Teil 3 - Cöslin, 1864 bis 1870
Kapitel 1:
Ankunft in Cöslin
Unser Hauswirt Weber Rieck holte uns mit den beiden einzigen Droschken, die CöslinHeute: Koszalin. Sie liegt an der Ostsee und ist mit rund 108.000 Einwohnern eine Großstadt in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Bis in die 1920er Jahre galt die Schreibweise Cöslin, danach schrieb man KöslinSiehe Wikipedia.org [1] damals besaß, vom Bahnhof ab. Die Fahrt ging durch die ganze Stadt, da unsere Wohnung am entgegengesetzten Ende, Grünstraße 136, lag. Natürlich sahen wir in der abendlichen Dunkelheit von der ganzen Stadt nichts, hörten aber, als wir in der Wohnung bei einem frugalenschlicht, spärlich, karg (wird meist in Hinblick auf Speisen verwendet) Abendimbiss saßen, deutlich, wie es von dem Turm der Hauptkirche St. Marien halb zwölf schlug.
Dann ging's in die Federn. Der Wirt hatte für die Eltern je ein und ebenso für je zwei Kinder ein Bett mit rot gewürfelten überzügen aufgeschlagen, war aber der Meinung, dass wir nur unser sechs wären. Alexander musste daher unten bei ihm auf dem Sofa schlafen. Die Zwillinge schliefen mit den Eltern in einer Stube, wir vier mittleren Kinder in einer andern, ich mit Georg, Elly mit Gretchen in einem Bett. Morgens amüsierten wir uns in unsern Betten mit allerhand Spielen. Sonst stehen mir aber diese ersten Tage in Cöslin in ziemlich trüber Erinnerung. Unsere Betten standen nebst einigen anderen notdürftigen Möbeln, die der Wirt hergeliehen hatte, in den kahlen vier Wänden der Zimmer. Dort war unser Aufenthalt, während die Eltern in die Stadt gingen, um in allerhand Möbelgeschäften Einkäufe zu machen. Die Kiste mit unsern Büchern war noch nicht angekommen, so dass wir nicht wussten, womit wir uns beschäftigen sollten. Das Wetter war auch wenig verlockend. Ohnehin getrauten wir uns an dem fremden Ort nicht hinaus. So krochen die Stunden uns langsam dahin, und das Heimweh nach Bärsdorf regte sich. Erst nachmittags zog ich mit Alexander auf Entdeckungsreisen in die Stadt aus und gewann einen ersten Eindruck von derselben.
Die Grünstraße, zur Hohentor-Vorstadt gehörig, zog sich durch verschiedene Windungen ziemlich lang hin, war aber nur wenig bebaut. Unser Haus lag fast am äußeren Ende. Kaum hundert Schritt hinter ihm begann das freie Feld. Charakteristisch für die Grünstraße waren verschiedene Gartenstraßen, die seitwärts von ihr abführten und auf denen ziemlich minderwertige Bevölkerung wohnte, von deren Straßenjugend wir in der ersten Zeit, wo man uns die Unschuld vom Lande anmerkte, mancherlei zu leiden hatten.
Von der Grünstraße führte der Weg durch das hohe Tor in die innere Stadt, als deren erste Straße sich die Hohentorstraße präsentierte, die wieder auf den Markt führte, von der wir gleich den Blick auf die von der gegenüberliegenden Seite des Marktes abfahrende Mühlentorstraße hatten, der durch das Mühlentor abgeschlossen war. Von der Hohentorstraße rechts seitwärts ab ging die Regierungsstraße, auf der uns gleich das Regierungsgebäude auffiel, auf der aber außerdem auch das Gymnasium, unsere zukünftige Bildungsstätte, stand. Parallel mit der Regierungsstraße ging dann, von der südlichen Ecke des Marktes ab, die Bergstraße mit dem Blick auf den GollenHeute: Góra Chelmska, der Gollenberg, eine Erhebung östlich von Köslin in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Auf der höchsten Kuppe, dem Kreuzberg, erreicht er eine Höhe von 137 mSiehe Wikipedia.org [2]. Von der gegenüberliegenden Ecke des Marktes ging die Neutorstraße ab, die zum Bahnhof führte. Der Markt war ein großes Quadrat, auf dessen Mitte ein Standbild Friedrich Wilhelms I. stand, der, wie eine lateinische Inschrift verkündigte und ein an dem Postament angebrachtes Basrelief versinnbildlichte, die im Jahre 1730 abgebrannte Stadt neu erbaut hatte. Der Uniformgeist des Soldatenkönigs prägte sich an der Bauart der Häuser des Marktes noch deutlich ab, deren Dächer auf jeder der vier Seiten desselben eine gerade Linie bildeten, die erst einige neuere Bauten schüchtern zu durchbrechen gewagt hatten.
Übrigens zeigte das Standbild wenig Bemerkenswertes. Sein Material war Sandstein. Der preußische Soldatenkönig war in der Tracht eines römischen Imperators dargestellt. Im Volkmund hieß das Standbild nur der Kurfürst. Es wurde erzählt, dass der Kronprinz, der nachmalige Kaiser Friedrich III., der als kommandierender General des pommerschen Armeekorps zu unserer Zeit wiederholt nach Cöslin kam, einmal in seinem Quartier, das den Blick auf das Standbild zeigte, die um ihn versammelten Offiziere gefragt hätte, wen es darstelle, und sich dann, als kein einziger eine andere Antwort zu geben gewusst als der große Kurfürst
, sich über ihre Unwissenheit höchlichst amüsiert hätte.
Am westlichen Ende der Südseite des Marktes stand das Rathaus mit der Hauptwache. über dasselbe herüber grüßte die Martinskirche, eine gotische Basilika mit einem kurzen viereckigen Turm, typisch für die Stadtkirchen Hinterpommerns, der ein schönes Geläut beherbergte. Die zweite evangelische Kirche der Stadt, die Schlosskirche, ein schlichter Saalbau mit kleinem Dachreiter, stand an einer Seitenstraße der nordöstlichen Stadt. Eine kleine katholische Kirche wurde erst während der Jahre, wo wir in Cöslin waren, erbaut. Die wenigen Katholiken hielten ihre Gottesdienste damals in einem Privathause. Im Ganzen zeigte Cöslin wenig Bemerkenswertes. Die Häuser waren größtenteils massive viereckige Kästen im Kasernenstil. Das Straßenpflaster war recht holperig. Trottoir gab's noch nicht. Doch wurde schon im ersten Herbst ein solches auf den vier Hauptstraßen angelegt. Einige Jahr später folgte hierin erst der Markt. Der schönste Teil der Stadt war die Friedrich-Wilhelm-Vorstadt an der Ostseite, von der übrigen Stadt durch den Wall, der im Halbkreis die Innenstadt umzog und zu einer Promenade umgewandelt worden war, getrennt. Der Mittelpunkt derselben war der Friedrich-Wilhelms-Platz, südlich von der Fortsetzung der Regierungsstraße, nördlich von der Fortsetzung der Bergstraße begrenzt, der im Gegensatz zu dem kahlen Markt mit Bäumen bestanden war, was ihm ein viel freundlicheres Aussehen verschaffte. In der Nähe dieses Platzes stand das Schullehrerseminar. Die Promenade wurde östlich vom Mühlbach bespült, der in den Jamund-See sich ergoss. Von der Friedrich-Wilhelms-Vorstadt führten zwei Chausseen, die eine nach dem Hauptgipfel des Gollens und über denselben nach der benachbarten Stadt Zanow, die andere nach dem Dorfe Rogzow und über dasselbe nach dem südlichen Ausläufer des Gollens.
[2] Heute: Góra Chelmska, der Gollenberg, eine Erhebung östlich von Köslin in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Auf der höchsten Kuppe, dem Kreuzberg, erreicht er eine Höhe von 137 m