Seefahrtszeiten …
Kapitel XIV
Besatzung auf deutschen Handelsschiffen um 1960
Der Bericht beruht auf Erinnerungen an meine Fahrenszeit auf der »MS AUGUSTENBURG« und kann im Detail kleine Abweichungen in Sachangaben enthalten.
Jede Person, die der Schiffsbesatzung angehört, muss ein Seefahrtbuch besitzen, in das jede An- und Abmusterung eingetragen wird. Es ist dabei auch ein Beleg für geleistete Sozialversicherungszeiten zusammen mit der vom Seemannsamt beglaubigten Sozialversicherungsnummer. Des Weiteren werden Visa und Vermerke eingetragen. Vor Beantragung eines Seefahrtbuches musste man jedoch ein ärztliches Seetauglichkeitszeugnis vorlegen. Davor musste man eine schriftliche Zusage einer Reederei haben, das man bei Seetauglichkeit eingestellt wird.
In der Praxis sah das dannso aus:
Schriftliche Bewerbung bei einer Reederei → Einladung zur persönlichen Vorstellung → Untersuchung bei der Seeärztlichen Dienststeelle der Seeberufsgenossenschaft (See-BG, ab 01.01.2010 BG VERKEHR) oder bei einem von ihr ermächtigten Ärzte besonders auf chronische Krankheiten, Allergien, Hör-und Sehschwäche, insbesonderes auf Farbschwäche. Mit derGesundheitskarte, die alle zwei Jahre erneuert werden musste, und zwei Passbildern zum Seemannsamt, um ein Seefahrtsbuch zu beantragen. Nach ein bis zwei Wochen erhielt man dann einen Termin zum Abholen des Dokuments.
Nachdem man diese Hürde überstanden, hatte ging es an Bord.
Es war also nichts mit der in vielen Romanen beschriebenen Sache mit dem weggelaufenen Jungen aus dem bayrischen Wald, der sich an Bord schlich und als ruhmreicher Kapitän wieder nach Hause zurückkehrte.
Ich beschreibe jetzt unterschiedliche Laufbahnen von Nautischen und Technischen Seeleuten.
Zum Nautischen Bereich gehört alles an Deck und Brücke.
Angefangen hat man hier als Schiffsjunge, auch Moses genant. Zuständig für die Mannschafts-Messe, das heißt aufbacken (Tische eindecken), Essen aus der Kombüse (Küche) holen, abwaschen, Kaffee kochen, Messe reinigen und die Kammern der Unteroffiziere (Bootsmann, Zimmermann, Storekeeper) sowie die Unteroffiziers-Messe in Ordnung zu halten.
Nach einem Jahr wurde er Jungmann und kam für alle Arbeiten an Deck zum Einsatz einschließlich Wache gehen, zweimal am Tag je vier Stunden, auf der Brücke als Rudergänger (steuert das Schiff nach Ansagen des Steuermann) oder Ausguck im stündlichen Wechsel, da das Steuern nach Kompass eine hohe Konzentration erfordert. Nach einem Jahr wurde er dann Leichtmatrose. Wenn er dann ein Jahr als Leichtmatrose gefahren war, konnte er sich zur Matrosenprüfung anmelden. Diese drei Jahre waren gleichzusetzen mit der Lehrzeit eines Facharbeiters an Land. Die Lehrzeit wurde natürlich nicht auf demselben Schiff absolviert, da ja auch Urlaub dazwischenlag. (14 Tage, wie an Land, plus einen zusätzlichen Tag für jeden auf See verbrachten Sonntag).
Die Matrosenprüfung wurde an einer Seemanns-Schule abgelegt und der Matrosenbrief entspricht dem Facharbeiterbrief eines Handwerkers. Nun konnte sich der Matrose entscheiden, entweder als Matrose (Facharbeiter) weiter zu fahren mit der Aussicht, eines Tages von der Schiffsleitung / Reederei zum Bootsmann (Meister), auch Scheich genannt, befördert zu werden oder nach einem Jahr Fahrzeit als Matrose zur Steuermanns-Schule zu gehen.
Auf der Steuermanns-Schule konnte man Patente (Befähigungszeugnisse) erwerben.
Die Patente wurden mit A1 bis A6 bezeichnet. A1 und A3 wurden in Lehrgängen absolviert. Hier wurde überwiegend terrestrische Navigation (Europäische Küstenfahrt) gelehrt und war für Steuerleute auf Fischereifahrzeugen oder Küstenschifffahrt gedacht.
Um das Patent A4 zu erwerben, war ein halbjähriges Studium erforderlich, es wurden Nautik, Schiffsbetrieb und Stabilitätsberechnungen gelehrt. Überwiegend waren hier spätere Kapitäne von Fischereifahrzeugen in der Ausbildung.
Die klassische Ausbildung zum Steuermann auf großer Fahrt begann jedoch mit der Einschreibung zum A5 an einer Seefahrtschule und dauerte drei Semester. Hier wurde alles übe Schiffsbetriebstechniken, Ladung, Chemie, Sanitäterausbildung mit Praktikum im Krankenhaus, Jura, Versicherungsrecht, Meteorologie und astronomische Navigation gelehrt.
Nach erfolgreicher Prüfung musste man das Patent ein Jahr ausfahren. Das heißt, ein Jahr in verantwortlicher Position als Steuermann ohne Beanstandungen tätig sein und keinen Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis haben. Erst dann bekam man dasPatent ausgehändigt.
Es gab den dritten, zweiten und ersten Steuermann (Offizier).
Erster Offizier, auch Firstmate genannt, war auch Vertreter des Kapitän. Zu seinen Aufgaben gehörte neben seiner Wache von 04:00 Uhr bis 08:00 Uhr die Überwachung des zweiten und dritten Steuermanns, die Instandhaltung des Schiffes in Absprache mit dem Bootsmann und Personalangelegenheiten. Der zweite Steuermann war neben seiner Wache von null bis vier Uhr (Hundewache) und von zwölf bis sechzehn Uhr für die Ladung zuständig. Eine höchstkomplizierte Angelegenheit.
Für jede Luke (Laderaum) musste eine Zeichnung der einzelnen geladenen Teile (Collis / Partin) mit Höhe, Breite, Länge, Gewicht und Inhalt angefertigt werden. Außerdem war zu beachten, dass zum Beispiel keine feuergefährlichen Waren neben leicht entzündlichen Sachen gestaut (gelagert) wurden. Besonders beachtet werden musste die Reiseroute, damit die Ladung in der Reihenfolge der anzulaufenden Häfen gelöscht (entladen) werden konnte. Und das alles ohne Computer auf Millimeterpapier.
Der dritte Steuermann hatte die Wache von 08:00 bis 12:00 Uhr.
Seine Aufgaben bestanden außerdem im sanitären Bereich von der Überprüfung von Haltbarkeitsdaten der Medikamentein der Bordapotheke bis zu Operationen bei lebensbedrohlichen Unfällen. Es gibt Berichte über Amputationen von Armen oder Beinen bis zu Blinddarmoperationen, die auf Schiffen durchgeführt wurden. Auch die Sicherheitsausrüstung gehörte zu seinen Aufgaben. Vom Ablaufdatum der Feuerlöscher oder Schwimmwesten bis zur Einsatzbereitschaft der Rettungsboote war er verantwortlich. Das zeitraubenste seiner Arbeitszeit war jedoch die Berichtigung der Seekarten. Hierzu gab es wöchentlich die Nachrichten für Seefahrer (NfS), herausgegeben vom Deutschen Hydrographischen Institut (DHI). Diese Nachrichten enthalten alle weltweiten Änderungen von Seezeichen, zum Beispiel den Ausfall eines Leuchtturms. Sie waren unterteilt in Kartenberichtigungen, Handbuchberichtigungen und Katalogberichtigungen. Der gesamte weltweite Kartensatz und die dazugehörigen Handbücher an Bord mussten also laufend von Hand überarbeitet werden. Manchmal machte es sich der dritte Steuermann auch einfach, wenn man Linie (immer die gleichen Häfen) fuhr, berichtigte er nur die entsprechenden Karten. Zum Beispiel Rotterdam — New Port News, wenn es dann aber plötzlich nach Südamerika gehen sollte, hatte er Probleme. Oder sein Nachfolger! Der schimpfte dann aber so laut, dass es die ganze deutsche Flotte hörte.
Wollte einer nun immer noch Kapitän werden, musste er nach mindestens zwei Jahren als Steuermann wieder für zwei Semester die Schulbank drücken, um sein A6-Patent zu erhalten. Hier wurde dann Schiffbau, Internationales Recht, Versicherungsrecht und Internationales Tarifrecht gelehrt. Damit war er aber noch lange kein Kapitän, er hatte nur die Fähigkeit zum Kapitän auf großer Fahrt nachgewiesen. Kapitän wurde er erst, wenn die Reederei ihm ein millionenteures Schiff und dessen manchmal genauso teure Ladungan vertraute.
Das technische Personal bestand aus Reinigern, Schmierer, Storekeeper, Ingenieur- Assistenten, Elektrikern, drittem, zweitem und erstem Ingenieur (Chief). Verantwortlich für alle technischen Anlagen an Bord. Vom Kühlschrank bis zur Hauptmaschine.
Als Reiniger konnte man ohne weitere Kenntnisse anmustern, bevorzugt wurden aber Bewerber mit einer Ausbildung in einem Metallberuf. Je nach Einsatz und Fähigkeit wurden sie zum Schmierer befördert. Entweder wurden sie im Wachdienst eingesetzt oder im Tagesdienst beim Storekeeper.
Der Storekeeper war im Rang eines Unteroffiziers (Meister) und in Absprache mit dem zweiten Ingenieur für Reinigungsarbeiten und Hilfe bei Reparaturen zuständig. Außerdem hatte er die Verantwortung für die Bordwerkstatt mit Drehbank, Schweißgeräten und allen Werkzeugen.
Die Mannschaft im Tagesdienst hatte eine Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche, alles was darüber an Stunden anfiel, wurde ihnen als Überstunden bezahlt.
Der Wachdienst bekam eine Überstundenpauschale bezahlt. In meinem Fall 60 Mark im Monat und war darum zu jeder Tag- und Nachtzeit einsetzbar. Als Ingenieur-Assistent musste man eine dreieinhalb jährige Lehre als Schiffsmaschinenbauer auf einer Werft absolviert haben. Mit dieser Voraussetzung wurde man als technischer Offiziersanwärter angemustert.
Jetzt war ich meinem Vater dankbar, hatte er doch darauf bestanden, dass ich erst eine Lehre mache, dann könne ich ja immer noch an Deck fahren und Kapitän werden. Aber daran war natürlich nicht mehr zu denken, hatte ich doch jetzt schon recht angenehme Privilegien, ein annehmbares Gehalt, eine Einzelkammer, die vom Steward aufgeklart (aufgeräumt) wurde und Essen in der Offiziers-Messe mit Bedienung durch einen Steward.
Nach mindestens zwei Jahren Fahrzeit (mit Urlaub wurden es aber meistens drei Jahre) konnte man sich zur Schiffsingenieurschule am Berliner Tor in Hamburg nach einer Aufnahmeprüfung anmelden. Hier wurden die Patente mit C2 bis C6 bezeichnet. C2 wurde als Lehrgang angeboten und war für Binnenschiffer, Fischer, sowie Maschinisten in der Küstenfahrt gedacht.
Für das C3 musste man ein Semester auf die Schule, es wurde Schiffsbetriebstechnik unterrichtet und war für erste Maschinisten in der Fischerei oder Küstenschifffahrt konzipiert.
Die klassische Ausbildung war jedoch auch hier das Studium zum C5 mit drei Semestern.
Es wurde neben Schiffsbetriebstechnik, Maschinenbau, Mathematik, Wärmewirtschaft und Elektrotechnik auch Gesetzeskunde unterrichtet. Auch hier musste das Patent ausgefahren werden. Also ein Jahr in verantwortlicher Stellung tätig sein und keinen Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis haben, erst dann wurde das Patent ausgehändigt.
Mit dem C5 konnte man nun als dritter oder zweiter Ingenieur auf große Fahrt gehen. Große Fahrt bedeutet auf Schiffen jeder Maschinenstärke, weltweit eingesetzt werden zu können. Darum waren Schiffsingenieure auch in der Industrie so begehrt, weil sie immer den Bezug zur Praxis hatten.
Wollte man nun erster Ingenieur (Chief) werden, musste man wieder zwei Semester studieren, um das C6 zu erhalten. Damit war man aber, wie bei dem Kapitän, noch lange kein Chief. Der wurde ebenfalls von der Reederei ernannt.
Zur Besatzung gehörten außerdem noch der ganz wichtige Koch und sein Gehilfe, meistens ein Bäcker oder Schlachter, wurden doch täglich Brot und Brötchen gebacken. Das Fleisch wurde in Form von halben Rindern oder Schweinehälften an Bord gebracht. Für die Besatzung war er der wichtigste Mann an Bord.
Es gab dann noch den ersten Steward, zuständig für den Salon, wo der Kapitän, erster Offizier und erster Ingenieur speisten und den zweiten Steward, der für die Offiziersmesse zuständig war.
Der Funker hatte sein eigenes Reich. Direkt hinter der Brücke lag die so genante Funkbude, es war Arbeitsplatz und Unterkunft für ihn zugleich, da er eingehende Nachrichten, Seenot-Meldungen oder Wetterwarnungen zu jeder Tag- und Nachtzeit abhören musste. Außerdem führte er die Bordkasse und die Bordkonten der Besatzung.
Ja, und nun der Kapitän, es gab Schiffe, auf denen ich ihn niemals gesehen habe!
Und doch hatte ich immer das Gefühl, dass er genau wusste, was an Bord passiert. Auch die Stimmung an Bord wurde neben dem Koch von ihm wesentlich beeinflusst. Die Gerichtsbarkeit an Bord lag in seinem Ermessen. Hatte zum Beispiel jemand auf Nachtwache als Ausguck geraucht oder erschien einer zu spät vom Landgang zurück, konnte er Geldstrafen verhängen. Diese wurden dann nach seinem Belieben an Hilfsorganisationen überwiesen. Meistens zu Gunsten der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.
Hat man hiergegen Einspruch erhoben, ging die Sache an Land vor Gericht. Wurde hier ein Verschulden festgestellt, gab es einen Vermerk im Seefahrtsbuch und man hatte kaum noch Gelegenheit, bei irgendeiner deutschen Reederei angestellt zu werden.
Insgesamt waren wir auf der AUGUSTENBURG
32 Besatzungs-Mitglieder. Heute wird auf den zehnmal so großen Schiffen mit 18 Besatzungs-Mitgliedern gefahren.
Leider ging es in der Seefahrt auch anders, wie ich es selber erlebt habe.
Auf dem Schiff eines griechischen Reeders, das unter Liberia-Flagge registriert war, hatte ich einen zweiten Ingenieur, der Schlachter gelernt hatte. Er hatte als Reiniger dort angefangen und seinen Neun-Monats-Vertrag erfüllt. Nach jedem neuen Neunmonatsvertrag wurde er befördert. Nach fünf Jahren bei der Reederei legte er einen 100-Dollar-Schein (1$ = 4,29 Mark) in sein Seefahrtsbuch und ging zur liberianischen Botschaft. Hier wurde ihm aufgrund jahrelanger Erfahrung ein Patent als Schiffsingenieur auf großer Fahrt ausgestellt.