Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 29:
Heimweg über Berlin und die Eröffnung des Reichstags
Ich schied also von Leipzig, um im Sommersemester 1873 in Göttingen zu studieren. Auf dem Heimwege von Leipzig hatte ich noch einen mehrtägigen Aufenthalt in Berlin, von dem ich auch interessante Erinnerungen aufbewahrt habe. Mutter hatte mich bei Tante Anna [von Roon] eingeladen. Ich sollte noch manches von Berlin kennen lernen, wozu mir die früheren flüchtigen Durchreisen keine Zeit gelassen hatten. Das Roonsche Haus stand mir ja immer gastfrei offen. Vielleicht hoffte Mutter, damit noch mich zu guter Letzt zu einer Änderung meiner Entschlüsse zu bewegen.
Das Interessanteste war mir in jenen Tagen die Eröffnung des Reichstags, zu der Tante Anna mir eine Eintrittskarte verschaffte. Ich wohnte zuerst dem Gottesdienst in der Schlosskapelle bei und sah von der Galerie daselbst den Aufzug des Hofes und des gesamten Staatsministeriums an und all die Mondscheine der Reichsboten
wie Tante Anna sich ausdrückte. Die Liturgie hielt Hofprediger BaurFriedrich Wilhelm Baur (1826-1897) war ein evangelischer Theologe und Volksschriftsteller. 1872 wurde er Hof- und Domprediger in Berlin.Siehe Wikipedia.org [166], die Predigt Oberhofprediger HoffmannLudwig Friedrich Wilhelm Hoffmann (1806-1873) war ein evangelischer Theologe. 1852 wurde er Hof- und Domprediger in Berlin.Siehe Wikipedia.org [167], von der ich aber von da oben wegen der außerordentlich tiefen Stimme des Predigers wenig verstand. Wundervoll sang der Domchor. So schönen Gesang hast du noch niemals gehört
, sagte Onkel hinterher zu mir, und als ich erwiderte, der Thomanerchor in Leipzig sei auch nicht zu verachten, antwortete er spottend: Mein Leipzig lob ich mir, es ist ein klein Paris.
Aus der Schlosskapelle ging's in den weißen Saal, wo die Eröffnung mit der Thronrede stattfand. Bismarck in der weißen Kürassieruniform überreichte die Thronrede dem vor dem Thron, den Helm auf dem Kopf, stehenden Kaiser, der sie mit nicht sehr lauter, leicht schnarrender Stimme vorlas. Darauf erklärte Bismarck mit ziemlich hoher Tenorstimme, die in eigentümlichem Kontrast zu der kolossalen Gestalt stand, im Namen seiner Majestät den Reichstag für eröffnet, und der bayrische Minister von FäustleJohann Nepomuk von Fäustle (1828-1887) war ein königlich-bayerischer Jurist, Richter und Justizminister.Siehe Wikipedia.org [168] brachte das Hoch auf den Kaiser aus, womit die Handlung beendigt war. Im Hof des Schlosses konnte ich mir dann noch die glänzende Versammlung beim Auseinandergehen besehen. Mir fielen besonders die bekannten Gesichter des alten WrangelFriedrich Graf von Wrangel (1784-1877) war ein preußischer Generalfeldmarschall.Siehe Wikipedia.org [169], des Feldmarschalls Steinmetz
Karl Friedrich von Steinmetz (1796-1877) war ein preußischer Generalfeldmarschall.Siehe Wikipedia.org [170] und des badischen Ministers von Roggenbach auf.

Einen, allerdings vergeblichen, Versuch der Einwirkung auf die politischen in Verhältnisse machte ich in jenen Tagen noch. Ich hatte bei Kahnis Frau von Thadden kennen gelernt, die Gattin des Herrn von Thadden-Trieglaff, des treuesten Patrioten und Royalisten aus dem Jahre 1848, dessen unentwegte Königstreue sogar die pommerschen Kegeljungen anerkannten, dadurch dass sie, wenn beim Kegelschieben nur ein Kegel neben dem König stehen blieb, das mit dem Ruf: Thadden-Trieglaff
kundgaben, und der beiläufig der Schwiegergroßvater meines Vetters Waldemar von Roon war. Nun, Frau von Thadden hatte auch schon gehört, dass ich auf der Durchreise in Berlin bei Roons einige Tage bleiben würde und übergab mir deshalb einige Nummern der Luthardtschen Kirchenzeitung, die einen sehr scharfen Artikel gegen die damals geplanten Kirchengesetze, die nachmals sogenannten MaigesetzeKarl Friedrich von Steinmetz (1796-1877) war ein preußischer Generalfeldmarschall.Siehe Wikipedia.org [171], brachten. Es läge ihr so sehr viel daran, dass Graf Roon sie läse. Ich solle sie ihm aber nur bei Gelegenheit geben, etwa mit dem Bemerken, es interessiere ihn vielleicht, damit er die Absicht nicht merke. Ich konnte deshalb nicht mit der Tür ins Haus fallen, sondern musste abwarten, ob sich eine Gelegenheit böte. Die fand sich denn auch. Eines Tages kam Onkel etwas echauffiert zum Mittagessen. Tante merkte es ihm an und fragte: Was hast du?
Da sagte er, dass er im Herrenhaus gesprochen. Sie fragte ihn, um was es sich gehandelt, und gegen wen er gesprochen. Es hatte sich eben um die Maigesetze
gehandelt, gegen die wir Studenten ja schon unseres Teils protestiert hatten. Da sagte ich: Es fällt mir ein, dass Frau von Thadden mir etwas für dich mitgegeben hat, es würde dich vielleicht interessieren, es zu lesen.
Er antwortete: So, Tante Florette? Sie will mich wohl bekehren? Gib einmal her.
Ich ging auf den Korridor, wo der betreffende Artikel noch in meiner Umhängetasche seiner Bestimmung wartete, und holte ihn herbei. Er sah hinein, die Schrift war ihm aber bei der Abendbeleuchtung zu klein. Doch nahm er die Nummern mit sich in sein Schlafzimmer. Ich habe von ihrem Schicksal nichts wieder gehört. Den Erlass der Maigesetze haben sie nicht gehindert.
[167] Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann (1806-1873) war ein evangelischer Theologe. 1852 wurde er Hof- und Domprediger in Berlin.
[168] Johann Nepomuk von Fäustle (1828-1887) war ein königlich-bayerischer Jurist, Richter und Justizminister.
[169] Friedrich Graf von Wrangel (1784-1877) war ein preußischer Generalfeldmarschall.
[170] Karl Friedrich von Steinmetz (1796-1877) war ein preußischer Generalfeldmarschall.
[171] Als Maigesetze werden während des Kulturkampfs in Preußen und im Deutschen Kaiserreich erlassene kirchenpolitische Gesetze bezeichnet. Ihr Name geht darauf zurück, dass sie im Mai der Jahre 1873, 1874 und 1875 verabschiedet worden sind.