Auf den Wogen des Lebens
Kapitel 8
Virginity - ein heilig Gut?
Da ich zurück musste in die Soziale Frauenschule, ehemalige Wohlfahrtsschule, kehrte ich bald nach Münster zurück. Wäre ich nicht zurückgekommen, hätte ich halbe Arbeit getan. Ich hätte etwas unerledigt zurückgelassen. Und das hätte unsere Mama nie gewollt. Ihr uns gelehrtes Motto war: Do wat de dös, aver dot!
Ich hatte zur Ausbildung ja
gesagt und durfte nun nicht auf halbem Weg aufgeben. Meine Eltern hatten ja auch schon so viel für mich bezahlt. Ich fühlte mich verpflichtet zurückzukehren, die Ausbildung zu beenden.
Der Besuch der Sozialen Frauenschule wurde mir erleichtert, weil ich eine Freundin fand, Maria. Sie bot mir eine Bleibe in ihrem Elternhaus. Maria half mir nun immer, wenn es Probleme gab. Wir wuchsen zusammen. Eine lebenslange Freundschaft begann.
Beim Examen erwischte mich meine Weinerlichkeit wieder. Ich hatte immer große Angst, wann immer ich geprüft wurde. Ich wusste plötzlich gar nichts mehr. Ich glaube, dass ich sogar meinen eigenen Namen vergessen hatte. Ich konnte die einfachsten Fragen nicht beantworten. Ich verstand die Fragen gar nicht mehr! Mein Hirn war vollkommen leer. Gott Dank, war meine schriftliche Arbeit Tage vorher als eine der besten beurteilt worden. Man legte mich auf eine Couch und ich schlief sehr bald ein. Als alle anderen Studentinnen geprüft waren, weckte man mich und ich bestand die Prüfung reibungslos. Wie gut, dass man so viel Verständnis gezeigt hatte. Ich nahm nie wieder Ritalin oder eine andere Droge. Ich rauchte nie und trank nie Alkohol.
Maria hatte guten Kontakt zu Studentenverbindungen, bei denen sie öfter eingeladen war. Sie besuchte dort regelmäßig Tanzveranstaltungen. Irgendwann wurde auch ich eingeladen. Ich freundete mich mit Hermann an. Er war so freundlich, so sanft, so tolerant, so lieb – so katholisch. Wir saßen stundenlang in meinem kleinen Zimmer, erzählten einander, lasen gemeinsam, diskutierten. Und wir kamen oft und öfter auf einen gemeinsamen Nenner. Aber nichts weiter geschah! Wir küssten uns nicht! Wir machten auch Radtouren und Ausflüge und erfreuten uns an den gleichen Dingen. Wir harmonierten wunderbar. Er nahm mich immer öfter väterlich, freundschaftlich in seine Arme.
Eines Tages besuchte Hermann mich in Gronau und hielt um meine Hand an. Ich wollte nicht! Ich wusste noch nicht, was mir fehlte. Hermann war so geduldig und verständnisvoll, vielleicht zu verständnisvoll. Auch ich war zu katholisch. Wir schliefen nie miteinander. Das wäre Todsünde gewesen! VirginityVirginity, zu deutsch Jungfräulichkeit [12] - ein heilig Gut!? Unser Kontakt blieb ein Leben lang locker und freundschaftlich. Und ich erkannte immer mehr, wieviel Gemeinsamkeiten uns glücklich gemacht hätten. Sogar im Alter, nach der Pensionierung pflegten wir die gleichen Interessen, ohne voneinander zu wissen. Wir malten beide Ikonen, töpferten Figuren, gestalteten Krippen aus Wachs und aus Ton, nahmen an Singkreisen teil, versuchten das Gitarre spielen zu lernen.
Nach dem Examen zur Fürsorgerin fand ich meine erste Anstellung im Josefshaus in Wettringen, einem Erziehungsheim für Jungen. Ich hatte Freude an der Betreuung der Jungengruppe, verstand aber viele Erziehungsmaßnahmen nicht. Ich fühlte mich nicht glücklich dort. Als ich einige dieser unverständlichen Maßnahmen und Verhöre zu Papier gebracht hatte und die Arbeit als Praktikumsarbeit einreichen wollte, wurde sie von der Religionsprofessorin nicht angenommen. Ich musste eine neue Arbeit über ein anderes Thema schreiben. Ihr Kommentar: Sie wollen doch wohl nicht, dass das Josefshaus geschlossen wird?
Ich arbeitete nie als Pfarrhelferin.
Ich ging nach Hamburg und arbeitete bei der N.C.W.C. - National Catholic Welfare Qrganisation. Es war eine amerikanische Hilfsorganisation. Nun musste ich vier Ausländerlager besuchen, in denen Russen, Polen, Esten und Letten lebten, die unter Hitler zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren, und ihre Auswanderungsanträge bearbeiten. Ich hatte dort auch Kleiderspenden und Lebensmittelsendungen aus den USA zu verteilen, Feste, wie Weihnachtsfeiern, zu organisieren, gesundheitliche Probleme zu erkennen und für Behandlung zu sorgen. Das war Fürsorgearbeit! Ich tat die Arbeit gerne, besonders dann, als mein Freund Hans-Georg mein Fahrer geworden war. Er hatte als Student Arbeit gesucht und ich hatte ihn vorübergehend eingestellt, denn der polnische Fahrer meines vom N.C.W.C. zur Verfügung gestellten Volkswagens hatte einen Arm gebrochen und konnte längere Zeit nicht fahren. Als der Caritasdirektor davon erfuhr, bestellte er mich ein und ich musste mich dem Verhör durch ihn und einige Caritashelferinnen stellen. Ich saß da wie an den Pranger gestellt. Man hatte eine Liste meiner Vergehen
zusammengestellt. Das schwerste Vergehen war, dass ich Hans-Georg angestellt hatte und das nur nach einem telefonischen Gespräch mit meiner Chefin beim N.C.W.C. Ich hatte den Herrn Caritasdirektor weder gefragt noch informiert. Man hatte Erkundigungen über Hans-Georg eingezogen und erfahren, dass er evangelisch war. Und – unfassbar! – dass er auch über Nacht in Cuxhaven (120 km von Hamburg) blieb, wenn ich dort zu tun hatte. Viele schwere Sünden? Ich hatte auch den Sonntagsgottesdienst nicht regelmäßig besucht. Wieder schwere Sünden! Und dann hatte ich bei der Verteilung der Weihnachtstüten mit den von katholischen Schwestern gebackenen Plätzchen auch die andersgläubigen Bewohner der Lager beschenkt. Wieder ein Vergehen. Ich war außerdem Mitglied beim Wandervogel
Als Wandervogel wird eine 1896 in Steglitz (heute Berlin) entstandene Bewegung hauptsächlich von Schülern und Studenten bürgerlicher Herkunft bezeichnet, die in einer Phase fortschreitender Industrialisierung der Städte und angeregt durch Ideale der Romantik sich von den engen Vorgaben des schulischen und gesellschaftlichen Umfelds lösten, um in freier Natur eine eigene Lebensart zu entwickeln.Siehe Wikipedia.org [13], einer nicht katholischen, ja nicht einmal christlichen Organisation. Lauter schwere, immer wieder unverzeihlich schwere Sünden! Man ließ mich wissen, dass man meine Eltern informieren und meine Entlassung bei Mrs. McGuire, meiner amerikanischen Chefin, beantragen werde. Ich saß da, angeklagt und alleingelassen. Ich wusste nicht, was ich Schlimmes getan hatte. Als ich nach Hause ging, hatte ich Selbstmordgedanken, war untröstlich und weinte stundenlang. Die Teichfrauen
, bei denen ich wohnte, versuchten, mich zu trösten. Sie waren Freunde vom Wandervogel.
Aber meine Praktikumszeit war ohnehin fast beendet. Ich wollte nun das recht gute Praktikumszeugnis von der N.C.W.C. zur Erlangung meiner staatlichen Anerkennung bei der Sozialen Frauenschule einreichen. Doch die Arbeit bei einer amerikanischen Organisation wurde nicht als Praktikumszeit anerkannt! Irgendwer hatte sich wohl über mich und meinen Lebenswandel beschwert. Ich arbeitete danach beim Gesundheitsamt in Hamburg und bekam endlich meine Anerkennung. Nun wollte ich keinen Dienst als Fürsorgerin mehr leisten. Ich entschloss mich, noch einmal zu studieren, um Lehrerin zu werden. Wie leicht hätte ich es gehabt, wenn ich zu Hitlers Zeiten die zweijährige Ausbildung an einer Lehrerbildungsanstalt durchlaufen hätte und schon damals Lehrerin geworden wäre! Jetzt aber musste ich noch mal studieren und hatte nur das Notabitur. Ich fragte bei der Emslandschule in Rheine an, ob es noch Abiturkurse für Schülerinnen mit Notabitur gebe. Man verwies mich an eine Behörde in Köln, wo ich zu einem Examen einbestellt wurde. Ich bestand und konnte studieren. In Aachen erkannte man ein Jahr meiner sozialen Ausbildung an und so besuchte ich die Pädagogische Akademie dort nur über zwei Jahre.
In den Semesterferien wollte ich die Welt sehen. Aber ohne Geld und fast leerem Portemonnaie ging das schlecht. Ich fand eine Kommilitonin, die mich fragte, ob ich eine Hitchhiking Tour mit ihr zusammen machen würde. Per Anhalter zu reisen, war damals in
. Ich begann nun, Tramptouren zu erleben. Mit meiner Schwester Hilde zusammen kam ich trampend bis Rom, sah den Papst und lernte Max, einen urwüchsigen, stockkatholischen Bayern, kennen. Ich blieb länger in Briefkontakt und besuchte ihn bald danach in München. Aber wieder blockierte mein höchstes Gut, die Virginity
ein Zusammenkommen! Beim Abschied gab er mir seine neue Adresse und sagte: Wenn du reifer und klüger geworden bist und die Liebe und das Leben erleben willst, melde dich bei mir.
Meine zweite Tramptour führte mich an der Ostküste Spaniens entlang bis nach Marokko. In Spanien, in den Städten der Ostküste, gab es wenige Jugendherbergen. Wir suchten nun preisgünstige Pensionen. Wir lernten die Gastfreundschaft der Spanier kennen. Wir sahen aber auch in Barcelona die unfertige Kathedrale von Gaudi und viele andere seiner Gebäude. Wir sahen bei Granada die Alhambra in maurischer Architektur. Sie erinnert an die Zeit des Islams in Spanien. Wir kamen bis nach Gibraltar und setzten nach Tanger über. Wir wagten es nicht, in Marokko zu trampen. Die Welt dort war uns zu fremdartig. So wollten wir schon in den nächsten Tagen wieder zurück nach Spanien. Als wir uns nach einer günstigen Überfahrt erkundigten, sprach uns ein freundlicher, etwas älterer Herr an und bat uns, für seinen Sohn ein kleines Päckchen nach Malaga mitzunehmen. Das taten wir gerne. In Malaga empfing uns der recht abenteuerlich aussehende Sohn und nahm uns das Päckchen dankend ab. Er schenkte jedem eine Muschelkette und verschwand. Im Nachhinein hatten wir ein ungutes Gefühl. Ob wir vielleicht unwissentlich Drogen transportiert hatten?
Bei meiner nächsten Semesterreise, die ich zusammen mit meiner Freundin Ilse antrat, traf ich meinen Helmut. Das war zwischen München und Berchtesgaden. Wir hatten hinter München einen Lastwagen mit zwei Fahrern angehalten. Ich glaubte, Helmut sei der Beifahrer des Lastkraftwagenfahrers. Als wir dann aber in Berchtesgaden ausstiegen, um in der Jugendherberge zu übernachten, stieg auch er aus, nahm seinen Rucksack und ging mit uns. Wir blieben zwei Tage in Berchtesgaden zusammen. Er wollte dann im Wilden Kaiser wandern, eine Hüttenwanderung machen. Ilse und ich wollten eigentlich nach Jugoslawien. Doch ich hatte mich in Helmut verliebt und wusste auf einmal, wen und was ich wollte. Ilse war sauer, als ich ihr erklärte, ich würde die Tramptour mit ihr nicht fortsetzen, sondern die Hüttenwanderung mit Helmut machen. Wir luden sie ein, mit uns zu wandern. Sie wollte nicht. Sie hatte unsere gemeinsame Reise sorgsam geplant und vorbereitet.
So entschloss ich mich, fairerweise doch eine, wenn auch verkürzte, Tramptour mit ihr zusammen bis nach Dubrovnik zu machen. Es wurde eine lebensgefährliche Tour auf der steilen, noch unfertigen Küstenstraße mit vielen Baustellen. Auf der Heimreise besuchten wir Helmut in Nieder-Ramstadt in seinem Elternhaus. Er freute sich offensichtlich sehr und wir blieben einige Tage dort.
[13] Als Wandervogel wird eine 1896 in Steglitz (heute Berlin) entstandene Bewegung hauptsächlich von Schülern und Studenten bürgerlicher Herkunft bezeichnet, die in einer Phase fortschreitender Industrialisierung der Städte und angeregt durch Ideale der Romantik sich von den engen Vorgaben des schulischen und gesellschaftlichen Umfelds lösten, um in freier Natur eine eigene Lebensart zu entwickeln.