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Frühlingserwachen

Bei uns in Burdungen, in Masuren meldete sich das Frühlingserwachen schon im Februar. Mittags, wenn die Sonne schon etwas höher stand und der Himmel blau war, tropften die Eiszapfen, die vom Vorbau unseres Hauses herunterhingen, schon ganz verdächtig. Die Sperlinge sammelten sich genau dort zuhauf und machten ein lautes Spektakel, schimpften und zeterten um die Wette. Ich hatte meine Freude an diesem Spektakel, denn ich wusste, der Frühling meldete sich an. Da hieß es auch für mich nun aufgepasst. Durch unseren Garten floss ein Bach, der hinunter zum Malshöfer See floss. Am Bach im Garten, dort zur Straße hin, war ein erhöhter Abhang, bewachsen mit Sträuchern und Bäumen. Zwischen den Sträuchern wuchsen geschützt ein großes Büschel Leberblümchen und ein Büschel Schlüsselblumen, jetzt aber noch nicht grün.

Ich wusste, wo das Büschel Leberblümchen stand, und von nun an machte ich es mir zur Aufgabe, jeden Morgen vor der Schule die Stelle mit warmem Wasser zu begießen. Schon Ende Februar streckten sich kleine blaue Köpfe zum Licht. Wie war meine Freude groß über die ersten Leberblümchen! Es war ja eigentlich noch Winter und die Leberblümchen kamen mir wie ein Wunder vor, das ich bewirkt hatte und die durch mich aus ihren kleinen Wurzeln hervorsprossen.

Die Leberblümchen waren jedes Frühjahr die ersten Blumen, die mein Herz erfreuten, aber dann kamen auch bald die ersten dunkelvioletten Veilchen, die auf dem Streifen Gras am Zaun im Garten blühten. Auch der Huflattich blühte bald unterhalb des Grabens, die Weidekätzchen wurden weiß und dann gelb und vieles, vieles erblühte nach und nach in der warmen Sonne. Es gab nicht nur das Gezeter der Spatzen, die anderen Vögel sangen jetzt ihre Weisen und den Kuckuck hörte man vom Wald bis auf unseren Hof. Auch wir Kinder sangen dann um die Wette, wie es jedenfalls bei uns so üblich war. Ja, Frühling in Masuren - es gab nichts Schöneres für mich!

Später in den grausamen Kriegs- und Nachkriegsjahren dachte ich oft an die wunderbaren Leberblümchen, die schon im Frühjahr ihre Köpfchen reckten, dankbar für die Wärme, die ich ihnen gab.

Wo war der Mensch, der mir ebenfalls Wärme geben konnte, so dass ich mich gleich den Leberblümchen hätte verwurzeln können? Ich habe ihn nie gefunden. Doch ich bin im Alter ruhig geworden und hier und da gibt es etwas Hoffnung und Wärme. Ich weiß, dass ich nicht mehr von einem Land zum anderen zu hetzen brauche, denn was ich suche, kann ich auch hier finden.


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