstedts kurz darauf ihr schönes Gut an einen Güterschlächter und zogen nach Dresden. Sie sind seitdem unserm Gesichtskreis entschwunden.
Fuchsmühl, das einen besonders schönen Park und ein stattliches Schloss mit Turm hatte, besaß damals ein Hauptmann [Eugen] Philipsborn, später mit seinen beiden Brüdern, dem Gesandten in KopenhagenKarl Alexander Wilhelm Maximilian (Max
) Philipsborn, ab 1865 von Philipsborn (1815-1885) war ein preußischer, später kaiserlich-deutscher Politiker und Diplomat.Siehe Wikipedia.org [10]
und dem General-PostmeisterKarl Ludwig Richard von Philipsborn (1808-1884) war ein preußischer Generalpostmeister und Generalpostdirektor des Norddeutschen Bundes.Siehe Wikipedia.org [11] geadelt. Der Verkehr mit dieser Familie war besonders in der ersten Zeit ziemlich rege. Später wurde er etwas flauer, wohl auch, weil diese Familie wenig kirchlich war. Übrigens wurde Fuchsmühl, das in kurzer Zeit durch mehrere Hände gegangen war, noch ehe wir von Bärsdorf wegkamen, wieder verkauft. Philipsborn war ein kluger Mann, aber kein großer Landwirt. Philipsborns hatten drei Kinder, Wilhelm, Gretchen und Adolf, alle drei hochbegabt, Gretchen, als sie herangewachsen war, eine große Schönheit. Wilhelm machte, noch nicht 17 Jahre alt, das Abiturientenexamen und wurde, das erste Beispiel, das zu unserer Kenntnis kam, vom Mündlichen dispensiert. Ich wurde von den Eltern ausgesandt, dazu zu gratulieren. Er absolvierte dann, da er zu jung war, um im Heer angenommen zu werden, sein akademisches Triennium3. bis 5. Klasse der theologischen AusbildungSiehe Wikipedia.org [12], machte den Dr. phil. und wurde dann Offizier. Er hätte wohl eine große militärische Zukunft gehabt, wurde auch bereits in diplomatischen Missionen verwandt, starb aber in den besten Jahren als Oberstleutnant. Adolf, ein Vierteljahr jünger als ich, wetteiferte mit uns in den Studien und hatte uns, wenn Vater mit uns im Unterricht etwas Neues angefangen, immer bald wieder eingeholt und überholt. Seinen Hauslehrer, Kandidat Jentzsch, ließen unsere Lorbeeren niemals ruhen, und mit solch einem Schüler wurde es ihm auch nicht schwer, sie uns zu entwinden. Jentzsch, wenige Jahre jünger als unser Vater, war der Typus eines alten Kandidaten, furchtbar besorgt um seine Gesundheit, ging nie ohne Regenschirm aus, so dass Herr Jentsch mit dem Regenschirm
ein stehendes Bild unter uns war. Wegen seiner Zimperlichkeit wurde es ihm auch schwer, eine Pfarrstelle zu erhalten. Als im Jahre 1864 ErdmannChristian Friedrich David Erdmann (1821-1905) war ein deutscher evangelischer Theologe und Kirchenhistoriker.Siehe Wikipedia.org [13], bis dahin Professor der Theologie in Königsberg, zum Generalsuperintendenten in Schlesien ernannt wurde und mein Vater Herrn Jentzsch fragte, ob er denselben kenne,antwortete dieser: Gewiss, ich habe mit ihm studiert.
- Als Hauslehrer leistete er übrigens Tüchtiges, was ihm bei solchen Schülern freilich auch nicht schwer werden konnte.
Innigeren Verkehr als mit diesen der Parochie angehörigen Familien, mit denen es zeitweilig wie erwähnt, eine Erkältung gab, pflogen meine Eltern mit einigen auswärtigen. Zu ihren gehörte fast die ganze Zeit, wo wir in Bärsdorf waren, und drüber hinaus die des Rittergutsbesitzers Zimmer auf Vorhaus, Premierleutnant a.D., durch Mutters Bemühungen später Hauptmann. Wegen Harthörigkeit hatte er frühzeitig seinen Dienst quittieren müssen und besaß in Vorhaus ein stattliches Besitztum, ein altes Schloss, malerisch auf einer Insel der Schwarzwasser gelegen, das aber damals nicht bewohnt war. Das modern eingerichtete Wohnhaus lag außerhalb der Umwallungen des Schlosses in Zusammenhang mit den Gutsgebäuden. Als ausgesprochener Jagdliebhaber war er besonders ein Gönner meines Bruders Alexander, der oft von ihm oder seinem ältesten Sohn Otto auf den Anstand eingeladen wurde. Frau Zimmer war besonders mit meiner Mutter innig befreundet.
Mit Zimmers befreundet war die Familie des Kreisrichters Michaelis in HaynauHeute: Chojnów, eine Stadt im Powiat Legnicki (Powiat Liegnitz) in der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien.Siehe Wikipedia.org [14]. In irgendeiner Streitsache, die die Gemeinde in Bärsdorf betraf, vertrat Michaelis den Widerpart, und mein Vater war mit ihm gelegentlich scharf aneinandergeraten. Denn Frau Michaelis sagte von ihrem Mann: Mein Mann ist wohl klein, aber oho!
, was bei uns zum geflügelten Wort wurde. Mein Vater hatte aber gehört, Michaelis sei ein ernster Christ und entschieden kirchlich gesinnter Mann. Deshalb trat er eines Tages, als er ihn in Haynau auf dem Bahnhof traf, an ihn heran und sagte zu ihm: Michaelis, wir haben uns bisher nur angeschnurrt, lassen Sie uns Freunde sein.
Michaelis schlug ein, und es wurde wirklich eine dauernde Freundschaft daraus. Wir sind verschiedentlich in Haynau bei ihnen gewesen. Einmal war gerade Jahrmarkt in Haynau, und die Kinder hatten Bunzlauer GeschirrAls Bunzlauer Keramik werden keramische Erzeugnisse (Haushaltsgeschirr, Kunstgegenstände) aus der niederschlesischen Stadt Bunzlau (heute: Boleslawiec) und ihrer Umgebung bezeichnet.Siehe Wikipedia.org [8] zum Spielen bekommen. Ich wunderte mich in Stillen, dass die Jungen, Hans und Georg, Kochgeschirr hatten, Marie aber nur einen kleinen Trinkbecher. Der Haushalt war ungemein einfach, die Kinder erhielten nur einen Apfel zum Schlafengehen. Gewöhnlich blieben die Eltern bis spät am Abend. Wir unterhielten uns derweil in der Kinderstube mit Hey-Spekters Fabeln. Das Exemplar, das wir besaßen, hatte Mutter als Kind schon benutzt, und verschiedene von den Fabeln fehlten in ihm. Wir interessierten uns natürlich für die uns unbekannten. Einmal kamen dann Michaelis' zu uns für einen ganzen Sonntag heraus. Frau Michaelis einmal auch mit den beiden ältesten Kindern für einige Zeit. Sie war eine besonders feine und liebenswürdige Frau und er ganz verliebt in sie. Besonders hatte sie eine schöne Singstimme. Von den Kindern war GeorgGeorg Michaelis (1857-1936) war ein deutscher Jurist und Politiker. Er war vom 14. Juli bis 31. Oktober 1917 für dreieinhalb Monate Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident.Siehe Wikipedia.org [16], der nachmalige Reichskanzler, uns noch zu klein, obwohl ich ihn besonders gern mochte. Dagegen spielten wir mit Hans, der Offizier wurde und es bis zum Generalmajor brachte, und mit Marie, die sich besonders an uns Jungen anschloss, so dass Elly eifersüchtig wurde und es ihr gelegentlich vorhielt, dass es viel passender wäre, wenn sie mit ihr spiele. Wir hörten das durchs offene Fenster, und Alexander sagte: Die predigt jetzt einen Kreuzzug gegen uns.
Wir hatten um die Zeit die Geschichte der Hohenstaufen. Besonders liebten Marie und ich uns. Leider blieb die Familie Michaelis nicht lange in Haynau. Sie wurden nach Bunzlau versetzt. Später kamen sie nach Frankfurt (Oder), wo er zum Appellationsgerichtsrat ernannt wurde, aber 1866 an der Cholera starb.
Erst später traten wir in nähere Verbindung mit der Familie des Grafen Rothkirch in PanthenauEr stammt aus der Linie Rothkirch und Panthen des alten schlesischen Adelsgeschlechts Rothkirch mit dem gleichnamigen Stammhaus bei Liegnitz.Siehe Wikipedia.org [17] südlich von Bärsdorf, einem Neffen unseres Kirchenpatrons, meines Wissens Besitzer des eigentlichen Stammgutes der Rothkirch. Zwischen beiden Familien bestand damals kein gutes Verhältnis. Der älteste Sohn, Leonhard, Leo genannt, war etwas jünger als ich und ein besonders liebenswürdiger Junge. Alexander hat ihn erwachsen wiedergesehen und auch dann viel von ihm gehalten. Er kam, als er die Schule besuchte, in das Haus des Direktors Stechow in Liegnitz, dessen Schwiegersohn Alexander wurde. Frau Direktor Stechow rühmte Leo Rothkirch noch, als ich sie bei Alexanders Beerdigung kennen lernte, als einen trefflichen Menschen. Der Graf war eine prächtige, edle Erscheinung, streng konservativ, und durch seine konservative Gesinnung kam er der Kirche näher und näher. Er ist später langjähriger Präsident der schlesischen Provinzialsynode gewesen und war als Mitglied der Generalsynode Mann des allgemeinen Vertrauens. Auch die Gräfin war eine prächtige Dame, einfach und herzlich.
[9] Hugo Freiherr von Eickstedt (1832-1897) war ein schlesischer Rittergutsbesitzer und pommerscher Hofbeamter.
[10] Karl Alexander Wilhelm Maximilian (
Max) Philipsborn, ab 1865 von Philipsborn (1815-1885) war ein preußischer, später kaiserlich-deutscher Politiker und Diplomat.
[11] Karl Ludwig Richard von Philipsborn (1808-1884) war ein preußischer Generalpostmeister und Generalpostdirektor des Norddeutschen Bundes.
[12] dritte bis fünfte Klasse der theologischen Ausbildung
[13] Christian Friedrich David Erdmann (1821-1905) war ein deutscher evangelischer Theologe und Kirchenhistoriker.
[14] Heute: Chojnów, eine Stadt im Powiat Legnicki (Powiat Liegnitz) in der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien.
[15] Als Bunzlauer Keramik werden keramische Erzeugnisse (Haushaltsgeschirr, Kunstgegenstände) aus der niederschlesischen Stadt Bunzlau (heute: Boleslawiec) und ihrer Umgebung bezeichnet.
[16] Georg Michaelis (1857-1936) war ein deutscher Jurist und Politiker. Er war vom 14. Juli bis 31. Oktober 1917 für dreieinhalb Monate Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident.
[17] Er stammt aus der Linie Rothkirch und Panthen des alten schlesischen Adelsgeschlechts Rothkirch mit dem gleichnamigen Stammhaus bei Liegnitz.