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Tante Hilde

Unsere Krankenschwester in Burdungen hieß Hilde Emmersleben und kam aus Berlin. Und so kam etwas Großstadtluft mit ihr in unser Dorf. Sie bekam eine Dienstunterkunft im Gebäude des Kindergartens. Das war ein neues, schönes Gebäude, aber wann genau das gebaut wurde, das weiß ich nicht mehr, da war ich noch zu klein.

In diesem Haus wohnte auch schon die andere Tante Hilde, unsere Kindergärtnerin. Das Haus war mit allem Komfort ausgestattet, den man sich zu der damaligen Zeit denken konnte. Wann Tante Hilde, die Kindergärtnerin nach Burdungen kam, weiß ich nicht. So weit ich mich erinnern kann, war sie immer schon da, ebenso wie der Kindergarten.

Die Berliner Tante Hilde war NSV-Schwester und trug immer die Schwesterntracht mit weißem Häubchen. Sie freundete sich schnell mit meiner Mutter an und so hatten wir eigentlich immer jemanden, in dessen Obhut wir Kinder waren, wenn die Mama mal woanders arbeiten musste. Tante Hilde hatte ein Motorrad, mit dem war sie besser beweglich und kam sie schneller zu ihren Zielen bei uns im Dorf.

Eines Tages brachte sie uns ein Grammophon, das man mit einer Kurbel aufziehen musste. Dazu gehörten auch ein paar Platten mit lustigsten Liedern: Der Mond ist heute voll…, und Hoch drob'n auf' dem Berg… oder Gib mir einen Kuss durchs Telefon…, das waren einige Lieder, an die ich mich noch erinnern kann.

Tante Hilde brachte meiner Schwester Irmgard und mir das Schwimmen bei. Ich glaube, dass mein Bruder Willi damals schon schwimmen konnte. Jedenfalls erinnere ich mich, dass Irmgard später über den ganzen Malshöfer See hinüber und wieder zurück schwamm, und ich bewunderte sie dafür. Ich schwamm damals immer nur ein kleines Stück, weit hinaus traute ich mich nicht, aber heute schwimme ich gut. Irmgard war zu der Zeit überhaupt überall beliebt, natürlich auch bei Tante Hilde. Einmal erinnere ich mich noch genau, schenkte sie ihr sogar einen goldenen Rubinring. Irmgard durfte auch manchmal bei Tante Hilde in dem schönen Kindergartenhaus übernachten, und ich war ganz schön neidisch.

Irmgard und ich gingen auch zum Klavierunterricht, doch ich war immer ganz traurig, denn meine Schwester lernte die Noten und das Spielen viel schneller, ich leider nicht. Tante Hilde half auch manchmal bei den Schulaufgaben, solange die Schule noch im Gange war. Sie lobte mich immer, wenn ich mich bei der Schularbeit zu Hause anstrengte und so machte mir die Arbeit auch Spaß. Als dann aber die Flüchtlinge kamen und in der Schule untergebracht werden mussten, hatten wir keinen Unterricht mehr.

Irmgard, die oft bei Tante Hilde war, hatte wohl viele Vorteile von ihrer Fürsorge. Aber auch mir tat die strenge Liebe wohl, die ich durch Tante Hilde erfuhr. Wenn ich Zeit hatte, lief ich in Wald und Feld und suchte die schönsten Blumen, die ich Tante Hilde schenkte. Dafür bekam ich dann einen Bonbon, denn Süßigkeiten waren für uns Kinder ja Mangelware im Krieg. Heute stehen die meisten wilden Blumen auch in Masuren unter Naturschutz, aber damals konnte ich sie noch nach Herzenslust pflücken. Ich konnte Tante Hilde damit immer erfreuen und durfte dann mit auf ihr Zimmer gehen, wo sie die Blumen mit mir zusammen in eine Vase stellte. Tante Hildes Zimmer war überhaupt interessant für mich. Da waren die vielen Fotos aus Berlin im Spiegelrahmen, die sie mir erklärte.

Wenn Willi und ich auf dem Hof zu Hause spielten, passierte schon auch mal ein Unglück. Einmal steckte Willi seine Hand in den Häcksler. Die Maschine sollte Runkelblätter schneiden, um sie mit dem Schweinefutter zu vermischen. Willi steckte seine Hand in die Messertrommel, als sich das Werk noch nicht drehte, vielleicht wollte er etwas herausholen. An der Maschine war außen ein großes Rad, an dem man kurbeln musste, damit sie die Blätter häckselte. Irgendwie muss jemand daran gekommen sein. Auf dem Handrücken hatte Willi eine große Fleischwunde, die dann von Tante Hilde genäht werden musste. Ich weiß noch, dass man später, als alles wieder heil war, die großen Einstiche auf seiner Hand noch deutlich sehen konnte.

Bei Tante Hilde durfte man nicht zimperlich sein. Ich hatte einmal für meine Puppen ein Kleidungsstück stricken wollen. Die Maschen gerieten nach einiger Zeit so fest, dass sich mein Zeigefinger schließlich entzündete und voller Eiter war. Ich musste also zu Tante Hilde. Sie schnitt den Finger auf und drückte den Eiter aus. Stell Dich nicht so an, sagte sie, da es ja doch ganz schön wehtat. Zur Belohnung bekam ich ein paar Vitamintabletten, ich mochte sie sehr, denn sie schmeckten so schön nach Pfefferminz.

Einmal, lange bevor die Flüchtlingstrecks durch unser Dorf zogen, hörte ich, wie Tante Hilde zu unserer Mutter sagte, sie hätte abends und vor allem in der Nacht Angst in dem großen Haus, obwohl die andere Tante Hilde, die Kindergärtnerin, auch dort wohnte, denn es hieß, es würden sich Partisanen in den Wäldern herumtreiben. Damals, Monate bevor der Krieg auch zu uns kam, waren schon schreckliche Geschichten im Umlauf.


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