Teil 3 - Cöslin, 1864 bis 1870
Kapitel 17:
Deutsch-Französischer Krieg
Dann kam das Jahr 1870, das Jahr, das uns beide Älteste aus dem Vaterhaus führen sollte. Mit dem ersten Februar, dem Tage, als wir unsern alten Direktor Röder zu Grabe brachten, setzte grimmige Kälte ein, die den ganzen Monat und noch einen Teil des März anhielt. Die Abiturienten besonders freuten sich, dass sie in den Tagen des Schriftlichen, nachdem sie vormittags in der Klausur gesessen, nachmittags auf dem Eise sich erholen konnten. Wir andern Primaner, für die die Klausurtage ja Freitage waren, freuten uns auch, dass wir so viel Zeit zum Eissport hatten. In den Tagen vor dem Mündlichen versammelten sich die Abiturienten, fünf an der Zahl, bei uns abends in halb wehmütiger, halb galgenhumoristischer Stimmung. Immer wieder sangen sie: Drei Lilien, drei Lalien, die pflanzt ich auf mein Grab.
Besonders Alexander war meist in elegischer Stimmung. Auch unserer Mutter klopfte das Herz, und sie sagte sich: Wie soll das werden, wenn das nun fünfmal nacheinander kommt.
Es ging aber glatt bei allen fünf Abiturienten. Bei dem Entlassungsaktus hielt Alexander dann die Rede, bei der er besonders dem Direktor Röder einen warmen Nachruf widmete. Statt des üblichen
AbiturientenkommersesEin Kommers ist aus besonderem Anlass abgehaltener abendlicher Umtrunk in feierlichem Rahmen. [50]
luden unsere Eltern die Abiturienten zu einer kleinen Feier, an der außer ihnen und mir nur noch Ernst Sachse teilnahm.
Dann zog Alexander den bunten Rock an und lernte Freuden und Leiden des Soldatenlebens kennen, und die Abiturientenschmerzen traten an mich heran. Ich trug sie aber stoisch, oft zum nicht geringen Ärger Vaters, der gar nicht begreifen konnte, dass ich so gleichmütig war. In den Sommerferien spitzte sich die Lage durch die spanische Thronkandidatur des HohenzollernprinzenLeopold Stefan Karl Anton Gustav Eduard Tassilo von Hohenzollern (1835-1905) war von 1885 bis zu seinem Tode Fürst von Hohenzollern. Er gilt als Schachfigur der großen Politik
. Im Jahr 1870 drängte Bismarck ihn, sich als Anwärter für die damalige spanische Thronfolge zur Verfügung zu stellen. Schon bald trat Leopold von seiner Kandidatur wieder zurück, da Frankreich mit Krieg drohte. Dennoch wurde daraus der Anlass für den Deutsch-Französischen Krieg.Siehe Wikipedia.org [51]
zu, und ehe sie zu Ende waren, war der KriegDer Deutsch-Französische Krieg von 1870 bis 1871 war eine militärische Auseinandersetzung zwischen Frankreich einerseits und dem Norddeutschen Bund unter der Führung Preußens sowie den mit ihm verbündeten süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt andererseits. Auslöser war der Streit zwischen Frankreich und Preußen um die Frage der spanischen Thronkandidatur eines Hohenzollernprinzen. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck ließ die Emser Depesche, mit der er darüber informiert worden war, dass König Wilhelm I. die französischen Forderungen abgelehnt hatte, in provokant verkürzter Form veröffentlichen. Dies erregte auf beiden Seiten nationalistische Empörung und veranlasste den französischen Kaiser Napoléon III. am 19. Juli 1870 zur Kriegserklärung an Preußen.Siehe Wikipedia.org [52] ausgebrochen. Am 27. Juli ging Alexander mit dem Ruf: Mit Gott für König und Vaterland
Mit Gott für König und Vaterland
ist ein preußischer Wahlspruch.Siehe Wikipedia.org [53] aus dem Hause. Vater konnte die Tränen nicht verbergen, als er seinen Ältesten in den Krieg ziehen sah. Darauf hielt er uns aus tiefbewegten Herzens die Kriegs- und Bußtagspredigt über den Beschluss des Vaterunsers.
Meine Gedanken waren wie begreiflich nun mehr bei den sich drängenden Ereignissen als bei meinem Examen. In der Frühe des 5. August wurde ich vom Dienstmädchen geweckt mit den Worten: Stehen Sie bloß auf, Junger Herr, die Franzosen kommen. Es ist schon alles in der Stadt geflaggt.
Das Flaggen galt dem Siege von WeißenburgDie Schlacht bei Weißenburg fand am 4. August 1870 bei Weißenburg im Elsass statt. Bei dieser Schlacht trat im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 erstmals ein gesamtdeutsches Heer auf. Hier kämpfte die 3. Armee unter der Führung von Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen gegen die sogenannte Elsassarmee
unter Marschall Mac Mahon.Siehe Wikipedia.org [54],
der noch spät am Abend gemeldet worden war. Das Gerücht vom Nahen der Franzosen aber führte sich auf eine Kuh zurück, die nächtlicherweile in einem Stranddorf losgeworden war, und ein paar Flintenschüsse, die ein Entenjäger auf dem Jamunder See abgegeben hatte. Am Abend des nächsten Tages, es war ein Sonnabend, wurden wir aus der Abendandacht gerufen durch die Nachricht von dem großen Siege bei WörthDie Schlacht bei Wörth fand am 6. August 1870 im Deutsch-Französischen Krieg in der Nähe des Ortes Wörth im Unterelsass statt.Siehe Wikipedia.org [55]. Ein Bekannter hatte das erleuchtete Fenster gesehen und rief es uns herauf.

Von Alexander hörten wir in den ersten Tagen nur, dass er in Berlin tüchtig exerzieren müsse. Einen Brief erhielten wir, am Schreibtisch der Frau Bellermann geschrieben, der Frau eines Lehrers an einem Berliner Gymnasium, wo er einquartiert worden war. Dann kamen Briefe vom Rhein und aus der Gegend von Saarbrücken, wo er das Schlachtfeld passiert hatte. Inzwischen mussten zwei unserer Mitabiturienten, die das 20. Jahr überschritten hatten, das beschleunigte Examen machen. Einer fiel durch. Der Direktor verfehlte nicht, bei Extemporalien, die er uns schreiben ließ, uns bei jedem Fehler ihn zum abschreckenden Beispiel vorzustellen. Sonnabend den 13. [August 1870] schloss er, nachdem er uns wieder tüchtig mit Extemporalien geelendet: So, Montag kommen Sie zum lateinischen Aufsatz.
Die andern sagten uns, als er hinaus war: Der war ja ganz gemein.
Wir freuten uns, dass wir so weit waren. Nun folgten in der kommenden Woche die Klausuren, immer abwechselnd einen Tag eine fünfstündige, den andern eine dreistündige. Donnerstag den 18. [August 1870] hatten wir nach der dreistündigen griechischen Klausur am Vormittage nachmittags noch die hebräische. Ich setzte mich nach derselben zu Hause zu einem Brief an Alexander, um ihm den Stand unserer Sache mitzuteilen. Ich fing an: Media in morte.
Mitten im Tod
[56] Ich ahnte nicht, dass es bei ihm um dieselbe Stunde wörtlich so hieß. Am Abend darauf kam das Telegramm von der großen Schlacht bei GravelotteDie Schlacht bei Gravelotte war eine Schlacht im Deutsch-Französischen Krieg, die bei Gravelotte stattfand. Sie wird auch Dritte Schlacht von Metz genannt.Siehe Wikipedia.org [57] Sonntag früh sagte Seminardirektor Lehmann zu Mutter nach der Kirche: Der Krieg wird nun wohl vorbei sein. Die armen Jungen tun mir leid, sie kommen wieder zu spät.
Anno 1866 war den 54ern54. Regiment [58] die in Cößlin standen, nicht viel zu tun gegeben worden. Am Abend desselben Tages kam ein neues Telegramm, nachdem das 2. Armeekorps zu den vorzugsweise engagierten gehört hatte. Montag kam Vater ganz aufgeregt von der Regierung zurück. Nachrichten von schweren Verlusten der 54er und 55er waren eingelaufen. Der Regimentskommandeur und Alexanders Bataillonskommandeur waren gefallen. Mittwoch brachte die Zeitung, die, während wir bei Tisch saßen, gebracht wurde, einen ausführlichen Bericht über die Schlacht bei Gravelotte, in dem besonders ehrenvoll des 2. Armeekorps gedacht wurde, das ja die Entscheidung gerade bei Gravelotte herbeigeführt hatte. Mit den Worten: Wenn nur jetzt kein Telegramm kommt
, stand Vater vom Tische auf. Kaum war eine Minute vergangen, - ich hatte mich inzwischen in mein Zimmer begeben, um aufs Examen zu ochsen, als ich meinen Namen von Mutter rufen hörte, mit weinender Stimme. Ich eilte zurück. Ein Telegramm war angekommen. Vater, in den Stuhl zurückgesunken, hielt es in zitternden Händen. Auf dem Telegramm stand: Ihr Sohn am 18. ganz gesund aus der Schlacht gekommen. Ebenso Leutnant Lehmann.
Vaters Kollege, Schulrat Stiehl in Stettin, hatte es von durchkommenden Verwundeten des 54. Regiments erfahren und es an Vater telegraphiert. Wie dankten wir Gott! Ich lief natürlich spornstreichs zu Seminardirektor Lehmanns, um auch diesen die Freudenbotschaft mitzuteilen. Dann kamen allerdings wieder bange Tage. Tag für Tag warteten wir auf einen Brief von Alexander, es kam keiner. Am 30. August war Vaters Geburtstag. Als liebstes Geburtstagegeschenk hatte er sich einen Brief von Alexander gewünscht. Mutter wartete mit einem Stück Geburtstagstorte auf den Briefboten. Aber er ging an uns vorüber. Erst am Tage darauf kam ein Brief, einige Tage nach der Schlacht geschrieben, und erst wieder einen Tag später der unterm frischen Eindruck der Ereignisse geschriebene Brief vom 19. mit ausführlicherer Schilderung. Der Major war hart an seiner Seite zusammengesunken. Alexander hatte ihm noch Degen und Schärpe abnehmen müssen.
Die Ereignisse drängten sich. Sonnabend den 3. September hörten wir nach der ersten Unterrichtsstunde lauten Jubel von der Straße und sahen, dass Flaggen gehisst wurden. Die Worte Kapitulation
und Gefangennahme Napoleons
hörten wir. Gleich darauf kam der Direktor herein: Sie haben wohl die neuste Nachricht gehört. Sie werden jetzt nicht in der Stimmung sein, weiter am Unterricht teilzunehmen. Gehen Sie nur nach Hause.
Das ließen wir uns natürlich nicht zweimal sagen.
[51] Leopold Stefan Karl Anton Gustav Eduard Tassilo von Hohenzollern (1835-1905) war von 1885 bis zu seinem Tode Fürst von Hohenzollern. Er gilt als
Schachfigur der großen Politik. Im Jahr 1870 drängte Bismarck ihn, sich als Anwärter für die damalige spanische Thronfolge zur Verfügung zu stellen. Schon bald trat Leopold von seiner Kandidatur wieder zurück, da Frankreich mit Krieg drohte. Dennoch wurde daraus der Anlass für den Deutsch-Französischen Krieg.
[52] Der Deutsch-Französische Krieg von 1870 bis 1871 war eine militärische Auseinandersetzung zwischen Frankreich einerseits und dem Norddeutschen Bund unter der Führung Preußens sowie den mit ihm verbündeten süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt andererseits. Auslöser war der Streit zwischen Frankreich und Preußen um die Frage der spanischen Thronkandidatur eines Hohenzollernprinzen. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck ließ die Emser Depesche, mit der er darüber informiert worden war, dass König Wilhelm I. die französischen Forderungen abgelehnt hatte, in provokant verkürzter Form veröffentlichen. Dies erregte auf beiden Seiten nationalistische Empörung und veranlasste den französischen Kaiser Napoléon III. am 19. Juli 1870 zur Kriegserklärung an Preußen.
[53] Mit Gott für König und Vaterland ist ein preußischer Wahlspruch.
[54] Die Schlacht bei Weißenburg fand am 4. August 1870 bei Weißenburg im Elsass statt. Bei dieser Schlacht trat im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 erstmals ein gesamtdeutsches Heer auf. Hier kämpfte die 3. Armee unter der Führung von Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen gegen die sogenannte
Elsassarmeeunter Marschall Mac Mahon.
[55] Die Schlacht bei Wörth fand am 6. August 1870 im Deutsch-Französischen Krieg in der Nähe des Ortes Wörth im Unterelsass statt.
[56]
Mitten im Tod
[57] Die Schlacht bei Gravelotte war eine Schlacht im Deutsch-Französischen Krieg, die bei Gravelotte stattfand. Sie wird auch Dritte Schlacht von Metz genannt.
[58] 54. Regiment