Auf den Wogen des Lebens
Kapitel 3
Kinderglaube
Wir besuchten schon in frühem Alter an jedem Morgen die Heilige Messe. Ich glaubte fest daran, dass das Jesuskind im TabernakelDer (auch das) Tabernakel (lateinisch tabernaculum Hütte, Zelt
) ist in römisch-katholischen und alt-katholischen Kirchen die Bezeichnung für den Aufbewahrungsort der Reliqua sacramenti, der in der Eucharistiefeier konsekrierten Hostien, die nach katholischer Lehre Leib Christi sind und bleiben. [1] wohne. Darum starrte ich das Tabernakel immer wieder fasziniert an, in der Hoffnung, es würde sich bald öffnen und ich würde dem Jesusknaben begegnen. Ich würde eine Erscheinung haben! Auch an den Nachmittagen schlich ich oft in die Kirche und fixierte das Tabernakel. Aber es war und blieb vergeblich.
Wenn ich in der Fastenzeit die vierzehn Bilder der Kreuzwegstationen eins nach dem anderen betrachtete, kamen mir oft die Tränen, und ich versuchte, mir selber Bußübungen aufzuerlegen - dem Heiland zuliebe. In der Fastenzeit durften wir Kinder keine Süßigkeiten essen. So sammelten wir die uns geschenkten Bonbons, jeder in seinem Einmachglas bis zum Karsamstag, wo wir sie auf die Kinderstation ins Krankenhaus brachten. Meine schwierigste Fastenübung dem Heiland zuliebe war es, freiwillig und ohne zu murren die langen, braunen, kratzenden Wollstrümpfe anzuziehen. Ich tat das auch, um mich selbst zu überwinden. Ich tat das in den Fastenzeiten immer wieder und stakste dann mit steifen Beinen frierend umher. Besonders schwer fiel mir diese Selbstkasteiung, nachdem ich entdeckt hatte, wie ich dieser Tortur hätte entgehen können. Ich hatte meinem Vater an einem Paar seiner Unterhosen die langen Beine abgeschnitten und sie in die kratzenden Strümpfe eingenäht. In der Fastenzeit nahm ich sie zum Waschen aber wieder heraus und ertrug die juckende Allergie mit Selbstüberwindung.
An den Sonntagen machten wir laut singend weite Wanderungen, zum Beispiel fünf Kilometer zum Heidehof, sieben Kilometer in das Rüenberger Venn, in das Kloster Bardel waren es sechs Kilometer, nach Graes zu Papas Elternhaus oder zehn Kilometer ins Allstädter Moor zu Tante Gertrud, die auf einem Venn-Bauernhof lebte. Dort halfen wir auch einige Male dabei, die braunen gestochenen Torfstücke zu stapeln. In irgendeiner Vennpinte gab es dann ein Glas Himbeersaft und wir aßen dazu unsere mit Zucker bestreuten Butterbrote. Auf den Bauernhöfen allerdings gab es dann Hühnerfleisch oder einen Sonntagsbraten! Und immer zum Schluss bekamen wir Vanillepudding, steif von zehn und mehr Eiern. Er wurde schmackhaft vollendet durch Himbeersaft. Himbeersaft! Das war die Krone des Genusses.
Zu unseren Ausflügen zählten auch die Prozessionen durch die Wiesen und Felder. Dabei war es das größte Erlebnis, wenn es über die, nur für die Prozession errichtete Dinkelbrücke ging. Ich hatte immer Angst herunterzufallen, da sie keinen Handlauf hatte. Die Tiefe erschreckte mich, nicht so sehr das schnell strömende Wasser. Ich hatte von unserem Papa sehr früh das Schwimmen erlernt. An den Stationen formierten sich die Kommunionkinder des Jahres an den Seiten der Altäre. Und dann spendierte unser Papa eine Rolle Pfefferminzbonbons, einen Pfefferminztaler für jedes Kind. Ein seltener Genuss!
Meine Erste heilige Kommunion
wurde im großen Gastraum gefeiert. Ich durfte dazu ein armes Kind aus meiner Klasse einladen. Das Mädchen war eingeladen, zusammen mit seinen Eltern am Festmahl bei uns teilzunehmen und ich durfte ihr eines meiner Geschenke weiterschenken.
Ich ging zu Rengers in die Fabrikstraße und lud die Familie ein. Annemarie strahlte! Ich gab Annemarie eine rote Handtasche, die ich von Tante Hannchen geschenkt bekommen hatte. Die Eltern kamen gerne. Annemarie fühlte sich fortan wie eine meiner Schwestern. Als wir später, nun 60-jährig, ein Kinderkommunionstreffen
hatten, fiel sie mir um den Hals, küsste mich viele Male und wich während der ganzen Veranstaltung nicht von meiner Seite.
Auf den Höfen bei Tante Sophie und Tante Dina Schulze-Wilmert spielten wir oft im Stall bei den Tieren. Während des Krieges mussten wir dort regelmäßig frische Milch und andere Köstlichkeiten holen. Diese Schätze brachten wir radelnd heim. Unser Papa fuhr als Erster. Und wann immer er angehalten und kontrolliert wurde, schlugen wir Mädchen fluchtartig einen Seitenweg ein oder kehrten um. Es wurde nach und nach immer strenger verboten, landwirtschaftliche Produkte direkt vom Bauernhof zu beziehen. Sie waren Volkseigentum
und gehörten der Volksgemeinschaft. Als im Krieg die Lebensmittelkarten zur Rationierung der Lebensmittel eingeführt wurden, verschärften sich auch die Kontrollen.
Wenn Kirmes war, bekamen wir jeder von unserem Papa 50 Pfennige Kirmesgeld. Auch unsere Oma und einige Gäste gaben uns Pfennigbeträge. Aber unser Papa ging außerdem auch einige Stunden lang mit seinen Töchtern über den Kirmesplatz. Wir durften zwei- oder dreimal mit einem der Karussells fahren oder die Schiffsschaukel besteigen. Wenn die Kirmes vorüber war, zählte unser Vater das übrig gebliebene Kirmesgeld und verdoppelte es, wenn wir es in unserer Sparbüchse sparen wollten.
Die ersten Begegnungen mit dem Tod haben wir schon sehr früh gemacht. Wir wussten, dass Tote im Gartenhaus des Krankenhauses eingesargt und aufgebahrt wurden. Irgendwie wussten wir immer, wann Kinderleichen dort besucht werden konnten. Die Tür war stets unverschlossen. Wir nahmen dann auf unseren Schulweg einige unserer gesammelten Heiligenbilder mit und schmückten damit das weiße Totenhemdchen des verstorbenen Kindes. Dabei berührten wir scheu und erschauernd immer auch mal wieder die gefalteten, eiskalten Hände des toten Kindes. Wenn Zeit genug war, beteten wir alle zusammen: Lieber Heiland, sei so gut und lasse doch dein teures Blut in das Fegefeuer fließen, wo die armen Seelen büßen
.
In der Gaststube unseres Elternhauses kehrten an jedem Tag unsere Stammgäste ein. Oft waren es heimkehrende Fabrikarbeiter, die eine Flasche Schnaps bei unserer Mutter gekauft hatten und die sich nach der staubigen Arbeit in der Textilfabrik die Kehle spülen mussten. Sie kauften eine ganze mit ihrem Namen gezeichnete Flasche, weil so eine größere Anzahl von Schnäpsen herauskam, als wenn unsere Mutter das Getränk ausschenkte. Unsere Käthe hatte irgendwann erkannt, dass ihr der Schnaps gut schmeckte. So leckte sie die geleerten Gläschen, nachdem der Gast die Wirtsstube verlassen hatte, eins nach dem anderen aus. Es war erstaunlich, dass unsere Oma, die alles Geschehen in der Gaststube aufmerksam beobachtete, diese Nascherei nicht bemerkte - bis Käthe eines Tages beschwipst hinter der Theke eingeschlafen war.
Unsere zuckerkranke Oma saß immer auf ihrem Stammplatz am Fenster. Sie konnte nicht mehr gut gehen und fiel oft hin. Sie unterhielt die Gäste, erfuhr Neuigkeiten aus der Stadt und las einen Roman nach dem anderen. Ich musste die Bücher sonntags vom Borromäus-Verein holen und lernte dabei, den Anfang eines Buches und das Ende zu lesen, um den Inhalt zu erfassen. Auf einer Parkbank sitzend, überflog ich so viele Seiten wie möglich. Unsere Oma erzählte mir dann den Rest. Ich las, bis die Glocken zum Angelus
läuteten, und ich zum Mittagessen eilen musste.
Ich liebte meine Oma und beneidete meine ältere Schwester, die mit ihr zusammen in den Ehebetten unserer Eltern schlafen durfte. Dass sie dabei oft im Schlaf gestört wurde, weil sie der Oma mehrmals in der Nacht das Töpfchen
bringen musste, erkannte ich noch nicht. Nach der neunten Schwangerschaft unserer Mutter schliefen unsere Eltern in getrennten Zimmern.
1929 wurde meine vierte Schwester geboren. Unser Papa war sehr enttäuscht, dass es wieder ein Mädchen war. Die Eltern hatten für sie noch keinen Namen überlegt, als die Patentante Sophie zur Taufe erschien und nach dem Namen fragte. Da sagte Papa: Alle Namen sind mir recht, nur nicht der deine, Sophie
. Da hörten wir, wie unsere Nachbarin ihre kleine Tochter Hildegard zum Essen rief. Tante Sophie entschied: Hildegard ist ein schöner Name und eine bekannte Heilige! Der Name wird genommen!
Dann nahm sie den Säugling in ihre Arme, ging zur Kirche und ließ das Kind in der Sakristei taufen. Danach kehrte sie eilends mit dem Fahrrad heim zu ihren eigenen zwölf Kindern.
1933 bekam ich noch eine kleine Schwester. Von der Schule heimgekehrt, suchte ich meine Mama vergeblich. Wo ist Mama?
fragte ich mehrmals, ohne Antwort zu bekommen, bis ich erfuhr, dass sie oben im Haus sei. Ich stürmte die Treppe hinauf und öffnete die Tür zum Elternschlafzimmer, genau in dem Moment, als unsere neugeborene Schwester Hannchen ihren ersten Schrei ausstieß. Schlagartig hatte ich erkannt, was vorgegangen war und hatte den Glauben, dass der Klapperstorch die Babys bringen würde, nun ganz verloren.
Von nun an sorgte ich mich sehr um meine neugeborene Schwester. Ich durfte sie sogar im Kinderwagen ausfahren. Unsere Ausflüge wurden dabei immer abenteuerlicher. Meistens folgten unsere beiden Schwestern uns und auch einige Nachbarskinder gingen mit.
Eines Tages machte einer der Jungen den Vorschlag, einen toten angeschwemmten Hund aus der UmflutEine Umflut (auch Umfluter, Freiflut(er), Freiarche, Freischleuse oder Umflutkanal genannt) ist im Wasserbau und in der Hydrologie eine künstlich geschaffene Umführung.Siehe Wikipedia.org [2] der Dinkel zu bergen. Ich stellte den Kinderwagen am hochgelegenen Ufer ab, zog die Kinderwagenkappe fürsorglich hoch und eilte mit den Jungen zusammen die Böschung hinab. All unser Bemühen, den Hund zu bergen blieb erfolglos! Da kam ein Gewitter auf und ein Windstoß blies unter die Haube, erfasste den Kinderwagen und rollte ihn über Stock und Stein die Böschung hinab, durch das Wasser hindurch und ließ ihn erst auf einer Sandbank zum Stehen kommen. Alle Kinder liefen lauthals um Hilfe schreiend in verschiedene Richtungen davon. Ein vorbeikommender Lehrer hörte unsere Hilferufe, ergriff mich am Arm und ich zerrte ihn zur Unglücksstelle. Er folgte mir, begriff die Situation und watete durch das hüfttiefe, schnellfließende Wasser zur Sandbank. Er nahm das freundlich lächelnde Baby auf seine Arme und übergab es einer dazu gelaufenen Frau. Sie eilte heim zu unserem Papa, erzählte ihre Version der Rettungsgeschichte, kassierte Helferlohn und ward nie mehr gesehen. Der Lehrer kam mit dem geborgenen Kinderwagen etwas später in unser Haus und berichtete die wahre Geschichte der Rettung.
[1] Der (auch das) Tabernakel (lateinisch tabernaculum "Hütte, Zelt") ist in römisch-katholischen und alt-katholischen Kirchen die Bezeichnung für den Aufbewahrungsort der Reliqua sacramenti, der in der Eucharistiefeier konsekrierten Hostien, die nach katholischer Lehre Leib Christi sind und bleiben.
[2] Eine Umflut (auch Umfluter, Freiflut(er), Freiarche, Freischleuse oder Umflutkanal genannt) ist im Wasserbau und in der Hydrologie eine künstlich geschaffene Umführung. Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Umflut