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War es ein Trunk von der ewigen Quelle?

Es war Januar 1945. Wir saßen im Viehwaggon nach Charkow in der Sowjetunion; meine Mutter, 39 Jahre alt, Schwester Irmgard 14, Bruder Wilhelm 9, Halbschwester Ursula fast 17 Jahre alt und ich, 10 Jahre alt. Die Fahrt nach Charkow ins Internierungslager dauerte 14 Tage, der Zug musste ständig halten und ewig warten. Wir fuhren von der polnischen Grenze ab. Als Proviant bekam jeder einen kleinen Beutel Sucharie, das ist ein steinhartes getrocknetes Brot, woran man sich die Zähne ausbrechen konnte. Solch Brot hat man wohl im damaligen Russland im Backofen getrocknet, um es für lange Zeit haltbar zu machen.

Also, diese Sucharie-Brocken waren unsere Verpflegung für die kommenden 14 Tage. Wir Kriegskinder wissen, man kann viele Tage überleben, ohne zu essen, auch schon als Kind kann man das. Aber der Mensch muss trinken, um zu überleben und auch im eisigen Winter 1945 mussten wir Wasser haben, doch das bekamen wir nur selten. Jemand von der Wachmannschaft hatte mit einer Axt ein Loch in den Boden des Waggons geschlagen, dort konnten wir unsere Notdurft verrichten. Durch das Loch kam die Kälte in den Waggon, wo nur Frauen und wir Kinder lagen. Deutsche und polnische Frauen zusammen und eben wir Kinder. Die Polinnen hatten für deutsche Bauern gearbeitet und mussten nun dafür nach Charkow. Es gab viel Gezanke zwischen den beiden Gruppen. Ein russischer Posten sagte einmal, als er die Schiebetür aufmachte, dass wir der schlimmste Waggon des ganzen Zuges wären.

In der Kälte gefror unser Atem und setzte sich zu einer dicken Eisschicht an den Wänden fest. Wenn wir Durst hatten, kratzten wir den Reif mit den Fingern von den Wänden. Das gab natürlich nicht die Flüssigkeit her, die man brauchte, und wir waren nach ein paar Tagen ständig durstig. Einige Male reichten uns die Russen Schnee in den Waggon, aber auch das reichte nicht weit. Einmal jedoch ging die Schiebetür auf, und es wurde ein großer Eimer Wasser hereingereicht. Als ich an die Reihe zum Trinken kam, habe ich so viel getrunken, dass ich anschließend nur sagen konnte, Mama ich habe mich satt getrunken

War es ein Trunk aus der ewigen Quelle? Ich lebe noch, doch die ich geliebt, sind alle tot: Mama, Irmgard und Willi. War es vom Wasser, das Jesus erwähnt, da er die Samariterin am Jakobsbrunnen trifft, dass ihr nie mehr dürsten würde, wenn sie von seiner ewigen Quelle trinken würde? Johannes-Evangelium, Kap. 4

An diese Begebenheit muss ich jetzt im Alter öfter denken.


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