Auf den Wogen des Lebens
Kapitel 7
Der Krieg ist vorüber
Der Krieg war zu Ende, zumindest für uns. Wir waren erleichtert, jubelten aber nicht. Wir waren davongekommen. Wir atmeten auf. Leise sprachen wir ein Dankgebet, ein Stoßgebet! Bis zum Mai blieben wir noch auf dem Bauernhof, um dann in unser Haus in Gronau[10] Die Stadt Gronau (Westf.) liegt im westlichen Münsterland im Nordwesten von Nordrhein-Westfalen.Siehe Wikipedia.org [10] in der Neustraße einzuziehen. Diese Straße hatte bis Kriegsende Adolf-Hitler-Straße geheißen. Die Nazi-Familie, die bis vor kurzem eine Wohnung in unserem Haus besetzt hatte, war verschwunden.
Wir hatten wirklich Glück gehabt. Keiner aus unserer nächsten Familie war gestorben, keiner verwundet. Und unser Haus, welches Papa 1925 hatte bauen lassen, stand auch noch unbeschädigt mitten in der Stadt. Einige Nachbarhäuser waren zerbombt. Wir entwickelten so ein tiefempfundenes Dankesgefühl, weil wir überlebt hatten.
Als die bedingungslose Kapitulation am 11. Mai unterzeichnet worden war, atmeten alle erleichtert auf. Der Krieg war zu Ende. Aber zu viele Familien hatten Väter und Söhne, Brüder und Vettern verloren. Jubeln konnten wir nicht. Der nun folgende graue Alltag konnte uns nichts mehr anhaben. Angela rief ihre Heliandgruppe wieder regelmäßig zusammen. Papa suchte Essbares auf den Bauernhöfen, Mama zauberte neue Rezepte aus ungewohnten Zutaten wie Steckrüben und Maismehl. Und immer wieder kehrten Soldaten heim! Die Soldaten, die aus Russland zurückkamen, hatten oft Hungerödeme und sahen aufgedunsen aus. Viele hatten Gliedmaßen verloren. Diese armen Männer! Sie hatten in Russland so viel leiden und hungern müssen. Und dabei mussten sie als Kriegsgefangene Schwerstarbeit leisten. Einige Männer kehrten nie wieder in die Heimat zurück. Sie waren gefallen, grausam ermordet! Ich verlor fünf Vettern und zwei meiner besten Freunde, Wolfram und Gustav. Eine schmerzende, tiefsitzende Wunde blieb ein Leben lang in meinem Herzen.
Angelas Heliandgruppe hatte sich um einige Jungen vermehrt. Aus dieser Gruppe ging dann später unser Klübchen
hervor. Wir sangen, tanzten, reisten und radelten jahrelang miteinander. Wir waren eben gute Freunde. Wir waren uns sympathisch, küssten uns aber nie und nimmer! Man küsst nur den Mann, von dem man sicher ist, dass man ihn heiraten wird
, hatte man uns im Religionsunterricht beigebracht.
Allmählich normalisierte sich das Leben wieder. Ich musste einen Beruf wählen. Angela machte mich mit der Sozialen Frauenschule in Münster bekannt, schwärmte von der Leiterin, Dr. ldamarie Soltmann und meldete mich an. Sie hatte wohl meine soziale Ader
erkannt. Ich folgte ihrem Rat und begann nun ein unbezahltes arbeitsreiches Vorbereitungsjahr und tat Pflegedienste im Krankenhaus. Ich musste hart arbeiten und lernte nicht besonders viel. Ich schrubbte und putzte, fütterte und wusch kranke Menschen, bezog die Betten mit frischer Wäsche, las die ausgeteilten Thermometer und trug die Töpfchen zur Toilette. Und hin und wieder ergatterte ich etwas Essbares. Auch in der Nachkriegszeit gab es nur wenig zu essen.
Eines Tages erfuhr ich, dass meine kleine Schwester, unser Hannchen, zur Operation eingeliefert worden sei. Ich eilte zum Operationssaal, öffnete leise die Türe und schlich mich hinein. Man ließ mich gewähren, denn ich trug ja einen weißen Kittel als Arbeitskleidung. Aufgeregt schaute ich der Operation zu. Unser Hausarzt Dr. Ross entfernte ihr, eben noch rechtzeitig, einen vereiterten Blinddarm. Er rettete unser Schwesterchen und wir behielten sie bis 2008, bis zu ihrem Tod in Bad Aibling in Bayern. Unser Nesthäkchen blieb immer die kleine Lieblingsschwester von uns Vieren. Nach einem Jahr fingen die Vorlesungen in der Sozialen Frauenschule in Münster an. Ich lauschte den philosophischen Vorlesungen von Frau Dr. Soltmann mit wachsender Aufmerksamkeit. Ich erkannte den Sinn der Ausbildung für meinen Beruf aber nicht. Ich hatte ein anderes Berufsbild.
Schon im ersten Jahr des Studiums machte ich ein mehrwöchiges Praktikum in Hamburg beim Gesundheitsamt. An den freien Wochenenden fuhr ich ins, von den Schweden eröffnete Sankt-Michaelshaus nach Blankenese, oder besuchte die katholische Jugendgruppe meiner Pfarrei. Es war in Blankenese eine internationale Begegnungsstätte der Europäischen Jugend eröffnet worden. Dort fragte man mich, ob ich Lust hätte etwa ein halbes Jahr in einer schwedischen Volkshochschule zu verbringen. Begeistert stimmte ich zu und erbat Sonderurlaub bei Frau Dr. Soltmann. Sie beurlaubte mich. Nach einigen Wochen kamen die Einladung und die anderen Reiseunterlagen. Ich fuhr nach Schweden! Ich war Vertreterin der katholischen Jugend und traf mit den Abgesandten der evangelischen, der sozialistischen, der kommunistischen Jugend und einer Jüdin zusammen.
Von Weitem erkannte man mich unterwegs als Deutsche. Ich trug einen Mantel aus Uniformstoff, den unserer Gertrud genäht hatte. Wir hatten den Uniformmantel einem abgestürzten Piloten abgenommen. Dazu trug ich meine abgetragenen Arbeitsdienststiefel. Mein Hab und Gut war in einem gezimmerten Holzkoffer verstaut. Ein Mitreisender lud uns zum Kuchenessen ein, als wir in Stockholm angekommen waren. Er versprach uns, dass wir so viel Kuchen essen dürften wie wir wollten. Er sagte, dass wir die Koffer ruhig auf dem Bahnsteig stehen lassen könnten, bis der Zug nach dreistündigem Aufenthalt weiterfahren würde. Wir zögerten. Er aber lachte und sagte, dass niemand in Schweden solche Koffer stehlen würde. Wir vertrauten ihm und gingen mit. Als wir wieder zurückkamen, waren unsere Koffer wirklich noch da. Unglaublich für uns Nachkriegskinder.
In Sigtuna[11] Sigtuna ist eine Stadt in der schwedischen Provinz Stockholms län und der historischen Provinz Uppland.Siehe Wikipedia.org [11] kamen wir mitten in der Nacht an und wurden von Pfarrer lngvar Sahlin und seiner Frau ganz herzlich begrüßt. Wir wurden festlich bewirtet und dann von Frau Sahlin in unsere Zimmer geleitet. Wir konnten unser Glück gar nicht fassen! Am nächsten Tag ging Frau Sahlin mit uns in die kleine Stadt Sigtuna und kleidete uns neu ein, wir durften alles selber aussuchen. Wer war bereit, das alles für uns zu bezahlen?
Den Unterricht, besonders den in schwedischer Sprache besuchte ich regelmäßig und versuchte schon bald, sprachverwandte Worte, die mir bekannt klangen, zu erhaschen und zu behalten. Ich las bald Texte in Schwedisch, ohne sie zunächst zu verstehen. Aber schon bald machte ich Fortschritte und erfasste nach und nach den Sinn. Am liebsten hatte ich immer die Tanz - und Singnachmittage. Die meisten Schüler trugen dabei ihre Nationaltrachten. Ich trug das geliehene Karnevalskostüm von Margret, eine Schwarzwälder Tracht!
Ich war restlos glücklich. Es hätte immer so bleiben können, hier unter dem wechselnden Mond und der bis zur Sonnenwende immer wärmer scheinenden Sonne. Ich besuchte auch die morgendlichen Gottesdienste. Aber als Pfarrer Sahlin mir mal die Kommunion reichen wollte, erschrak ich irritiert und wusste nicht mehr was rechtens war. Ich schüttelte heftig den Kopf und sah in die verständnisvoll lächelnden Augen von lngvar Sahlin. Wie gerne hätte ich der Einladung Folge geleistet! Aber das wäre sicher wieder Todsünde gewesen!
Nach dem Fest der Sommersonnenwende wurden wir entlassen. Ich war traurig, dass alles vorbei war. Ich war so glücklich gewesen in Sigtuna. So viel Zuwendung und so viel Liebe, soviel Großzügigkeit, so viel Toleranz hatte ich noch nie in meinem Leben vorher erlebt. Eine heile Welt.
[11] Sigtuna ist eine Stadt in der schwedischen Provinz Stockholms län und der historischen Provinz Uppland. Sie liegt etwa 50 km nordwestlich von Stockholm am Sigtunafjärden, einem Seitenarm des Mälaren.