Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 1:
Entscheidung für Leipzig
Die Frage, welche Hochschule ich beziehen sollte, wurde, wie begreiflich, schon längere Zeit vor meinem Abgang von der Schule erwogen. Die pommersche Universität Greifswald blieb schon deshalb außer Betracht, weil wir damals in Pommern noch nicht völlig eingewöhnt waren, die Eltern vielmehr eine frühere oder spätere Rückkehr in die schlesische Heimat im Auge behielten, sei es, dass Vater sich etwa an die Regierung von Breslau oder Liegnitz versetzen ließe, wenn dort eine Stelle frei würde, sei es, dass er ins Pfarramt zurückginge, wie Vater das an Konsistorialrat Falk in Waldau bei Liegnitz, dem Vater des nachmaligen Kultusministers, vor Augen hatte. Übrigens wurde Greifswald damals auch von hinterpommerschen Theologen wenig besucht. Die meisten gingen nach Berlin, was von Hinterpommern leichter zu erreichen, soweit nicht Halle seine alte Anziehungskraft bewies, was aber auch in abnehmendem Maße der Fall war, da die beiden Größen, die Halle jahrzehntelang zur ersten Theologieuniversität gemacht hatten, TholuckAugust Tholuck (1799-1877) war ein protestantischer Theologe. Er lehrte an der Universität Halle. Er zeigte sich empfänglich für die herrnhuterisch geprägte Erweckungsbewegung.Siehe Wikipedia.org [1] und MüllerJulius Müller (1801-1878) war ein protestantischer Theologe. In Halle wurde er zu einem auch kirchenpolitisch einflussreichen Verteidiger der preußischen Union. Deutlich ist der Einfluss der Erweckungsbewegung, vor allem dank der engen Beziehung zu seinem Fakultätskollegen August Tholuck.Siehe Wikipedia.org [2], sinkende Sterne waren. Einstweilen war Breslau die Universität, die mir vor Augen stand. Dort hoffte Vater auch, Stipendien für mich zu erlangen, Doch wurde je länger je mehr der Besuch noch einer anderen Universität ins Auge gefasst, und das umso mehr, als damals gerade Breslau Theologen wenig bot, meinem Vater aber gerade, weil er nicht mehr im geistlichen Amte stand, viel daran lag, mich eine Hochschule besuchen zu lassen, auf der ich Lust und Liebe zur Theologie bekäme. Nun machte damals Leipzig in steigendem Maße seine Zugkraft geltend. Das wurde daher je länger je mehr in Betracht gezogen. Die Frage war zunächst nur noch, wohin zuerst, da Vater mit Recht meinte, dass auf den Anfang viel ankäme.
Eines Abends im Frühjahr 1870, als ich nach getaner Tagesarbeit - außer den laufenden Schularbeiten und den Vorbereitungen auf das Examen beschäftigten mich noch Unterrichtsstunden, die ich zu geben hatte, der Gewohnheit gemäß einen Spaziergang mit Mutter machen und dazu auch Vater von der Regierung abholen wollte, hieß sie mich einen eben eingegangenen Brief mit dem Poststempel Leipzig mitzunehmen und Vater zu geben.
Vater erbrach ihn unterwegs. Er war von
KahnisKarl Friedrich August Kahnis (1814-1888) war ein evangelischer Theologe. Als Vertreter der Leipziger Universität war er 1857 bis 1864 Abgeordneter des Sächsischen Landtags.Siehe Wikipedia.org [3]. An diesen, den Vater seinerzeit als jungen Extraordinarius in Breslau noch gehört und den er, als derselbe mit der Dissertation de spiritus sancti persona
sich in die dortige Fakultät eindisputiert, mit dem ungarischen Konvertiten Alexius von Puskäs opponiert, hatte Vater sich um Rat gewandt. Kahnis riet auch sehr zu Leipzig und empfahl, dort den Anfang zu machen, weil es gerade für die ersten Semester besonders zu empfehlen sei. Das gab den Ausschlag. Bei einer seiner Revisionsreisen lernte Vater einen stud. theol. kennen, der ihm auch die dortige Fakultät rühmte und einige Adressen sowohl wegen Beschaffung einer Wohnung als Anschluss an Studiengenossen mitgab. Einen Lektionskatalog ließ Vater sich kommen, und danach wurde der Studienplan für das erste Semester aufgestellt.
So nahm ich denn in den ersten Tagen des Oktober vom Elternhaus Abschied. Denn die Reise sollte nicht direkt nach Leipzig gehen, sondern der Vetternstraße nach durch Schlesien. So fuhr ich denn zunächst nach Breslau und legte mich einige Tage bei Onkel Max [Rogge] vor Anker. Hier machte ich Besuch bei der Pate Elisabeth Regenbrecht und deren Schwester, Frau Professor Galle, dabei nur bedauernd, dass
deren MannJohann Gottfried Galle (1812-1910) war ein deutscher Astronom und Hochschullehrer. Er war an der Entdeckung des Planeten Neptun beteiligt.Siehe Wikipedia.org [4], der berühmte Entdecker des Neptun, nicht zu Hause war, sowie bei
EbertysMehr zu den Ebertys in Teil 1,Kapitel 8 der Erinnerungen. [5],
die mich zu Tisch behielten und von denen ich mit meiner Jugendfreundin Babett und deren jüngerer (erst nach unserer Arnsdorfer Zeit geborenen) Schwester einen Spaziergang durch die Stadt und nach der Liebigshöhe machte, die einen prächtigen Blick auf die Oder und die reichgetürmte Altstadt gewährt. Auch ins Lobetheater
Ein Theater der leichten Muse in Breslau, gegründet von Theodor Lobe (1833-1905)Siehe Wikipedia.org [6], das Onkel Max erbaut und in dem seine Familie deshalb eine Freiloge hatte, ging ich eines Abends. Von Breslau ging die Reise zunächst nach Bärsdorf, wo die guten Tanten sich nicht wenig über den groß gewordenen Neffen freuten. Hier verbrachte ich den Sonntag, sah in der Kirche verschiedene von den alten Bekannten und besuchte von da aus einen Tag Freund Jäkel in Rüstern, und einen andern Familie Zimmer in Vorhaus. Die nächste Station war Bunzlau, wo Onkel Lang seit kurzem als Waisenhaus- und Seminardirektor wirkte und wohin sich der alte Großvater [Wilhelm Rogge] mit seiner Pflegerin Ernestine Thomas nach seiner Emeritierung zurückgezogen hatte. Wie ein verwünschter Prinz
lebte er da nach seinem eigenen Ausdruck. Dann wurde noch in Reichenbach/O.L. bei Göbel Halt gemacht. Onkel Lang, der vorher einige Jahre in Reichenbach Direktor gewesen war, begleitete mich mit Tante Laura dahin. Göbel kam uns bis Görlitz entgegen. Mit demselben besah ich mir die durch ihre Lage wie durch ihre Bauart gleich ausgezeichnete Stadt, insbesondere die imposante Peter-Paulskirche, eine fünfschiffige Hallenkirche mit Tetzels Ablasskasten und einem von Tetzels Ablassgelde errichteten Kupferdach. In Görlitz trafen wir auch Onkel Gustav, der früher Offizier, nach seiner Verabschiedung als Zuckersieder nach Ungarn gegangen war, beim Ausbruch des Krieges aber sich freiwillig gemeldet und ein Kommando in Görlitz erhalten hatte. Göbel examinierte mich in seiner Gegenwart auf Bibelfestigkeit, und Onkel Gustav erklärte, ja, ich müsse Theologe werden. In Reichenbach verlebten wir dann noch etliche gemütliche Tage im Göbelschen Haus.
[2] Julius Müller (1801-1878) war ein protestantischer Theologe. In Halle wurde er zu einem auch kirchenpolitisch einflussreichen Verteidiger der preußischen Union. Deutlich ist der Einfluss der Erweckungsbewegung, vor allem dank der engen Beziehung zu seinem Fakultätskollegen August Tholuck.
[3] Karl Friedrich August Kahnis (1814-1888) war ein evangelischer Theologe. Als Vertreter der Leipziger Universität war er 1857 bis 1864 Abgeordneter des Sächsischen Landtags.
[4] Johann Gottfried Galle (1812-1910) war ein deutscher Astronom und Hochschullehrer. Er war an der Entdeckung des Planeten Neptun beteiligt.
[5] Mehr zu den Ebertys in Teil 1,Kapitel 8 der Erinnerungen.
[6] Ein Theater der leichten Muse in Breslau, gegründet von Theodor Lobe (1833-1905)