Auf den Wogen des Lebens
Kapitel 9
Helmut - erste Auswanderung
Von nun an ging alles wie selbstverständlich. Helmut und ich besuchten uns oft und öfter gegenseitig! Wir waren in unseren Elternhäusern zu Gast. Wir unternahmen Ausflüge und Fahrten. Wir verliebten uns immer mehr ineinander. Wir wussten, ohne darüber zu sprechen, dass wir zusammengehörten. Wir liebten uns. Wir harmonierten. Das Leben war schön! Und von Tag zu Tag wurde es schöner und erfüllter.
Wir machten unsere Examina und beschlossen, zusammen in die USA auszuwandern. Die Oberin des Sankt-Mary-Krankenhauses in Niagara Falls nahm Helmuts Bewerbung als Assistenzarzt an, wollte aber unsere Heiratsurkunde sehen. Wir hatten keine. Helmut hatte ihr ohne mein Wissen mitgeteilt, er sei verheiratet. Die Zeit zum Antritt seiner zweijährigen Assistenzzeit dort drängte nun. Wir meldeten uns beim Standesamt in Bardenberg und erreichten, dass wir schon in den nächsten Tagen zur Trauung erscheinen konnten, ohne das eigentlich erforderliche dreiwöchige Aufgebot. Darin wurde jeder Leser in einem Aushang aufgefordert, darüber nachzudenken, ob ihm etwas Nachteiliges, was die Gültigkeit dieser geplanten Eheschließung rechtlich beeinträchtigen könne, bekannt sei. Der Leser wurde verpflichtet, das dem Standesamt zu melden. Uns ersparte man diesen Aushang.
Zur standesamtlichen Eheschließung erschien Helmut in Knickerbockern und kariertem Hemd und die beiden Trauzeugen in schwarzen Anzügen mit Schlips und Kragen. Der irritierte Standesbeamte fragte mich, wer der drei Herren denn nun der Bräutigam sei? Nach der Trauung luden wir die beiden Herren, Chefarzt und Professor, in die Burg Wilhelmstein zu einem Umtrunk ein. Dort bewohnte ich über dem Burgtor ein Zimmer. Wir mussten alle unser Bier aus der Flasche trinken. Ich hatte keine Gläser. Und mein Helmut, der Gläser gehabt hätte, bewohnte noch ein Zimmer im Krankenhaus. Mein Burgherr, Herr Grafen, brachte uns einige Stühle, eine Bank und drei Flaschen Wein. Unsere Gäste saßen bis dahin auf dem Fußboden oder auf der Bettkante. Nach und nach kamen immer mehr Gäste. Und meine Schüler, die uns ein Ständchen darbrachten, sangen: Als ich ein Junggeselle war, nahm ich ein steinalt' Weib…
– Ich bin vier Jahre älter als mein Helmut. Das ist unglaublich viel in den Augen von zwölfjährigen Schülern. Die Schüler holten uns auch noch einen Kasten Bier. Ich hatte nur vier Flaschen parat gestellt. Was war das für so viele?
Papa weinte am Hafen in Rotterdam bei unserem Abschied nach Übersee und meinte, dass er uns nie wiedersehen würde. Auswanderer gingen zu seiner Zeit für immer fort, konnten nie wieder heimkommen. Nach einer zwölftägigen sehr stürmischen Überfahrt von Rotterdam nach New York kamen wir mit der altersschwachen Jan van Oldenbarneveldt
heilfroh an. Auf einer der nächsten Fahrten nach Australien sank unser uralter Pott. Uns hatte er aber noch glücklich in die USA gebracht. Die Überfahrt war sehr preisgünstig, denn die meisten Fahrgäste waren Flüchtlinge aus Ungarn, die beim Aufstand 1956 das Land verlassen hatten und nun von einer Hilfsorganisation kostenlos nach Amerika gebracht wurden. Wir wohnten in New York einige Tage bei unseren jüdischen Freunden, den Handelmanns. Als sie mit uns zusammen ein jüdisches Fest besuchten, hielten viele Besucher meinen bärtigen Helmut für einen Rabbi. Man erfuhr, dass er in Frankfurt studiert hatte und wollte nun wissen, ob in dieser oder jener Straße dort viele Bomben gefallen seien, ob dieses oder jenes Haus noch stünde. So viele Gäste sprachen deutsch, luden uns ein und gaben uns ihre Adressen. Wir konnten gar nicht begreifen, dass sie so freundlich zu uns waren. Wir waren doch Deutsche. Wir waren beeindruckt und zunehmend glücklich.
Bevor wir unsere Tramptour fortsetzten, besuchten wir eine jüdische Familie, von der wir eine Einladung nach Pittsburgh erhalten hatten. Dort wohnten wir bei einem Zahnarzt. Nach dem Essen half ich beim Abtragen und blieb dann in der Küche, um abzutrocknen. Vorwurfsvoll stürzte die Gastgeberin herein und tadelte mich laut und deutlich, weil ich der farbigen afro-amerikanischen Haushaltshilfe half. Ich verstand die Welt nicht mehr! Eine Jüdin tadelte eine Deutsche, weil die keine Rassenschranken beachtete! Bald mussten wir weiter nach Niagara Falls.
Wir packten unsere Rucksäcke und zogen Lederhose und Dirndlkleid an und stellten uns in New York an eine Straßenecke. Die Straße führte stadtauswärts nach Norden. Wir wollten wieder trampen. Da kam ein Polizist auf uns zu. Wir erschraken, denn wir wussten, dass Trampen in New York verboten war. Er aber grüßte uns freundlich und gab uns in gebrochenem Deutsch den Rat, bis zur nächsten Straßenecke zu gehen, denn dort sei sein Dienstrevier zu Ende und der dort diensthabende Kollege hätte soeben bereits patrouilliert.
Im Hospital angekommen, befahl die Schwester Oberin schon bei der Begrüßung, dass Helmut sich Bart und Haare schneiden lassen müsse. Wir waren aber total pleite, so erprobte ich mein Geschick und verschandelte meinen Helmut nun vollständig. Verzweifelt gingen wir zu einem polnischen Friseur, der sich unsere Geschichte anhörte und mir eine mehrstündige Lehre anbot. Lehre und Haarschnitt brauchten wir nicht zu bezahlen. Er wusste aus eigener Erfahrung, was es heißt, wenig Geld zu haben. Er war erst drei Jahre in den USA. Nach der Lehre
schnitt ich Helmut jahrelang die Haare und später in Deutschland den wieder gewachsenen Bart.
Helmut trat seinen Dienst im St. Mary's Hospital an, und ich ging auf Arbeitsuche. Da ich weder eine im Pass eingetragene Arbeitserlaubnis noch eine notwendige Greencard besaß, besuchte ich kurz vor Dienstschluss ein Büro, wo diese begehrenswerten Karten ausgestellt wurden. Das junge Mädchen fragte mich, ob mein Mann schon arbeite, ob er einen Arbeitsvertrag habe, ob ich schon eine Arbeitsstelle in Aussicht habe. Ich konnte alles bejahen. Dann schaute sie auf die Uhr - es war einige Sekunden vor Dienstschluss - und stellte mir die Greencard aus. Wieder mal Glück gehabt!
Ich machte eine typisch amerikanische Karriere: Hilfsschwester im Krankenhaus, Packerin in der Backwarenfabrik Nabisco, Verkäuferin in einem Department-Store, Assistentin in einem Industrielabor. Dank der Hilfsbereitschaft so vieler Amerikanerinnen hätte ich überall bleiben können. Aber von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle verdiente ich mehr. Wenn ich mit dieser Begründung kündigte, zeigte man - typisch amerikanisch - viel Verständnis. Alles lief glatt. Für Helmut gab es im Hospital volle Verpflegung. Ich aber ernährte mich mit Hilfe unserer letzten Groschen notdürftig. Als wir überhaupt keinen Pfennig mehr hatten, ging ich zur Schwester Oberin und bat um Vorschuss für Helmut. Er arbeitete schon fast drei Wochen im St. Mary‘s Hospital und hatte noch kein Geld bekommen. Die Schwester Oberin schüttelte ungläubig den Kopf und fragte, ob uns das reichhaltige Speisenangebot im Ärztekasino nicht reichen würde? Wir bedankten uns für ihren Rat und auch ich aß danach fast zwei Jahre lang täglich mit den Ärzten zusammen.
Und dann stellte ich mich im Hotel Ramadan als Beschließerin vor! Sofort angenommen war ich am nächsten Morgen um sechs Uhr zur Stelle und wurde den etwa zwölf Putzfrauen vieler Nationalitäten und einigen anderen weiblichen Angestellten vorgestellt. Ich sollte auch ihre Beaufsichtigung und die Arbeitsverteilung übernehmen. Als ich sie aufmerksam, aber nachdenklich betrachtete, verschlug es mir die Sprache. Ängstlich, hilflos und zitternd stand ich vor ihnen und brachte kein Begrüßungswort heraus.
Das war das Ende meiner Karriere in den USA! Ich hatte bei meiner vorangegangenen Arbeitsstelle, dem Labor, gekündigt, weil ich im Hotel Ramadan anfangen wollte. Ich bezog nun Arbeitslosenunterstützung, die fast so hoch war wie mein Gehalt als Lehrerin in Deutschland.
Als Helmut seine Assistenzzeit beendet hatte, betreute er in den unendlichen Wäldern von Kanada ein Pfadfindersommerlager, in das alle vier Wochen neue Jungen kamen. Das Lager hatte sechs Außenlager, die weit vom Zentrallager entfernt waren. Wir besuchten alle Zeltlager regelmäßig, um kleine Wehwehchen zu verarzten, Tabletten zu verteilen, das Trinkwasser zu prüfen, Wunden zu behandeln, die Toiletten zu chloren und um die Sauberkeit im Lager zu begutachten. Bald schon wollten wir uns die Wege verkürzen und nicht über die strahlenförmig vom Hauptlager wegführenden Trampelpfade immer wieder hin und zurück gehen. Eines Sonntagmorgens nahmen wir den direkten Weg von Lager zu Lager und verliefen uns hoffnungslos. Erst als nach Stunden auf riesigen Töpfen getrommelt und zum Gottesdienst gerufen wurde, fanden wir die Richtung wieder. Wir hatten wieder einmal einen Schutzengel gehabt. Wir wussten nicht, wie gefährlich unser Alleingang gewesen war. In den Wäldern lebten noch viele wilde Tiere wie RacoonsDas englische Wort für den Waschbären, raccoon (gelegentlich auch racoon), geht auf ein Wort in der Sprache der Algonkin zurück. [14], wie die Waschbären in Kanada genannt werden, Stinktiere, Wildschweine, Bären, Hirsche, Rehe und Rentiere.
der mit seinen Händen reibt, schrubbt und kratztbedeutet.